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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
dtv Verlagsgesellschafterschienen am21.05.20211. Auflage /
Baldwins explizitester, leidenschaftlichster Roman Warum hat Rufus Scott - ein begnadeter schwarzer Jazzer aus Harlem - sich das Leben genommen? Wegen seiner Amour fou mit der weißen Leona, einer Liebe, die nicht sein durfte? Verzweifelt sucht Rufus' Schwester Ida nach einer Erklärung. Aber sie findet nur Wahrheiten, die neue Wunden schlagen, - auch über sich selbst. Wie ihr Bruder war Ida lange bereit, sich selbst zu verleugnen, um ihren Traum zu verwirklichen, den Traum, Sängerin zu werden. Wie ihr Bruder hat sie ihre Wut auf die Weißen, die sie diskriminieren. Bis jetzt. Baldwin verwickelt uns in ein gefährliches Spiel von Liebe und Hass - vor der Kulisse eines Amerikas, das sich selbst in Trümmer legt.

James Baldwin, 1924 geboren, ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller. Sein bereits zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst Essays, Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Er starb 1987 in Südfrankreich.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
HörbuchCD-ROM
EUR29,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextBaldwins explizitester, leidenschaftlichster Roman Warum hat Rufus Scott - ein begnadeter schwarzer Jazzer aus Harlem - sich das Leben genommen? Wegen seiner Amour fou mit der weißen Leona, einer Liebe, die nicht sein durfte? Verzweifelt sucht Rufus' Schwester Ida nach einer Erklärung. Aber sie findet nur Wahrheiten, die neue Wunden schlagen, - auch über sich selbst. Wie ihr Bruder war Ida lange bereit, sich selbst zu verleugnen, um ihren Traum zu verwirklichen, den Traum, Sängerin zu werden. Wie ihr Bruder hat sie ihre Wut auf die Weißen, die sie diskriminieren. Bis jetzt. Baldwin verwickelt uns in ein gefährliches Spiel von Liebe und Hass - vor der Kulisse eines Amerikas, das sich selbst in Trümmer legt.

James Baldwin, 1924 geboren, ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller. Sein bereits zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst Essays, Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Er starb 1987 in Südfrankreich.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423438650
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum21.05.2021
Auflage1. Auflage /
SpracheDeutsch
Dateigrösse1616 Kbytes
Artikel-Nr.5424248
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Er stand am Times Square, vor sich die Seventh Avenue. Es war nach Mitternacht, und er hatte seit zwei Uhr nachmittags im Kino gesessen, in der letzten Reihe im Rang. Zwei Mal hatten ihn die hitzigen Stimmen des italienischen Films geweckt, ein Mal der Platzanweiser, und zwei Mal war er von Raupenfingern zwischen seinen Schenkeln wach geworden. Er war so müde, er war so tief gesunken, dass er nicht mal die Energie aufbrachte, wütend zu werden; er gehörte sich nicht mehr - you took the best, so why not take the rest? Aber geknurrt hatte er im Schlaf, die weißen Zähne in seinem dunklen Gesicht gefletscht und die Beine übergeschlagen. Dann hatte sich der Rang geleert, der italienische Film steuerte auf einen Höhepunkt zu, und er war die endlosen Stufen hinunter zur Straße gewankt. Er hatte Hunger, einen pelzigen Geschmack im Mund. Auf dem Weg durch die Tür, zu spät, merkte er, dass er mal musste. Und er war pleite. Und er wusste nicht, wohin.

Ein Polizist ging misstrauisch an ihm vorbei. Rufus drehte sich um, schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch, als der Wind sich genüsslich durch seine Sommerhose nagte, und wandte sich auf der Seventh Avenue nach Norden. Er hatte überlegt, Richtung Downtown zu gehen und Vivaldo zu wecken - den einzigen Freund, den er noch hatte in der Stadt oder vielleicht sogar auf der Welt -, dann aber beschlossen, zu einer Jazzbar hochzulaufen. Vielleicht erkannte ihn dort jemand, vielleicht ließ einer was springen, für eine Mahlzeit oder zumindest für die Subway. Gleichzeitig hoffte er, nicht erkannt zu werden.

Die Avenue lag still, die meisten Lichter waren aus. Hier und da ging eine Frau vorbei, hier und da ein Mann; selten ein Paar. An Straßenecken, unter den Laternen, nahe den Drugstores standen schnatternd Weiße beisammen, lächelten aufeinander ein, pfiffen nach Taxis und eilten davon, verschwanden in Läden oder dunklen Seitenstraßen. Zeitungskioske hielten, wie kleine schwarze Spielsteine auf einem Brett, Ecken der Bürgersteige besetzt, davor stampften Polizisten, Taxifahrer und andere, die schwer einzuordnen waren, mit den Füßen und wechselten wenige vertraute Worte mit dem eingemummten Verkäufer. Eine Leuchtreklame warb für Kaugummi, der Lockerheit und Lächeln garantierte. Der riesige Neon-Name eines Hotels forderte den sternlosen Himmel heraus, ebenso die Namen von Filmstars und Theatergrößen, die derzeit oder demnächst am Broadway zu bewundern waren, neben den meilenhohen Namenszügen jener Inszenierungen, die sie in die Unsterblichkeit befördern würden. Lichtlose hohe Gebäude, stumpf wie ein Phallus oder spitz wie ein Speer, bewachten die Stadt, die niemals schlief.

Unten ging Rufus, einer der Gefallenen - das Gewicht dieser Stadt war mörderisch -, einer von denen, die erdrückt wurden an jenem Tag, an jedem Tag, da die Türme fielen. So allein, dass er daran zugrunde ging, gehörte er zu einer nie dagewesenen Masse. Junge Männer und Frauen, die an den Tresen der Drugstores vor ihrem Kaffee saßen, waren von Rufus´ Schicksal nur durch einen Hauch getrennt, der so vergänglich war wie ihre verglühenden Zigaretten. Das zu wissen ertrugen sie kaum, auch Rufus´ Anblick hätten sie nicht ertragen, aber sie wussten, warum er heute Nacht auf der Straße war, warum er die ganze Nacht Subway fuhr, warum sein Magen knurrte, sein Haar verfilzt war, seine Achseln miefig, Hose und Schuhe zu dünn; und warum er sich nicht zum Pinkeln reintraute.

Jetzt stand er vor dem diesigen Eingang des Jazzclubs, spähte hinein und sah, ohne wirklich etwas zu erkennen, die entrückten schwarzen Musiker auf der Bühne und die arglose gemischte Menge an der Bar. Die Musik war laut und leer und wurde der Menge entgegengeschleudert wie ein Fluch, an den nicht mal die Hasserfülltesten noch glaubten. Die Musiker wussten, dass keiner zuhörte, dass man blutleere Menschen nicht bluten lassen kann. Also bliesen sie, was alle schon gehört hatten, und versicherten allen, dass nichts Schlimmes geschah. An den Tischen überbrüllten die Menschen zufrieden diese famose Bestätigung, und an der Bar gingen die Menschen im Schutz des Lärms, ohne den sie kaum hätten leben können, ihren Geschäften nach. Er wollte reingehen und die Toilette benutzen, aber er schämte sich, so gesehen zu werden. Er versteckte sich schon fast einen Monat lang. Und jetzt, als er draußen dastand, sah er sich selbst durch diese Menge zum Klo schlurfen und wieder rauskriechen, während man ihm voller Mitleid, Verachtung oder Hohn nachblickte. Irgendjemand würde bestimmt flüstern: Ist das nicht Rufus Scott? Irgendjemand würde ihn entsetzt ansehen und sich mit einem mitleidig gedehnten Mann! wieder seinen Angelegenheiten zuwenden. Er schaffte es nicht - er tänzelte von einem Fuß auf den anderen, und Tränen traten ihm in die Augen.

Ein weißes Pärchen kam lachend aus dem Club und bemerkte ihn im Vorbeigehen kaum. Die Wärme, der Geruch von Menschen, Whiskey, Bier und Rauch, die ihm durch die offene Tür entgegenschlugen, ließen ihn beinahe laut aufheulen, und sein leerer Magen knurrte wieder.

Er erinnerte sich an Tage und Nächte, Tage und Nächte, da er dort drinnen gewesen war, auf der Bühne oder in der Menge, cool und geliebt, wie er bei Frauen und auf Partys landete, sich betrank oder high mit den Musikern alberte, die seine Freunde waren, die ihn respektierten. Und irgendwann bei sich zu Hause die Tür zumachte, die Schuhe auszog, sich vielleicht was einschenkte, vielleicht Platten hörte, sich auf dem Bett ausstreckte, vielleicht eine Frau anrief. Die Unterwäsche wechselte, seine Socken und das Hemd, sich rasierte, duschte und nach Harlem fuhr zum Friseur und um seine Mutter und seinen Vater zu besuchen und seine Schwester Ida zu ärgern und um zu essen: Spareribs oder Porkchops oder Gemüse oder Maisbrot oder Yams oder Biscuits. Kurz war ihm, als würde er ohnmächtig vor Hunger, und er stützte sich an einer Mauer ab. Eiskalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Das muss aufhören, Rufus, dachte er. Diese Scheiße muss aufhören. Vor Überdruss und Leichtsinn, da niemand auf der Straße war und hoffentlich auch keiner zur Tür rauskam, ließ er seinen Urin aufs steinkalte Pflaster prasseln, dass leichter Dampf aufstieg.

Er erinnerte sich an Leona. Oder wurde plötzlich von einer kalten, vertrauten Übelkeit ergriffen und wusste, dass er sich an Leona erinnerte. Langsam entfernte er sich von der Musik, die Hände in den Taschen, mit gesenktem Kopf. Die Kälte spürte er nicht mehr.

Sich an Leona zu erinnern hieß irgendwie auch, sich an die Augen seiner Mutter zu erinnern, den Zorn seines Vaters, die Schönheit seiner Schwester. Hieß, sich an die Straßen von Harlem zu erinnern, die Jungs auf den Eingangsstufen, die Mädchen hinter den Feuertreppen und auf den Dächern, an den weißen Polizisten, der ihn das Hassen gelehrt hatte, die Stickball-Spiele auf der Straße, die Frauen, die im Fensterrahmen lehnten, die Zahlen, auf die sie täglich tippten in der Hoffnung auf jenen Jackpot, den sein Vater nie geknackt hatte. Hieß, sich an die Jukebox zu erinnern, das Flirten, das Tanzen, den Steifen, Gangfights und Orgien, sein erstes Schlagzeug - ein Geschenk seines Vaters -, seinen ersten Zug Marihuana, seine erste Nase Heroin. Ja: und an die Jungs, die zu weit gegangen waren und sich auf den Stufen ein Klappmesser einfingen, an den einen, der auf dem schneebedeckten Dach an einer Überdosis starb. Es hieß, sich an den Beat zu erinnern: Ein Nigger, sagte sein Vater, lebt sein ganzes Leben nach einem Beat, lebt und stirbt nach diesem Beat, Scheiße, fickt nach diesem Beat, und das Baby, das er da reinschießt, das hüpft danach, und neun Monate später kommt es raus wie ein verdammtes Tamburin. Der Beat: Hände, Füße, Tamburin, Drums, Piano, Lachen, Fluchen, Rasierklingen; der Mann wird hart mit einem Lachen, einem Brummen, einem Schnurren, die Frau wird feucht und weich mit einem Flüstern, einem Seufzen, einem Schrei. Der Beat - im Sommer konnte man ihn fast sehen in Harlem, über dem Asphalt, über den Dächern.

Rufus war vor diesem Beat geflohen, so dachte er, vor dem Beat von Harlem, der doch nur der Schlag seines eigenen Herzens war. In die Rekrutenausbildung im Süden und raus aufs offene Meer.

Noch während seiner Zeit in der Navy hatte er Ida von einer seiner Reisen einen indischen Schal mitgebracht. Er hatte ihn irgendwo in England gekauft. An dem Tag, als er ihn ihr gab und sie ihn anprobierte, rührte sich etwas in ihm: Noch nie hatte er die Schönheit schwarzer Menschen wahrgenommen. Doch als Ida vor diesem Küchenfenster in Harlem stand und er in ihr nicht mehr nur die kleine Schwester sah, sondern ein Mädchen, das bald schon zur Frau würde, verschmolz sie mit den Farben des Schals, den Farben der Sonne, mit einem Glanz, der so unermesslich viel älter war als der graue Stein jener Insel, auf der sie geboren waren. Vielleicht würde dieser Glanz eines Tages in die Welt zurückkehren, in die Welt, die sie kannten. Vor Ewigkeiten war Ida nicht bloß ein Abkömmling von Sklaven gewesen. In ihrem dunklen Gesicht, von der Sonne beschienen und von dem prachtvollen Schal sanft beschattet, erkannte er jetzt, dass sie einst eine Herrscherin gewesen war. Er sah aus dem Fenster, in den Luftschacht, und dachte plötzlich an die Huren der Seventh Avenue. Er dachte an die weißen Polizisten und das Geld, das sie mit schwarzem Fleisch verdienten, das Geld, das die ganze Welt verdiente.

Er sah wieder seine Schwester an. Lächelnd drehte sie an ihrem schlanken kleinen Finger den rubinäugigen Schlangenring, den er ihr von einer anderen Reise mitgebracht hatte.

»Wenn du so weitermachst«, sagte sie, »bin ich bald das bestgekleidete Mädchen vom...
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Autor

James Baldwin, 1924 geboren, ist einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller. Sein bereits zu Lebzeiten vielfach ausgezeichnetes Werk umfasst Essays, Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Er starb 1987 in Südfrankreich.