Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

ARMUT

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am10.05.2021
Arm sein ist keine Schande - oder doch?
Über die »Unterschicht« wird dieser Tage mal wieder viel geredet. »Abgehängt«, »ausgegrenzt«, »chancenlos« sind die Stichworte der Debatte. Aber wie so oft kommen die Betroffenen dabei gar nicht selbst zu Wort. Der Rapper, Aktivist und Autor Darren McGarvey ist selbst in einem der berüchtigten Sozialbunker im Armenviertel von Glasgow aufgewachsen. Für ihn bedeutet Armut in erster Linie: Stress! Er dreht den Spieß um und schreibt sich vom Leib, was seit langem in ihm gärt: Ein wütendes und gleichzeitig erstaunlich hellsichtiges und leidenschaftliches Buch darüber, was es bedeutet, arm zu sein. Ein Buch, das den Blick auf unser Zusammenleben radikal verändert.

Darren McGarvey, auch bekannt unter seinem Künstlernamen »Loki«, ist Autor, Kolumnist und Rapper. Er wuchs in Pollock am südlichen Rand Glasgows auf. 2015 wurde er »Rapper-in-Residence« in einem Programm der schottischen Polizei zur Gewaltprävention. »Armut« ist sein erstes Buch, war auf Anhieb Sunday Times Top Ten Bestseller und wurde mit dem Orwell Prize 2018 ausgezeichnet.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextArm sein ist keine Schande - oder doch?
Über die »Unterschicht« wird dieser Tage mal wieder viel geredet. »Abgehängt«, »ausgegrenzt«, »chancenlos« sind die Stichworte der Debatte. Aber wie so oft kommen die Betroffenen dabei gar nicht selbst zu Wort. Der Rapper, Aktivist und Autor Darren McGarvey ist selbst in einem der berüchtigten Sozialbunker im Armenviertel von Glasgow aufgewachsen. Für ihn bedeutet Armut in erster Linie: Stress! Er dreht den Spieß um und schreibt sich vom Leib, was seit langem in ihm gärt: Ein wütendes und gleichzeitig erstaunlich hellsichtiges und leidenschaftliches Buch darüber, was es bedeutet, arm zu sein. Ein Buch, das den Blick auf unser Zusammenleben radikal verändert.

Darren McGarvey, auch bekannt unter seinem Künstlernamen »Loki«, ist Autor, Kolumnist und Rapper. Er wuchs in Pollock am südlichen Rand Glasgows auf. 2015 wurde er »Rapper-in-Residence« in einem Programm der schottischen Polizei zur Gewaltprävention. »Armut« ist sein erstes Buch, war auf Anhieb Sunday Times Top Ten Bestseller und wurde mit dem Orwell Prize 2018 ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641277949
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum10.05.2021
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1328 Kbytes
Artikel-Nr.5425119
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1

Schuld und Sühne

Die Frauen betreten im Gänsemarsch, in lila Jacken und grauen Jogginghosen das Zentrum für Darstellende Kunst. Man sollte bei der Begrüßung sicher auftreten, den Augenkontakt suchen und die Hand anbieten, bei Zurückweisung aber nicht brüskiert reagieren. Als die Letzte aus einer Gruppe von fünf Frauen den Saal betritt, wird hinter ihr die Tür von genau dem großen, stämmigen Mann in Uniform geschlossen, der sie Augenblicke zuvor herbegleitet hat. Nachdem er sich überzeugt hat, dass der Raum gesichert ist, verschwindet er zu seinem Kollegen in den Kontrollraum auf der Rückseite, und ich bitte die Frauen zu einem Stuhlkreis, der vor einer schwarzen Flipchart aufgestellt ist.

Das Zentrum für Darstellende Kunst, tief im Herzen des Gefängnisses, ist ein Anblick, den man so schnell nicht vergisst. Mit einer voll funktionierenden Theaterbühne, einem Probenraum und einem allgemeinen Veranstaltungssaal kann das Zentrum für Workshops, Seminare und Filmaufführungen genutzt werden. Der Raum ist kühl und dunkel, was einem beim ersten Betreten sofort auffällt, da er damit in starkem Kontrast zum Rest des Komplexes steht, der, je nach Aufenthaltsort, grau oder weiß ist. In einer Ecke wartet eine Auswahl von Musikinstrumenten, wobei die akustische Gitarre das beliebteste ist. Über der kleinen erhöhten Bühne in der Mitte der Stirnseite des Saals hängt eine bescheidene Beleuchtungstraverse über einer Tonanlage mit mehreren Lautsprechern. Die technische Ausstattung ist besser, als ich sie aus den meisten öffentlichen Einrichtungen kenne. Normalerweise müsste man eine Ausrüstung von dieser Qualität mieten, was hier drinnen aus offensichtlichen Gründen aber unpraktisch ist; wenn man das Gefängnis am Haupteingang betritt, hat man das Gefühl, man müsste durch den Zoll. Das Personal, das hier arbeitet, durchläuft diese Sicherheitskontrolle jeden Tag beim Kommen und Gehen. Für Freischaffende wie mich ist allein diese Erfahrung furchteinflößend - vor allem, wenn man schon mal Schwierigkeiten mit der Polizei hatte oder vor einem Gericht stand. Wenn man dann im Zentrum für Darstellende Kunst ankommt, spürt man, wie die Anspannung von einem abfällt, die in dieser bedrückenden und potentiell feindseligen Umgebung herrscht; man muss allerdings auch sagen, dass man nur einige wenige Besuche in schneller Folge braucht, bis man sich eingewöhnt hat und das Procedere als normal empfindet.

Ich vermute, dass sich viele der Frauen nur deshalb für den heutigen Rap-Workshop gemeldet haben, um herkommen zu können. Im Kontext des Gefängnisses ist das Zentrum für Darstellende Kunst fast wie eine Oase, und wenn es der einzige Ort wäre, den man in dieser Einrichtung besucht, würde man wohl bezweifeln, überhaupt in einem Gefängnis gewesen zu sein.

Nach ein wenig Smalltalk, der aus allgemeinen Bemerkungen über die Örtlichkeit besteht, versuche ich, mit dem Workshop zu beginnen, obwohl ich gestehen muss, dass ich nervös bin.

»Was glaubt ihr, warum ich hier bin?«, frage ich. In anderen Situationen ist diese Frage meiner Erfahrung nach eine effektive Eröffnung, denn obwohl sie vage und fast ein wenig einfach wirkt, erfüllt sie mehrere wichtige Aufgaben. Zum Beispiel nimmt die Frage mich sofort aus der Pflicht, weitersprechen zu müssen, was mir angenehm ist, denn ich bin schlecht vorbereitet. Oder genauer gesagt, ich habe unterschätzt, wie unsicher ich bin, sobald ich mich im Fokus eines mir unbekannten Publikums wiederfinde.

Die Frage »Warum bin ich hier?« bringt mir ein paar Minuten, um mich zu orientieren und meine Nerven zu beruhigen. Doch sie dient auch noch einem anderen Zweck, soll nicht allein meine Haut retten. Die Frage »Warum bin ich hier?« wird die Leute beschäftigen und das Potential für weitere Interaktionen schaffen, die mir dabei helfen, die Teilnehmer schneller kennenzulernen. Durch die Beobachtung ihrer Reaktionen werde ich die verschiedenen Persönlichkeitstypen, ihre Begabungen, kommunikativen Fähigkeiten und Lernstrukturen besser einschätzen können und ein Gefühl für die Hierarchie innerhalb der Gruppe bekommen. Ihre Antworten und Reaktionen helfen mir herauszufinden, welche Erwartungen sie an mich haben - wenn überhaupt.

Die Einrichtung ist eine Anstalt für junge Straftäter und ursprünglich für ungefähr 830 männliche Insassen geplant gewesen, auch wenn die tatsächliche Zahl der Insassen höher ist. Die meisten Insassen sind zwischen 16 und 21 Jahren alt. Die Insassen, von Profis auch JS, jugendliche Straffällige, genannt, werden abhängig vom Alter und der Art ihres Verbrechens in Gruppen unterteilt. Ein Teil der Insassen sind Untersuchungsgefangene, was bedeutet, dass sie erst noch vor Gericht erscheinen müssen, um abgeurteilt zu werden, ihre Freilassung auf Kaution jedoch von einem Richter abgelehnt wurde. Diese Gruppe ist gekennzeichnet durch ein andersfarbiges T-Shirt, das normalerweise rot ist. Alle anderen tragen Dunkelblau. Dann gibt es noch die Sexualstraftäter, die, zusammen mit denen in »Schutzhaft«, vom Rest der Insassen abgetrennt sind. Die Schutzhäftlinge sind zu ihrer eigenen Sicherheit in diesem abgesonderten Bereich. Hintergrund ist meist, dass gegen sie eine Drohung ausgesprochen wurde oder sie sich in Gefahr glauben oder sie als »Petzer« gebrandmarkt wurden. Unterschiedliche Leute sind aus verschiedenen Gründen in Schutzhaft, aber weil sie mit den Sexualstraftätern im weiteren Sinne in einen Topf geworfen werden, betrachtet man sie alle als »Triebtäter«, »Pädos« oder »Perverslinge«. Hier drinnen unterscheidet man nicht zwischen Petzen und Sexualstraftätern. Für viele der jungen Männer ist das »Nicht-Petzen« die Grundlage ihres moralischen Kompasses. Für einige ist kein Verbrechen so schändlich wie die Informationsweitergabe an die Polizei.

Das ständige Anwachsen der Gefängnispopulation hat einen Platzmangel zur Folge, der bedeutet, dass viele junge Männer, die nur kurze Strafen wegen geringfügiger Vergehen wie etwa Drogenbesitz oder Ladendiebstahl abzusitzen haben, in denselben Trakten leben wie die schweren Gewaltverbrecher, von denen viele lange Haftstrafen wegen Mordes - oder eines missglückten Mordversuchs - verbüßen. Die Auswirkung dieser Kreuzbestäubung zwischen gewalttätigen und nicht gewalttätigen Verbrechern ist ganz einfach eine Erhöhung des Gewaltpotentials, das in jedem Winkel des Gefängnisses ohnehin beachtlich ist. Komischerweise sind die Sexualstraftäter die am wenigsten aggressive und zudem kooperativste Gruppe; der Kontrast zwischen ihnen und allen anderen ist verblüffend.

In dieser Umgebung kann der geringfügigste Streit schnell eskalieren. Eigentlich gedacht als Ort der Rehabilitation - wie auch der Strafe -, ist das Gefängnis der brutalste Ort in der Gesellschaft. Die Gewalt ist so deutlich zu spüren, dass man an diesem Ort nicht lange wohnen kann, ohne auf die eine oder andere Art verändert oder deformiert zu werden, und das ist der Grund, warum die Leute sich sehr schnell an die Gewalt gewöhnen. Einige gewöhnen sich daran, indem sie selbst aggressiv oder gewalttätig werden, andere indem sie Drogen wie Valium, Heroin oder in jüngster Zeit auch Spice konsumieren. Dabei ist die Allgegenwart der Gewalt für den Gefangenen nicht so erschreckend wie für jene, die nur gelegentlich zu Besuch kommen. Diese beängstigende Pulverfassatmosphäre spiegelt sich in den Familien und Haushalten wider, in denen viele der Gefangenen aufwuchsen und in denen die Gewalttaten so häufig sind, dass man abstumpft und über die entsprechenden Vorfälle eher leichthin spricht, fast so wie über das Wetter.

Vor ein paar Monaten wurden jemandem wegen eines Streits um eine Scheibe Toast das Gesicht aufgeschlitzt. In diesem feindseligen sozialen Klima ist Gewalt nicht nur eine praktische Machtdemonstration, sondern auch eine Form der Kommunikation. Wird jemand dabei ertappt, wie er einer Konfrontation aus dem Weg geht, wird sich derjenige mit weiteren Bedrohungen und Angriffen vonseiten der Personen konfrontiert sehen, die seine Verwundbarkeit spüren. Jemandem wegen einer Scheibe Toast das Gesicht aufzuschlitzen, mag brutal, hirnlos und barbarisch erscheinen, aber in verquerer Weise kann eine solche Tat auch der Versuch sein, das Risiko von Gewalt gegen einen selbst zu reduzieren. Niemand legt sich mit jemandem an, der einen anderen allein wegen einer Scheibe Toast aufschlitzt, und bei dieser Argumentation, die in einem gewalttätigen Umfeld pathologisch ist, geht es sowohl ums Überleben wie um den eigenen Stolz oder Ruf. Im Grunde genommen sind Stolz und Draufgängertum oft nur eine soziale Erweiterung des Überlebensinstinkts. Ungeachtet des Kontexts der Gewalt ist ihre Funktion oft dieselbe: Sie ist nicht nur praktisch, sondern zugleich performativ und dazu gedacht, potentielle Aggressoren abzuwehren und eine direkte Drohung zu eliminieren. Nicht jeder, der hierherkommt, ist gewalttätig, aber es ist schwer, nach der Ankunft nicht in die Kultur der Gewalt hineingezogen zu werden. Oft ist es so, dass Leute das Gefängnis viel gewalttätiger verlassen, als sie es betreten haben. Dies trifft auch auf die Drogenprobleme zu, die oft eskalieren, sobald die Realität des Gefängnislebens sich bemerkbar macht.

Im Allgemeinen sind Frauen weniger gewalttätig. Die Gruppe, mit der ich mich an diesem Vormittag traf, war erst kürzlich herverlegt worden, nach der Schließung von Schottlands einzigem Frauengefängnis, Cornton Vale. Das Gefängnis hatte pro Jahr 12 Millionen Pfund gekostet und etwa 400 weibliche Gefangene und junge Straftäterinnen beherbergt. 2006 hatten 98 Prozent der Insassen in Cornton Vale Suchtprobleme; 80 Prozent litten an...

mehr

Autor

Darren McGarvey, auch bekannt unter seinem Künstlernamen »Loki«, ist Autor, Kolumnist und Rapper. Er wuchs in Pollock am südlichen Rand Glasgows auf. 2015 wurde er »Rapper-in-Residence« in einem Programm der schottischen Polizei zur Gewaltprävention. »Armut« ist sein erstes Buch, war auf Anhieb Sunday Times Top Ten Bestseller und wurde mit dem Orwell Prize 2018 ausgezeichnet.