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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am14.09.2020
Sacha sehnt sich nach Einsamkeit. Müde vom lauten Paris, zieht er in eine Kleinstadt, irgendwo in der Provence. Fernab von allem, zwischen Platanen und menschenleeren Plätzen, möchte er sich dem Schreiben widmen. Doch dann trifft er auf einen alten Jugendfreund, den »Anhalter« - und der ist immer noch derselbe: Wie schon zu Jugendzeiten bricht er auf, ohne Vorwarnung, hängt sich ein Schild um den Hals - Nach Auxerre oder Nach Landes - und reist kreuz und quer durch Frankreich. Seine Frau Marie und sein Sohn Agustín bleiben allein zurück. Aus Wochen des Wartens werden Monate. Sacha kümmert sich rührend um Agustín und knüpft ein immer engeres Band zu Marie. Eine zarte Geschichte über Sehnsüchte und die große Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht.

Sylvain Prudhomme, geboren 1979, ist Schriftsteller und Übersetzer. Seine Kindheit verbrachte er in Kamerun, Burundi, Mauritius und im Niger. In Paris studierte er Literaturwissenschaften und arbeitete danach mehrere Jahre in Afrika. Er ist Autor von mehreren Romanen und Mitbegründer der Zeitschrift Geste. Er wurde u. a. mit dem Prix littéraire Georges Brassens, dem Prix littéraire de la Porte Dorée, dem Prix François Billetdoux und dem Prix Révélation de la Société des Gens de Lettres ausgezeichnet. 2019 erhielt er den Prix Femina.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextSacha sehnt sich nach Einsamkeit. Müde vom lauten Paris, zieht er in eine Kleinstadt, irgendwo in der Provence. Fernab von allem, zwischen Platanen und menschenleeren Plätzen, möchte er sich dem Schreiben widmen. Doch dann trifft er auf einen alten Jugendfreund, den »Anhalter« - und der ist immer noch derselbe: Wie schon zu Jugendzeiten bricht er auf, ohne Vorwarnung, hängt sich ein Schild um den Hals - Nach Auxerre oder Nach Landes - und reist kreuz und quer durch Frankreich. Seine Frau Marie und sein Sohn Agustín bleiben allein zurück. Aus Wochen des Wartens werden Monate. Sacha kümmert sich rührend um Agustín und knüpft ein immer engeres Band zu Marie. Eine zarte Geschichte über Sehnsüchte und die große Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht.

Sylvain Prudhomme, geboren 1979, ist Schriftsteller und Übersetzer. Seine Kindheit verbrachte er in Kamerun, Burundi, Mauritius und im Niger. In Paris studierte er Literaturwissenschaften und arbeitete danach mehrere Jahre in Afrika. Er ist Autor von mehreren Romanen und Mitbegründer der Zeitschrift Geste. Er wurde u. a. mit dem Prix littéraire Georges Brassens, dem Prix littéraire de la Porte Dorée, dem Prix François Billetdoux und dem Prix Révélation de la Société des Gens de Lettres ausgezeichnet. 2019 erhielt er den Prix Femina.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293310865
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum14.09.2020
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1990 Kbytes
Artikel-Nr.5349996
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



3


Gleich am nächsten Morgen rief ich ihn an. Am Telefon blieb es erst einmal still.

Sacha.

Ich sagte, ich sei da. Ich sei gerade nach V. gezogen.

Er ließ einen Moment verstreichen.

Du hier das ist verrückt.

Wir schwiegen eine Weile, warteten beide. Wir hatten uns seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, nicht mehr gesprochen.

Komm, sagte er schlicht.

Was meinst du.

Komm gleich. Komm vorbei. Wozu warten.

Seine Stimme hatte sich nicht verändert. Trotz der Überraschung war er ruhig.

Komm Marie und Agustín sind da, es ist Sonntag, dann siehst du gleich alle.

Ich legte das Telefon auf einen Hocker. Betrachtete die grünen Wände um mich herum. Dachte, ich müsste Stühle kaufen. Die beiden, die da waren, würden nicht lange reichen, so einsam mein neues Leben auch sein mochte.

Ich betrachtete das Morgenlicht, das durch das Fenster hereinfiel und auf dem Parkett einen großen goldenen Fleck bildete. Ich betrachtete den Staub, den ich tags zuvor in meiner Eile, mich sofort an die Arbeit zu machen, übersehen hatte. Ich bückte mich, um mit dem Finger über die Fußleiste zu fahren. Meine Fingerspitze bedeckte sich mit einer schwarzen Schicht. In der kleinen Kammer unter der Treppe fand ich einen Staubsauger. Ich ging hinunter, um Chlorreiniger, Fensterputzmittel, neue Staubsaugerbeutel, Schwämme und einen Wischlappen zu kaufen. Ich saugte. Ich putzte. Ich schrubbte. Ich spülte. Die Wohnung begann, sauber zu riechen.

Ich warf einen Blick auf meinen Computer, der seit dem Vorabend aufgeklappt auf dem Tisch stand.

Ich dachte, arbeiten würde ich später.

Durch das nunmehr saubere Fenster beobachtete ich die Wohnung gegenüber, offene Fenster vor einer kleinen Schreibtischecke, weiße Wände, Regale voller Bücher.

Ich dachte, dass es sich in diesem Raum sicher gut arbeiten ließ. Dass die Nachbarn von gegenüber bestimmt sympathisch waren, wenn sie Bücher so liebten.

Ich kochte mir Kaffee. Der Geruch aus der Kaffeemaschine vermischte sich mit dem des Chlorreinigers. Ich fragte mich, ob das zu einer chemischen Reaktion führen würde. Ob der Chlorgeruch die Macht hatte, den Geschmack des Kaffees zu verderben. Ich goss den Kaffee in eine große Tasse, führte sie zu meinen Lippen. Der Geschmack kam mir merkwürdig vor. Ich trank einen zweiten Schluck, einen dritten. Dann schmeckte ich das Chlor nicht mehr.

Ich öffnete meine beiden Reisetaschen, holte meine Kleider heraus, alles in allem zwei Jeans, drei T-Shirts, ein Hemd, ein paar Unterhosen und Socken. Ich räumte sie in das einzige Regal der Wohnung, gut sichtbar, gebrauchsbereit, so wie ich es immer mache, wenn ich ein paar Tage an einem fremden Ort verbringe, bei Freunden oder in einem Hotelzimmer. Ich genoss diese Reduktion meiner Garderobe aufs Wesentliche. Ich sah darin ein Zeichen, dass ich auf dem richtigen Weg war. Auf dem Weg zu dem Leben, das ich wollte. Gesammelt. Genügsam. Verdichtet.

Ich tauchte wieder in meine Taschen ein und holte die etwa zwanzig Bücher hervor, die ich mitgebracht hatte. Korrektur von Thomas Bernhard. Dada aus dem Koffer. Die verkürzte Geschichte der tragbaren Literatur von Vila-Matas. Claude Simons Georgica, das vollste Buch, das je geschrieben wurde, wie ich immer gedacht habe, das dichteste, lebendigste, bis zum Rand vollgestopft mit stillstehenden Zügen im Winter, mit Granatenexplosionen und wogenden Weizenfeldern und nächtlichen Stunden des Wartens auf froststarren Pferden. Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt von Garcia Márquez, in dem ein verarmter alter Mann wartet, immer weiter wartet auf eine Veteranenpension, die nicht kommt, und in der Zwischenzeit lieber verhungern will als auf den einzigen Stolz verzichten, der ihm bleibt: seinen Kampfhahn. Francis Ponges Pour un Malherbe, in dem ich an mutlosen Tagen nur zu blättern brauche, um mich aufgemuntert, entschlossen und zuversichtlich zu fühlen: »Wir sind ans Meer gefahren (dreizehn Kilometer von Caen): Wir haben dessen starke, bittere Verfassung festgestellt, und wie die Dünenpflanzen wütend dem Wind standhalten, selbst wenn sie sich nirgends anders als im Sand festklammern. Wir sind Meer und Dünen zugleich und wohl in der Lage, es ihnen gleichzutun. Wir werden unseren Zorn vom 1. und 2. Oktober nutzen, um den notwendigen Ton zu finden, das Wort zu ergreifen und zu behalten. Wir, in der Menge verloren. Wir, die wir dritter Klasse reisen. Wir, die wir nicht wissen, wie wir leben sollen, und keinen Geschmack an der Boheme finden.«

Ich stellte sie eins nach dem anderen ins Regal, in Blickhöhe, unübersehbar. Damit sie mich jedes Mal, wenn ich vorbeiging, mit all ihrer Macht zur Ordnung riefen, anstachelten, zu höchstem Anspruch und zur Arbeit aufforderten.

Ich packte meine Taschen vollends aus. Ich betrachtete meine gesamten Besitztümer, die vor mir im Licht ausgebreitet waren, geordnet, gebrauchsbereit, willentlich auf genau das Nötige beschränkt, gleich den Instrumenten eines Chirurgen vor der Operation. Ich dachte: Mit wenig sieht man besser. Lebt man besser. Bewegt man sich besser fort, denkt besser, entscheidet sich besser. Ich genoss den Gedanken, dass mein Leben jetzt da war. Der ganze Ballast meines vierzigjährigen Lebens reduziert auf diese paar Sachen in einem Regal.

Ich griff nach der Frankreichkarte, die ich immer dabeihabe, und pinnte sie an die Wand. Ich fuhr die Strecke nach, die ich tags zuvor mit dem Zug zurückgelegt hatte, Paris, wo alle Wege zusammenlaufen, das Rhonetal hinab, die grünen, gelben und orangeroten Zonen, die ich in den paar wenigen Stunden an Bord des TGVs durchquert habe bis zu dem entlegenen Punkt V.

Ich dachte: Jetzt bist du da. An diesem winzigen Punkt auf der Karte wohnst du. Irgendwo im Schwarz dieses Punktes namens V. befindet sich der noch unendlich viel kleinere Punkt deines eigenen Körpers.

Und dann fiel mir ein: Irgendwo in diesem Punkt befindet sich auch der Punkt des Körpers des Anhalters. Ich ließ meinen Blick über den Rest der Karte schweifen, über die großen leeren Gebiete, über die Tausende von anderen Punkten, wo er oder ich hätten beschließen können zu leben. Ich dachte, wie verrückt es doch war. Was es für einen unglaublichen Zufall gebraucht hatte, dass wir beide uns hier trafen. Oder vielleicht etwas anderes als einen Zufall. Ich versetzte mich an die Stelle des Anhalters. Ich dachte, was er wohl hatte denken müssen, als er hörte, dass ich da war. Wie undenkbar es war, dass er nicht gedacht hatte, ich sei gekommen, weil ich ihn suchte. Ich sei wegen ihm hergezogen.

Ich dachte an Lee Oswald, wie er im obersten Stockwerk des Gebäudes, von dem aus er auf Kennedy schießen wird, sein Gewehr auspackt. An alle Auftragskiller in den Stunden vor dem Mord, den sie begehen werden. An ihre Ruhe. An die Präzision ihrer Handgriffe. An die Sorgfalt, mit der sie ihre Stellung auswählen. Mit der sie ihre Sachen ordnen. Mit der sie alles vorbereiten, damit, wenn es so weit ist, alles gutgeht.

Lebe, sagte der Anhalter immer zu mir. Lebe erst mal, danach wirst du schreiben.

Lass diesen schönen sonnigen Tag nicht vorbeiziehen, jedes Mal, wenn er mich an meinem Computer sah. Oder wenn er so freundlich war, es nicht zu sagen, verstand ich, dass er es dachte. Und seine Taten sagten es mir auch. Wenn er baden ging und ich nicht. Wenn er einen Spaziergang machte und ich nicht. Wenn er in der Kneipe Unbekannte kennenlernte und ich nicht.

Ich trank meinen Kaffee aus. Mein Blick fiel auf einen Band im Regal, den ich im letzten Moment noch in meine Tasche gesteckt hatte. Ein kleines Buch, auf das ich kurz vor der Abreise gestoßen war, nachdem ich tagelang die Regale meines kleinen Pariser Zimmers leer geräumt hatte, und dessen Titel lautete: Per Anhalter! Praktischer und humoristischer Führer für den Tramper. Ich nahm es aus dem Regal. Ich blätterte die ersten Seiten durch. Text von Yves-Guy Bergès, Zeichnungen von Sempé. Ich konnte mich an den Bouquinisten erinnern, dem ich es zwanzig Jahre zuvor abgekauft hatte, unter dem Dach einer Markthalle im Süden von Paris.

Ich sah mich mit dieser Trophäe in der Hand vor mir, wie ich sie dem Anhalter zeigte. Ich erinnerte mich an seine Reaktion angesichts des Buchs. An das Lächeln auf seinem zwanzigjährigen Gesicht.

Ein Buch über das Trampen. Warum nicht gleich ein Buch über die richtige Art zu gehen. Ein Buch über die richtige Art, sich schlafen zu legen.

Ich blätterte darin herum. Ich bewunderte die erfrischende Widmung: Gewidmet der SNCF, zum Zeichen meiner Hochachtung und Sympathie. Ich ließ meinen Blick über die Seiten wandern, erhaschte hier und da eine Passage: »Ich kann für meinen Teil durchaus behaupten, dass ich Autofahrer liebe. Ich hatte in meinem Leben mit über dreitausend von ihnen Verkehr.« Ich entdeckte die Geschichte des Pariser Vereins Pouce, Daumen, der Ende der Fünfzigerjahre das löbliche Projekt entwickelt hatte, Anhalter und Autofahrer durch ein System von Kleinanzeigen zusammenzubringen - ein Vorläufer der heutigen Mitfahrportale, nicht mehr und nicht weniger.

Ich spürte, wie meine Scham sich verschob, ihren Gegenstand wechselte. Meine frühere Scham wich einer gegenwärtigen Scham:...


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Autor

Sylvain Prudhomme, geboren 1979, ist Schriftsteller und Übersetzer. Seine Kindheit verbrachte er in Kamerun, Burundi, Mauritius und im Niger. In Paris studierte er Literaturwissenschaften und arbeitete danach mehrere Jahre in Afrika. Er ist Autor von mehreren Romanen und Mitbegründer der Zeitschrift Geste. Er wurde u. a. mit dem Prix littéraire Georges Brassens, dem Prix littéraire de la Porte Dorée, dem Prix François Billetdoux und dem Prix Révélation de la Société des Gens de Lettres ausgezeichnet. 2019 erhielt er den Prix Femina.

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