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Die Farbe des Nordwinds

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
416 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am08.03.2021
Wenn die Suche nach der Heimat zur Suche nach dir selbst wird
Als Ellen mit Anfang dreißig vor einem Scherbenhaufen steht, der einmal ihr Leben war, beschließt sie, einen Neuanfang zu wagen. Sie kehrt zurück an den einzigen Ort, an dem sie sich je zuhause gefühlt hat: auf die Halligen. Hier, zwischen rauen Klippen, weitem Horizont und böigem Wind will sie in die Fußstapfen von Arjen Martensen treten, der im 19. Jahrhundert eine Chronik über diesen magischen Ort verfasst hat. Schon als Kind hat sie dieses Buch verschlungen, das ihr in dunklen Stunden ein treuer Begleiter war. Von Martensens Geschichte inspiriert, versucht Ellen ihrem Leben wieder einen Sinn zu geben. Dabei trifft sie auf den verwitweten Tischler Jakob, der sich vor der Welt versteckt und auf Ellen eine ganz besondere Faszination ausübt.

Klara Jahn ist das Pseudonym einer bekannten Bestsellerautorin. Die Historikerin liebt es, große Geschichten zu erzählen und dabei tief in die Geschichte der Orte und Menschen einzutauchen. Dabei lässt sie sich von ihrer Liebe zur Natur und ihrer Faszination für raue Landschaften leiten. Die gebürtige Österreicherin und Mutter einer Tochter lebt seit 2001 in Frankfurt am Main.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextWenn die Suche nach der Heimat zur Suche nach dir selbst wird
Als Ellen mit Anfang dreißig vor einem Scherbenhaufen steht, der einmal ihr Leben war, beschließt sie, einen Neuanfang zu wagen. Sie kehrt zurück an den einzigen Ort, an dem sie sich je zuhause gefühlt hat: auf die Halligen. Hier, zwischen rauen Klippen, weitem Horizont und böigem Wind will sie in die Fußstapfen von Arjen Martensen treten, der im 19. Jahrhundert eine Chronik über diesen magischen Ort verfasst hat. Schon als Kind hat sie dieses Buch verschlungen, das ihr in dunklen Stunden ein treuer Begleiter war. Von Martensens Geschichte inspiriert, versucht Ellen ihrem Leben wieder einen Sinn zu geben. Dabei trifft sie auf den verwitweten Tischler Jakob, der sich vor der Welt versteckt und auf Ellen eine ganz besondere Faszination ausübt.

Klara Jahn ist das Pseudonym einer bekannten Bestsellerautorin. Die Historikerin liebt es, große Geschichten zu erzählen und dabei tief in die Geschichte der Orte und Menschen einzutauchen. Dabei lässt sie sich von ihrer Liebe zur Natur und ihrer Faszination für raue Landschaften leiten. Die gebürtige Österreicherin und Mutter einer Tochter lebt seit 2001 in Frankfurt am Main.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641265519
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum08.03.2021
Seiten416 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1593 Kbytes
Artikel-Nr.5425271
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



DAMALS

Die alten Friesen glaubten, dass die Kinder aus der Tiefe des Meeres kommen und die Eltern sie aus den Fluten ziehen. Meine Eltern Marten und Kaatje Nilson glaubten das nicht. Sie dachten, dass Gott ihnen am 4. November 1798 einen Sohn geschenkt hatte, so stand es in der Familienchronik.

Sie ließen mich auf den Namen meines Großvaters taufen, am dritten Tag nach der Geburt, nicht in der Kirche, dort war es zu kalt und feucht, sondern in der Dönse, der Wohnstube. Ich trug eine rote Windel, die mit einem ebenfalls roten Band kreuzweise zugebunden wurde, wie es ein alter Brauch will, und die Nachbarn kamen zur Kindskiek, zur Schau des Kindes. Sie brachten warmes Essen mit und vier Eier. Die vier Eier wurden nicht in den Graupenbrei gerührt, sondern einer unserer Hennen ins Nest gelegt, auf dass sie sie ausbrütete.

Würden alle Küken schlüpfen, wäre es ein gutes Zeichen gewesen, schlüpfte keines, ein schlechtes. Bei mir waren es zwei von vier Eiern, deren Schalen am Ende aufsprangen und ein feuchtes, klumpiges, fedriges Bündel preisgaben. Meine Eltern waren damit zufrieden. Zwei und zwei, das passt in eine Welt, die aus Himmel und Erde, Ebbe und Flut, Tag und Nacht besteht. Ein Leben, in dem Freude und Leid einander aufwiegen, war für sie ein rechtes.

Das nächste Kind, mit dem Gott sie erfreute, starb; das übernächste, mein kleiner Bruder Hendrik, lebte. Mit ihm kam ein Mädchen aus dem Mutterleib, das nur ein einziges Mal schrie. Wenn ich mich an diesen Schrei erinnere, glaube ich stets das Gackern jener Henne zu hören, die die Eier für meinen Bruder ausbrütete. Das Mädchen bekam keine, es wurde keine drei Tage alt.

Zwei Kinder, die lebten, und zwei, die starben. Das war ein rechtes Leben.

Ein rechtes Leben bestand aus den immer gleichen Pflichten, zur festgelegten Zeit ausgeführt.

Am Morgen mussten die Tiere gefüttert und der Stall gereinigt werden, der sich im nördlichen Teil des Hauses an die Wohnräume anschloss. Streu gab es keines, Heu war immer knapp. Danach wurden aus Dünengras Stricke gedreht, später die Kühe daran auf die Weide geführt, auf der Hallig heißt die Weide Fenne. Manche Pflichten packte man erst nach dem Mittagsmahl an. Von klein auf sammelte ich Muschelschalen, die an die Kalkbrennereien von Tondern verkauft wurden, oder um die weichen Marschwege in mühsamer Kleinarbeit zu bestreuen. Manchmal sammelten wir auch Strandgut, das aus den Tiefen des Meeres kam wie die neugeborenen Kinder. Dauben von Fässern, Deckel von Seemannstruhen, zerfledderte Stiefel, rissige Taue. Die schweren Sachen schleppten die Männer, die leichteren die Frauen und Kinder. Bei vielem, was die See ausspuckte, wusste ich nicht, wozu man es gebrauchen könnte. Ich wusste ja auch nicht, wozu man meinen kleinen Bruder Hendrik gebrauchen könnte, der unentwegt mit rotem Kopf schrie. Doch mein Vater war geschickt. Er verstand es, aus einem mächtigen Rundholz, das einst Teil eines Schiffsrumpfs gewesen war, einen Deckenbalken zu zimmern.

Es gab Pflichten, die nicht jeden Tag zu erfüllen waren, sondern zu einer bestimmten Jahreszeit. Im Mai wurden die Schafe geschoren, ihr Vlies im Meerwasser gewaschen. Die Lämmer, die jene Schafe geboren und gesäugt hatten, wurden im Juni verkauft, die Milch sodann zu einem würzigen Käse verarbeitet, der umso besser schmeckte, je gelber und salziger er war.

Bis zum Ende des gleichen Monats sammelten wir die Eier von Seeschwalben und Austernfischern. Fanden wir mehr, als wir tragen konnten, ritzten wir mit einem Stock ein Kreuz in die Erde vor dem Nest. Jeder wusste dann: Dieses Ei gehört einem anderen.

Erst viel später, in den langen Regennächten, mit denen sich der Herbst ankündigte, zogen wir aus, um Ringelgänse zu erschlagen. Mit viel Glück trafen wir die Gänse an, solange sie noch schliefen. Einmal erwachte eine, als ich mit meinem dicken Stock in der Faust auf sie zutrat, fuhr schnatternd hoch und biss mich in die Wade. Es war recht von ihr, um ihr Leben zu kämpfen, erklärte mein Vater, der keine Tränen sehen wollte. So wie es recht von uns war, sie zu erschlagen.

Noch später im Jahr wurde Seetorf gestochen, um daraus Salz zu gewinnen. Das weiße Gold nannte man es, was ich lange nicht verstand, weil ich nicht wusste, welche Farbe das echte Gold hat. Die Salzsieder begannen am Jakobitag im Februar mit dem Salzkochen, und wenn der Frühling nahte, brachten Salzschuten es ans Festland. Nur ein Teil davon blieb hier, um damit Fische einzureiben. Das weiße Gold machte die Hände meiner Mutter rot. Sie sang beim Einsalzen, der Vater wollte auch bei ihr keine Tränen sehen.

Einmal im Jahr weinte meine Mutter doch, und mein Vater konnte es nicht mit strengem Blick verhindern. Wenn sie in Tränen ausbrach, war er nicht mehr hier, sondern auf seinem Schiff. Auf einem Boot fing man nur Fische. Auf einem Schiff jedoch fing man Wale und Robben. Die Halligmänner reisten weit in den Norden, in eine Welt, die aus Eis bestand. Eis, das auf dem Wasser trieb, Eis, aus dem man Häuser baute, Eis, mit dem man Gruben füllte, um Fleisch frisch zu halten. Am Vorabend des Petrifests brachen die Männer auf, die jüngsten unter ihnen gerade vierzehn Jahre alt.

Sei stark, sagte Vater stets, bevor er ging. Doch für kurze Zeit war meine Mutter nicht stark, Tränen der Verzagtheit perlten über ihre Wangen. Dann wischte sie sich die Wangen ab, wurde wieder die Alte, tat, was getan werden musste, Tag für Tag, Monat für Monat, ob mit den Männern oder ohne. Sie molk die Rinder, suchte bei Ebbe auf dem schlickigen Grund des Meeres nach Muscheln, trieb die Schafe in den Stall, wenn das Wasser höher stieg, sie wuchtete Steine dorthin, wo das Wasser das Ufer zu zerreißen drohte.

Meine Mutter beugte sich der Ordnung.

Lange Zeit dachte ich, das Meer täte es auch. Lange Zeit stellte ich mir das Meer wie einen Halligmann vor, stolz und maulfaul, stur und zäh - aber demütig. Gewiss, das Meer veränderte sich oft. Manchmal war sein Atem rau und kalt, manchmal fischig-faulig. Es hatte viele Farben: ein funkelndes Grün, ein abgründiges Schwarz, ein verwaschenes Grau, ein eisiges Blau.

Was gleich blieb, war, dass es sich den Gesetzen von Ebbe und Flut beugte, so wie mein Vater wusste, wann er in den Norden aufbrechen musste, meine Mutter wusste, wann sie sich die Tränen abzuwischen hatte, unsere Hühner, wann sie Eier zu legen hatten.

Doch das Meer konnte so frech sein wie mein kleiner Bruder. Hendrik schluckte manchmal beim Krabbenpulen das rohe Fleisch, und wenn Mutter warnte, er werde Bauchschmerzen kriegen, aß er noch mehr davon. Manchmal legte er die leeren Schalen auf einen Stuhl, und wenn sich jemand daraufsetzte, knackte es. Das Meer, willensstark, trotzig, unbeugsam, tat nur so, als würde es sich an eine Ordnung halten, indem es verlässlich anstieg und sich wieder zurückzog. Im vierzehnten Jahr meines Lebens erlaubte es sich einen Spaß.

Das Meer neckte meinen Vater. Das Schlimmste ist geschafft, neckte es ihn, du bist heil vom Norden zurück. Du bist dort nicht von Eis eingeschlossen worden und verhungert, du bist nicht gefangen genommen und als Sklave in Algier verkauft worden, du bist schon westlich von Amrum, unweit vom Kniepsand, du kannst sie schon fast sehen, die Frau im weißen Kleid, die am Ufer steht und dir zuwinkt. Doch es ist keine Frau, es ist eine Wolke, und die Wolke ist nicht weiß, sondern schwarz.

Der Wind trieb das Schiff meines Vaters nicht näher an den heimatlichen Hafen, er trieb es zurück ins offene Meer, und das Meer riss das Maul auf und verschluckte das Schiff mitsamt den Menschen darauf. Das Holz spuckte es wieder aus, spülte die Trümmer ans Land. Auch die Menschen spuckte es wieder aus, da waren es jedoch schon keine Menschen mehr, sondern Leichname. Die Farbe des Todes war von jenem Blau, wie es schimmelige Brotecken haben. Man fand nicht alle Leichname, der meines Vaters blieb verschwunden.

Meine Mutter träumte von diesem Leichnam. Bevor wir die Nachricht von dem Unglück erhielten, erschien er nachts an ihrem Bett, legte sich auf sie und presste alle Freude aus ihr heraus. Hinterher hatte sich eine Pfütze unter dem Bett gebildet. War das die Freude?, fragte ich mich. Oder hatte es vom nassen Leib des Leichnams getropft?

Ich wischte die Pfütze auf, meine Mutter konnte es nicht tun. Wir müssen ihn begraben, sagte sie.

Es gibt nichts zu begraben.

Warum sonst haben wir einen Sarg?

In jedem Haushalt gab es einen Sarg. Holz war auf der Hallig ein kostbares Gut, wenn man einmal welches hatte, machte man sogleich einen Sarg daraus. Man konnte jederzeit einen brauchen, weil Kinder in den Prielen ersoffen oder Frauen im Kindsbett verbluteten und die Alten nie lange siechten. Ich habe noch vage Erinnerungen an meinen Großvater, der über Wochen Blut spuckte, sich in dieser Zeit jeden Mittag in den Sarg bettete und ein Nickerchen machte - um sich daran zu gewöhnen und weil es der trockenste und wärmste Ort im Haus war.

Nachdem wir ihn begraben hatten, hatte mein Vater einen neuen Sarg gezimmert. Den hievten die Mutter und wir Kinder nun vom Dachboden herunter und hin zur Kirche, an einem Dienstag, denn die Ordnung verlangte, dass die Toten an Dienstagen oder an Freitagen begraben wurden. Ob das auch für leere Särge galt, bezweifelte ich, Mutter aber bestand darauf. Alle Nachbarn, die herbeikamen, neigten ihre Köpfe. Der leere Sarg wurde in der Erde versenkt, und in unserem Haus wurde Warmbier aus Gerste und viel Zucker gereicht. Auf das Grab kam ein Grabstein, darauf stand der Name meines Vaters und bereits der meiner Mutter, außerdem ein Spruch:

Die Schifffahrt dieser Welt bringt Angst,...

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Autor

Klara Jahn ist das Pseudonym einer bekannten Bestsellerautorin. Die Historikerin liebt es, große Geschichten zu erzählen und dabei tief in die Geschichte der Orte und Menschen einzutauchen. Dabei lässt sie sich von ihrer Liebe zur Natur und ihrer Faszination für raue Landschaften leiten. Die gebürtige Österreicherin und Mutter einer Tochter lebt seit 2001 in Frankfurt am Main.