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Hannahs Verlies

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
480 Seiten
Deutsch
mdv Mitteldeutscher Verlagerschienen am11.06.2020
Wenn Schuld und Sühne ein Leben zerstören Vielleicht, so dachte er, war Gott doch tot. Erschlagen bei den Kämpfen um Breslau, verhungert auf einer Kellerstufe im Lager von Ketschendorf, erfroren im zugigen Viehwaggon gen Osten oder in einer einsamen sibirischen Winternacht, in der der Wind um die Baracken heulte. Winter 1945. Um sie vor marodierenden Soldaten und einer drohenden Vergewaltigung zu schützen, mauert ein Fünfzehnjähriger seine Schwester im Keller eines Bauernhauses ein. Dann wird er verhaftet. Während er sich noch der ersten Deportation durch Flucht entziehen kann, erlebt der Kindersoldat in verschiedenen Fronteinsätzen die Gräuel des Krieges hautnah mit. Sein Versuch, sich zum Heimatdorf durchzuschlagen misslingt letztendlich kurz vor dem Ziel ... Andreas H. Apelt erspart seinem Helden nichts: Er durchleidet das Kriegsende und die sowjetische Kriegsgefangenschaft in all den schrecklichen Facetten und kann nie mehr ein normales Leben führen. So erschütternd, dass einem beim Lesen der Atem stockt.mehr

Produkt

KlappentextWenn Schuld und Sühne ein Leben zerstören Vielleicht, so dachte er, war Gott doch tot. Erschlagen bei den Kämpfen um Breslau, verhungert auf einer Kellerstufe im Lager von Ketschendorf, erfroren im zugigen Viehwaggon gen Osten oder in einer einsamen sibirischen Winternacht, in der der Wind um die Baracken heulte. Winter 1945. Um sie vor marodierenden Soldaten und einer drohenden Vergewaltigung zu schützen, mauert ein Fünfzehnjähriger seine Schwester im Keller eines Bauernhauses ein. Dann wird er verhaftet. Während er sich noch der ersten Deportation durch Flucht entziehen kann, erlebt der Kindersoldat in verschiedenen Fronteinsätzen die Gräuel des Krieges hautnah mit. Sein Versuch, sich zum Heimatdorf durchzuschlagen misslingt letztendlich kurz vor dem Ziel ... Andreas H. Apelt erspart seinem Helden nichts: Er durchleidet das Kriegsende und die sowjetische Kriegsgefangenschaft in all den schrecklichen Facetten und kann nie mehr ein normales Leben führen. So erschütternd, dass einem beim Lesen der Atem stockt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783963114472
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum11.06.2020
Seiten480 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1536 Kbytes
Artikel-Nr.5228899
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1. Kapitel


Ich hätte sie nicht einmauern dürfen. Nein, das hätte ich nicht. Hannah ist doch meine Schwester.

Diese drei kurzen Sätze standen auf der Rückseite eines zerknitterten Fotos. Vaters Sütterlinschrift, mit einem Bleistift ausgeführt, war deutlich zu erkennen. Das vergilbte Schwarz-Weiß-Foto zeigte ein junges Mädchen im schwarzen Kleidchen mit blonden geflochtenen Zöpfen und Sommersprossen, das in die Sonne blinzelte. Vielleicht war das Mädchen zwölf oder dreizehn. Das Bild lag auf einem Stapel anderer Fotos, Zettel, Briefe, loser Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsausschnitten und wurde mit einem Einweckgummi zusammengehalten. Das Päckchen füllte einen alten aus der Form gefallenen Schuhkarton. Der Schuhkarton stand unter dem Bett. Es war das Bett, in dem Vater gestorben ist. Der Nachbar hatte ihn gefunden. Da war er schon über eine Woche tot.

Eine weitere Woche dauerte es, bis sie mich ausfindig machten. Ich fuhr sofort los, als ich am frühen Morgen den Anruf in der Redaktion bekam: Sind Sie der Sohn Helmuth Harders?

Von Hamburg nach Rehser ist es ein weiter Weg. Nach fünf Stunden Autofahrt auf der Berliner, später Dresdner Autobahn und dreißig Kilometern Landstraße war ich da. Von unterwegs rief ich meine Tochter in Berlin an. Es gab niemand anderen, den ich hätte informieren wollen. Marie kannte ihren Großvater nicht.

Als ich das alte Haus betrat, überkam mich ein merkwürdiges Gefühl. Eigentlich hätte es mir vertraut sein sollen, schließlich lebte ich hier zwanzig Jahre. Aber es war mir fremd, so fremd wie mein Vater. Dabei hatte sich gar nichts geändert, unten waren die große Küche, ein Wohn- und ein Schlafzimmer. Über einen Flur und eine knarrende Holztreppe ging es nach oben, dort befanden sich Vaters Kammer und die kleinen Zimmer von meiner Schwester und mir. Das Haus, ein ungeputzter Backsteinbau aus den Dreißigerjahren, war verwohnt, die Wände gekalkt oder mit Rollmustern bemalt. Ein Bad gab es schon früher nicht, nur ein Waschbecken im Flur und eine Toilette hinter einem Bretterverschlag neben der Holztreppe. Nicht einmal das Mobiliar hatte sich verändert. Vielleicht, so dachte ich, musste es mir fremd vorkommen. Schon die Stille war ich nicht gewöhnt, es fehlten die Bewohner. Dazu waren fast drei Jahrzehnte vergangen. Drei Jahrzehnte, in denen ich nicht mehr hier war. Ich hatte Rehser und das Vorwerk verlassen, als Mutter mit Mitte fünfzig an Krebs starb. Die Leute im Dorf sagten, sie sei an Vaters Schwermut gestorben.

Ich konnte diese Schwermut nicht ertragen. Vater lebte ganz in sich gekehrt, in einer Welt, in die er niemanden ließ. Eine Welt, die so klein war wie der Schuhkarton unter seinem Bett in der Dachkammer, gefüllt mit diesen losen Papieren, einem Stück Birkenrinde und einem alten Eisenschlüssel. Nicht selten redete er zusammenhangloses Zeug, das, egal wie ich es wendete, keinen Sinn ergab, aber mit seiner Geschichte zu tun haben musste. Bereits als Kind führte ich Tagebücher und schrieb vieles davon auf. Meist aus Neugier, aber auch um mir einen Reim auf etwas zu machen, was ich vom Hörensagen nicht verstand. Doch selbst beim Lesen erschloss sich damals nicht der Zusammenhang. Vater hatte mir ohnehin nur Bruchstücke seines Lebens anvertraut, alles andere überließ er meiner Fantasie. Vielleicht war das auch der Grund, warum ich später einmal Journalist wurde. Die Neugier hatte mir Vater eingeimpft, nur hatte er sie nicht befriedigt.

Was blieb, war eine dunkle Vorahnung, die Geschichte dahinter erfassten weder ich noch meine jüngere Schwester Lisa. Und ich vermute, nicht einmal Mutter vermochte es. Irgendwann akzeptierte ich, dass ich Vater nicht verstehen konnte. Denn das konnte offenbar keiner. Weder in dem, was er sagte, noch in seiner Art, wie er es sagte.

Der Alkohol tat ein Übriges. Immer wieder der Alkohol, in allen Formen und Farben. Dass er nicht schon längst tot war, glich einem Wunder. Hilfe nahm er weder von mir noch von meiner Schwester an, obwohl sie ganz nach ihm kam. Mit einem schwermütigen Alkoholiker ein Haus in einem Vorwerk zwei Kilometer außerhalb des Dorfes zu teilen, war auf Dauer unerträglich. Es lähmte mich. Ich wurde unruhig, nervös, war oft gereizt und hatte alle Mühe, mich zu beherrschen. Ich musste weg.

Vielleicht hatte ich es mir zu leicht gemacht. Aber ich war Mitte zwanzig, wollte raus, wollte studieren, die Welt sehen. Es war eine Flucht, erst vor Vater, dann aus dieser Einöde und dem Land, das mich einmauerte. Am Ende vor mir selbst. Noch während meines Kunstgeschichtsstudiums in Berlin stellte ich einen Ausreiseantrag. Ich wurde sofort exmatrikuliert. Die Ausreise, nach zwei Jahren des üblichen Spießrutenlaufes durch die staatlichen Behörden, brachte mir zwar einen neuen Studienplatz in Hamburg, aber verhinderte für viele Jahre die Besuche an Mutters Grab. Strafe ist eben Strafe, hieß es. Meine Eingaben, mir doch besuchsweise die Einreise in die DDR zu erlauben, blieben erfolglos. Das hätten Sie sich eher überlegen sollen, Herr Harder! Damit war ein Schlussstrich unter mein bisheriges Leben gezogen, der höher war als jede Mauer der Welt.

Meine Schwester, mit der ich mich sonst gut verstand, verzieh mir die Ausreise nie. Wie könne ich nur Vater im Stich lassen. Ich widersprach. Ich hatte ihn nicht im Stich gelassen. Er ließ mich im Stich.

Meine erste Frage am Telefon hatte meiner Schwester gegolten. Sie könne nicht, hieß es. Ich fragte nicht nach, wunderte mich aber schon. Lisa war nie die Frau, die sich entzog. Sie hatte die Hilfsbereitschaft verinnerlicht bis zur Selbstaufgabe. Entsprechend oft wurde sie von Mitschülern ausgenutzt. Egal ob in der Schule oder später in der Ausbildung. Meine Schwester sah es nicht.

Als ich bei der ehemaligen Poststelle in Rheser den Schlüssel für das Haus meines Vaters abholte, erzählte mir die frühere Postangestellte ausführlich Lisas Geschichte. Danach litt meine Schwester an einer seltenen, aber heimtückischen Augenkrankheit, bei der sich die Netzhaut langsam vom Auge ablöst. Sie war seit Jahren blind. Fünfundzwanzig Jahre habe sie noch in dem Haus gewohnt. Erst habe sie sich um den Vater, dann er sich um sie gekümmert. Irgendwann konnte er, der schon über achtzig war, auch nicht mehr helfen. Lisa musste in das nächste Blindenheim, das sich in der Kreisstadt befand, und war damit für Vater genauso unerreichbar, wie er für sie.

Als ich das hörte, wurde mir schwindlig, ich bat um einen Stuhl. Die Frau, eine korpulente Rentnerin mit dicken weichen Unterarmen schob mich auf einen Küchenstuhl und reichte mir ungefragt ein Glas Wasser. Lisa tat mir unendlich leid. Ich wollte es nicht wahrhaben, meine Schwester blind! Ich sah ihr Gesicht, die großen dunklen Augen, ihr Leuchten, den Wimpernaufschlag. Und dann hörte ich Mutters Satz, wonach Lisa geboren sei, um anderen zu helfen. Das war ihre Berufung. Vielleicht wollte sie deshalb Ärztin werden, aber nachdem ich einen Ausreiseantrag stellte, wurde ihr das Studium untersagt. Widerspruch war zwecklos. Beschweren Sie sich bei Ihrem Bruder!, sagte der zuständige Prorektor. Lisa hielt mir das nie vor. Nur wegen Vater war sie erbost.

Ich wusste nichts über Vaters Familie. Nur so viel, dass Vater am 29. Mai 1929 in einem kleinen Straßendorf namens Sophienhof dreißig Kilometer südöstlich von Breslau geboren wurde. Seine Familie lebte dort in siebenter Generation auf einem Bauernhof. Er hatte drei Geschwister, darunter zwei Schwestern. Und ich ahnte, dass der Krieg mit der Vertreibung der schlesischen Sophienhofer nicht nur die Familie trennte, sondern dass unabhängig von der Vertreibungsgeschichte, den Überfällen und Plünderungen, etwas Fürchterliches passiert sein musste. So grausam, dass Vater niemals darüber sprach oder es auch nur andeutete. Nicht mal, wenn er betrunken war und ich ihn löcherte, mehr zu verraten. Seine Geschichte blieb ein großer weißer Fleck.

Ich hätte sie nicht einmauern dürfen ... Die Sätze auf der Rückseite des Fotos elektrisierten mich. Sie ließen mich nicht los. Sie klebten an mir wie eine Nachricht aus einer anderen Welt. Und ich begriff sofort, dass sie eine Geschichte ist, die erforscht und erzählt werden wollte. Noch mehr als mir bewusst wurde, dass sie in diesem Karton steckte, der schon immer unter seinem Bett in der Dachkammer stand. Und an den er keinen Menschen, nicht einmal Mutter, ließ. Der Karton, so war ich überzeugt, beherbergte Vaters Geheimnis.

Die Kammer richtete sich Vater bereits kurz nach Bezug des Hauses Mitte der Fünfzigerjahre ein. Obgleich er hin und wieder mit Mutter das untere Schlafzimmer teilte, zog er sich doch in aller Regel in die Kammer zurück. Als Kind hatte er mir bereits Prügel angedroht, würde ich jemals in seiner Kammer herumschnüffeln. Das nahm ich sogar ernst, obgleich mich Vater niemals schlug. Vater war dafür zu weich, sehr weich. Er weinte bei jeder Gelegenheit. Aus Rührung oder Mitgefühl. Egal ob er getrunken hatte oder nicht. Anderen konnte er nicht wehtun. So ließ diese Drohung die Kammer und meinen Vater noch geheimnisvoller erscheinen.
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