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Die Rebellion der Alfonsina Strada

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
335 Seiten
Deutsch
Eichbornerschienen am30.04.20211. Aufl. 2021
Schon als kleines Mädchen hat Alfonsina Strada einen großen Traum: Fahrrad zu fahren und das rasant. 1891 in einem norditalienischen Dorf geboren, die Eltern arm, saust sie heimlich auf dem alten Drahtesel ihres Vaters durch die Nacht. Trotz aller Verbote meldet sie sich zu Rennen an, gewinnt und will noch mehr: am gloriosen Giro d'Italia teilnehmen, für den jedoch nur Männer zugelassen sind. Mit Mut und Fantasie bereitet sie sich auf den größten Coup ihres Lebens vor...


Simona Baldelli, geboren 1963, hat Theater und Kreatives Schreiben studiert. Sie lebt als freie Autorin in Rom, mehrere ihrer Werke wurden in Italien mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Die Rebellion der Alfonsina Strada ist ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextSchon als kleines Mädchen hat Alfonsina Strada einen großen Traum: Fahrrad zu fahren und das rasant. 1891 in einem norditalienischen Dorf geboren, die Eltern arm, saust sie heimlich auf dem alten Drahtesel ihres Vaters durch die Nacht. Trotz aller Verbote meldet sie sich zu Rennen an, gewinnt und will noch mehr: am gloriosen Giro d'Italia teilnehmen, für den jedoch nur Männer zugelassen sind. Mit Mut und Fantasie bereitet sie sich auf den größten Coup ihres Lebens vor...


Simona Baldelli, geboren 1963, hat Theater und Kreatives Schreiben studiert. Sie lebt als freie Autorin in Rom, mehrere ihrer Werke wurden in Italien mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Die Rebellion der Alfonsina Strada ist ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751704113
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Verlag
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum30.04.2021
Auflage1. Aufl. 2021
Seiten335 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse895 Kbytes
Artikel-Nr.5420335
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


DER MOND

Mailand, 13. September 1959

Die Strapazen. Die Strapazen.

Niemand denkt an die Strapazen. Alle haben nur Augen für die Medaillen und Trophäen oder spekulieren über das gewonnene Preisgeld, das immer zu wenig, immer zu schnell weg ist. Man redet über den Applaus, über Schlagzeilen in den Zeitungen, doch die Strapazen werden vergessen. Und die Einsamkeit.

Alfonsina dagegen dachte daran. Es war das Erste, was ihr beim Aufwachen in aller Frühe in den Sinn gekommen war, während draußen ein grauvioletter Spätsommerhimmel dämmerte. Mit einiger Überwindung hatte sie sich aus dem Bett gehievt. Sie hatte wenig und schlecht geschlafen, doch sie durfte sich nicht der Trägheit überlassen.

Sie zog die Jalousien hoch und blickte über die vereinzelten Häuser und die Wiesen, die den Stadtrand von Mailand mit La Bovisa verbanden. Alles war still, auch die Schornsteine der Chemiefabrik Montecatini schwiegen. Kein grauer Qualm verdeckte die Sonne, keine Sirene rief die Arbeiter zum Schichtwechsel zwischen Nacht und Tag. Sonntag, Tag der Ruhe und der Familie. Außer für sie, die ohne Mühe nicht sein konnte und deren Familie, oder was davon übrig war, über halb Norditalien verstreut wohnte.

Von der Straße unten klangen Schritte herauf. Ein gebeugt gehender Mann kam vom Ende der Via Varesina her und hielt sich mit beiden Händen den Kragen seiner dürftigen Anzugjacke zu.

Er tat ihr leid. Der Ärmste fror jetzt schon, obwohl laut Kalender noch eine Woche Sommer war. Alfonsina lehnte sich ein Stück aus dem Fenster. Es war nicht auszuschließen, dass der Mann zu ihr hinaufsah, und dann wollte sie einen freundschaftlichen Blick mit ihm wechseln. Es hatte eine Zeit gegeben, noch nicht allzu lange her, als sich vor ihrem Haus kleine Prozessionen von Passanten bildeten, die zu ihr hinauflächelten oder -winkten, wenn sie sie hinter der Scheibe entdeckten. Mit den Jahren kam das immer seltener vor, aber heute war vielleicht ein guter Tag.

Der Mann ging weder langsamer noch blickte er auf, eher beschleunigte er seine Schritte noch. Sie sah ihn gebückt um die Ecke zur Via Fiamminghino verschwinden. Wohin er wohl so zielstrebig am frühen Sonntagmorgen wollte? Vielleicht zur Sechs-Uhr-Messe in San Martino in Villapizzone, aber es war noch Zeit, die Welt würde nicht untergehen, wenn er ein bisschen weniger hetzte. Ihr Anflug von Mitgefühl eben verwandelte sich in Unmut, weiß der Himmel, warum.

Sie schloss das Fenster mit einem Knall, der in der Wohnung widerhallte. Sei´s drum, was bedeutete schon der Gruß eines Fremden, wenn sie doch heute so viele Freunde wiedertreffen würde, Leute, die sie gernhatten, in deren Herzen sie einen besonderen Platz einnahm. Von ihnen würde sie die Bestätigung bekommen, dass Alfonsina Strada immer noch etwas zählte.

Der Horizont färbte sich gelb über der Galopprennbahn von San Siro. Leicht verblasst durch den heraufziehenden Tag schien noch der Mond. Er war etwas mehr als halb voll, zunehmend, und der Teil im Schatten sah aus wie ein Stück einer noch vor dem Reifwerden verfaulten Orange. Sie fragte sich, wo die Luna 2 aufsetzen würde, ob auf dem hellen oder dem dunklen Bereich.

Am Abend zuvor war sie spät ins Bett gegangen, weil sie noch lange Radio gehört hatte. Die Mondsonde Luna 2 war an diesem Morgen des 12. September 1959 um 9.40 Uhr Moskauer Zeit, 7.40 Uhr in Italien, ins All geschossen worden. Die im Januar gestartete Luna 1 hatte kein Glück gehabt und den Erdtrabanten um knapp 6000 Kilometer verfehlt. Während sie den Nachrichten lauschte, hatte Alfonsina sich ausgerechnet, wie lange man brauchen würde, um diese für die Raumfahrt kurze Distanz mit dem Fahrrad zurückzulegen: bei 300 Kilometern am Tag fast drei Wochen. Die Entfernung von der Erde zum Mond dagegen war so groß, dass sie gar nicht erst versucht hatte, die nötige Fahrzeit zu berechnen. Vom Kraftaufwand ganz zu schweigen.

Heilige Madonna, tatsächlich bis zum Mond. Wenn man bedachte, als welch enorme Leistung es ihr erschienen war, den Macerone-Pass zu überwinden. Mit einem letzten Blick auf die schiefe Scheibe dort oben riss sie sich vom Fenster los. Es gab noch viel zu tun, bevor sie aufbrach, sie konnte nicht ihre Zeit damit vertrödeln, in den Himmel zu starren.

Zärtlich strich sie über das Foto von Carlo. »Ich mache einen Ausflug, um ein paar Freunde zu sehen«, erklärte sie ihm, »heute Abend erzähle ich dir alles.« Dahinter stand eine ältere, verblichene Fotografie, aufgenommen vor dem Mailänder Rathaus, die sie neben einem Mann mit liebevollem, irrem Lächeln zeigte. Damals hatte sie nicht auf seinen verrückten Blick geachtet, sondern vor allem seine Freundlichkeit gesehen, die ihr so gutgetan hatte. Sie streichelte auch ihn, denn der Gedanke an den schönen Tag, der vor ihr lag, erfüllte sie mit Wohlwollen für die ganze Welt.

Sie wusch sich eilig und ging zum Kleiderschrank. Es war reines Theater, sich davorzustellen, als würde sie überlegen, was sie anziehen sollte, denn sie wusste ja bereits, wie es enden würde: dunkler Pullover, schwarze Hose und die unvermeidliche Schirmmütze, um ihre wilden Haare zu bändigen. Eher Uniform als Kleidung. Noch nie war sie bei einem Rennen oder einer Veranstaltung in etwas anderem erschienen, ohne diese Sachen fühlte sie sich einfach nicht wohl.

Sie erwog, sich einen Imbiss zum Mitnehmen zu machen. Gewiss würde man sie zum Mittagessen einladen, keine Frage, aber was, wenn sich alles ein wenig in die Länge zog oder sie noch vor dem Ende des Rennens Hunger bekam? Sie schnitt die mit Olivenöl gebackenen Brötchen auf, die sie am Vortag für alle Fälle gekauft hatte, und belegte sie großzügig. Da sie schon mal dabei war, steckte sie auch eine Feldflasche voll Wasser in den Rucksack, man wusste schließlich nie. Dann machte sie die Runde durch die Wohnung, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war, das Licht ausgemacht, das Gas abgedreht und ihre Schätze in Sicherheit. Seit Carlos Tod vor zwei Jahren war mehrfach bei ihr eingebrochen worden. Man hatte ihr einige ihrer liebsten Erinnerungsstücke gestohlen, Medaillen und vergoldete Pokale, Blech von geringem Wert für diese diebischen Mistkerle, aber von enormer Bedeutung für sie, die für jedes Gramm literweise Schweiß vergossen hatte. Weiß der Teufel, was sie damit machten, diese Idioten. Außerdem ein paar Alben mit Fotos und Zeitungsartikeln, in denen von ihr die Rede war. Carlo hatte sie mit Andacht zusammengestellt wie eine Sammlung von Heiligenbildchen. Erst als er damit fertig war, hatte er ihr die Alben gezeigt. »Hier, Fonsina, damit du dich immer daran erinnerst, wer du bist«, hatte er gesagt. Das war die schönste Liebeserklärung für sie gewesen.

Geld hatte man ihr auch geraubt, einen Teil ihrer armseligen Ersparnisse, die es ihr ermöglichten, halbwegs menschenwürdig über die Runden zu kommen. Seitdem hatte sie sich angewöhnt, es an verschiedenen Stellen zu horten, ein paar Tausend Lire hier, ein Bündel Scheine da. Manchmal vergaß sie, wo sie es versteckt hatte, und wenn sie es dann plötzlich wiederfand, freute sie sich wie ein Kind über ein unerwartetes Geschenk.

Sie sah nach dem Geld im Kühlschrank, das in einer Wurstpackung steckte, und dem, das sie in eine Schuhspitze gestopft hatte wie eins dieser Papierknäuel, mit denen die Schuhmacher die Form erhalten. Anschließend ging sie ins Bad und zog aus einem Stapel sauberer Handtücher das Diadem hervor. Der goldene Reif und die Steine glänzten um die Wette. Sie setzte es auf und betrachtete sich im Spiegel. Es war das Geschenk eines Mäzens zu ihrer Zeit in Paris vor mehr als dreißig Jahren. Immer wenn ein Kummer sie plagte, der sich anders nicht vertreiben ließ, zog sie das Diadem auf und stolzierte damit hoch erhobenen Hauptes durch die Wohnung, während sie die Hausarbeit erledigte oder Radio hörte. In der Öffentlichkeit trug sie es nicht, das war ihr peinlich - außer zur Weiberfastnacht. Dann ging sie damit hinunter auf die Via Varesina oder in ihr Büro in der Via Farini. Die Leute lachten und klatschten Beifall.

»Wie ihr seht, habe ich mich auch dieses Jahr kostümiert!«, scherzte sie.

»Es lebe die Königin der Tretkurbel!«, antworteten sie.

»Die ehemalige Königin der Tretkurbel«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. So titulierten die Zeitungen sie jetzt bei den wenigen Malen, die man sie noch erwähnte. Von wegen ehemalige, dachte sie. Eine Königin war sie und würde sie bleiben. Sie schob das Diadem zurück zwischen die Handtücher, wobei sie darauf achtete, dass nichts hervorlugte, und strich kurz darüber. Ihr lag viel an diesem Schmuckstück, nicht nur wegen des materiellen Werts, sondern weil es sie an diesen besonderen Tag erinnerte, an dem sie ihre Mutter dazu gebracht hatte, es aufzuprobieren. Sie hatten so gelacht, dass ein Hoteldiener angeklopft hatte, um sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei. Und vor Kurzem hatte sie versprochen, das Diadem Antonia zu leihen, einem jungen Mädchen, das mit seiner Familie über ihrer Werkstatt mit Büro wohnte. Wenn nur dieser Trottel von Antonias Verehrer sich mal dazu durchringen könnte, ihr einen Antrag zu machen. Alfonsina schloss das Schränkchen und fuhr mit ihrer Inspektion fort.

In einem grünen Plastikdöschen befand sich statt Puder der Ordensstern, den sie von D´Annunzio bekommen hatte. Alles an seinem Platz also, sie konnte beruhigt aufbrechen.

Doch irgendetwas ließ sie zögern. Ein Gefühl von Erschöpfung, ein lastendes Gewicht auf den Schultern hielt sie an der Türschwelle fest. Sie hatte unruhig geschlafen, daran lag es wohl. Die Nachrichten hatten bis kurz vor Mitternacht gedauert, und beim Zubettgehen...

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Autor

Simona Baldelli, geboren 1963, hat Theater und Kreatives Schreiben studiert. Sie lebt als freie Autorin in Rom, mehrere ihrer Werke wurden in Italien mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Die Rebellion der Alfonsina Strada ist ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint.
Die Rebellion der Alfonsina Strada