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Die Verlassenen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
176 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am01.03.2021
Kein Mensch ist vor den Momenten sicher, die alles von Grund auf ändern
Johannes blickt zurück auf eine ostdeutsche Kindheit, die von feinen Rissen durchzogen war. Der frühe Tod seiner Mutter, das rätselhafte Verschwinden seines Vaters. All seine Fragen dazu blieben unbeantwortet, weshalb er noch als Erwachsener vorsichtig tastend durchs Leben geht. Als Johannes in einer alten Kiste auf einen Brief stößt, verändert dieser Fund nicht nur seine Zukunft, sondern vor allem seine Vergangenheit als Kind der Vorwende-DDR. Seine Erinnerungen sortieren sich neu und mit ihnen sein Blick auf das eigene Leben.
In eindringlicher Dichte und mit kraftvoller Klarheit erzählt Matthias Jügler von Verlust und Verrat, vom Wert des Erinnerns und den drängenden Fragen einer ganzen Generation. Ein warmherziger, leuchtender Roman von außergewöhnlicher sprachlicher Intensität.
»?Die Verlassenen? erscheint als ein berückendes, als ein tiefschwarzes Zeugnis ostdeutscher Erinnerungskultur und darin als eines der besten Bücher dieses Literaturfrühlings.« Deutschlandfunk, Büchermarkt, Jan Drees

Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte Skandinavistik und Kunstgeschichte in Greifswald sowie Oslo und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sowohl für seinen Debütroman »Raubfischen« (2015) als auch für seinen Roman »Die Verlassenen« (2021) wurde er mehrfach ausgezeichnet, 2022 erhielt er den Klopstock-Preis für Literatur des Landes Sachsen-Anhalt. 2023 ist Jügler Stadtschreiber von Halle. Er lebt mit seiner Familie in Leipzig, wo er auch als freier Lektor arbeitet.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR18,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextKein Mensch ist vor den Momenten sicher, die alles von Grund auf ändern
Johannes blickt zurück auf eine ostdeutsche Kindheit, die von feinen Rissen durchzogen war. Der frühe Tod seiner Mutter, das rätselhafte Verschwinden seines Vaters. All seine Fragen dazu blieben unbeantwortet, weshalb er noch als Erwachsener vorsichtig tastend durchs Leben geht. Als Johannes in einer alten Kiste auf einen Brief stößt, verändert dieser Fund nicht nur seine Zukunft, sondern vor allem seine Vergangenheit als Kind der Vorwende-DDR. Seine Erinnerungen sortieren sich neu und mit ihnen sein Blick auf das eigene Leben.
In eindringlicher Dichte und mit kraftvoller Klarheit erzählt Matthias Jügler von Verlust und Verrat, vom Wert des Erinnerns und den drängenden Fragen einer ganzen Generation. Ein warmherziger, leuchtender Roman von außergewöhnlicher sprachlicher Intensität.
»?Die Verlassenen? erscheint als ein berückendes, als ein tiefschwarzes Zeugnis ostdeutscher Erinnerungskultur und darin als eines der besten Bücher dieses Literaturfrühlings.« Deutschlandfunk, Büchermarkt, Jan Drees

Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte Skandinavistik und Kunstgeschichte in Greifswald sowie Oslo und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sowohl für seinen Debütroman »Raubfischen« (2015) als auch für seinen Roman »Die Verlassenen« (2021) wurde er mehrfach ausgezeichnet, 2022 erhielt er den Klopstock-Preis für Literatur des Landes Sachsen-Anhalt. 2023 ist Jügler Stadtschreiber von Halle. Er lebt mit seiner Familie in Leipzig, wo er auch als freier Lektor arbeitet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641266585
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum01.03.2021
Seiten176 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse5165 Kbytes
Artikel-Nr.5425316
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Das letzte Mal habe ich meinen Vater im Juni 1994 gesehen. Der dreizehnte Juni war ein Montag, daran erinnere ich mich genau. Wir saßen in unserem Garten und frühstückten. Vater hatte für jeden ein Ei gekocht, dazu gab es aufgebackene Brötchen, Schinken, Käse, drei Gläser mit Marmelade und geräucherten Lachs.

»Wer soll das denn alles essen?«, fragte ich, denn für gewöhnlich aß ich morgens nicht mehr als ein Brötchen und gab mich mit etwas Butter und einer Scheibe Käse zufrieden. Vater überlegte nicht lange, hielt mir den Teller mit den Lachsstreifen unter die Nase und sagte: »Du, wer sonst?«

Nach dem Frühstück legte er sich auf die Hollywoodschaukel und rief mich zu sich. Ich hatte damit gerechnet, dass wir nun endlich losfahren würden, damit ich noch halbwegs rechtzeitig in die Schule käme. Aber er machte nicht den Eindruck, gleich losfahren zu wollen. Schon während des Frühstücks hatte ich ihm gesagt, dass wir uns beeilen sollten, weil ich noch meine Schulsachen von zu Hause holen müsse und ich sonst zu spät kommen würde.

Seit ein paar Wochen wollte ich unbedingt Meeresbiologe werden. Ich hatte eine Dokumentation über einen holländischen Meeresbiologen gesehen, der erzählte, wie sehr er es genoss, so viel unterwegs zu sein, dass er die beste Arbeit habe, die er sich denken könne, und mit niemandem tauschen würde. Nachdem die Dokumentation zu Ende war, ging ich zu Vater in die Küche und erzählte ihm, dass ich später gerne Meeresbiologe werden möchte. Schon oft hatte er mich gefragt, ob ich wisse, was ich später arbeiten möchte, und immer hatte ich mit den Schultern gezuckt.

»Meeresbiologe?«, sagte Vater. Er faltete die Zeitung zusammen und sah mich ernst an. »Dann musst du dich ranhalten und endlich besser in der Schule werden, verstehst du?«

Dass ich besser in der Schule werden müsse, sagte er oft, mindestens einmal die Woche, dabei war ich gar nicht so schlecht. Kein Einserkandidat, aber auch keiner, um den man sich ernsthaft Sorgen machen musste.

Ich sagte, dass ich das wisse, und blieb eine Weile vor ihm stehen. Die letzten Stunden hatte ich ferngesehen, und nun hatte ich Lust, mich mit ihm zu unterhalten, wusste aber nicht, was ich noch sagen sollte. Selten tauschten wir mehr als ein paar Sätze aus. Ich gab mir Mühe, jedes Mal, und auch wenn das, was ich meinem Vater erzählte, in den meisten Fällen wohl langweilig war - immerzu versuchte ich, meinen Vater zum Reden zu bringen. Ein Klassenkamerad hatte mir einmal erzählt, wie sehr es ihn nerve, dass seine Eltern so viele Ausflüge mit ihm machten, und sein Vater sogar auf dem Nintendo mit ihm spielen wollte. Als er fragte, ob mich mein Vater auch so nerve, sagte ich nichts und war froh, dass er nicht weiter darauf einging.

Weil ich nicht sofort zu ihm kam, rief mich Vater ein zweites Mal. Noch immer lag er auf der Hollywoodschaukel, die er in den Achtzigern gebaut hatte und einmal im Jahr neu lackierte, und noch immer schien er nicht begriffen zu haben, dass wir keine Zeit mehr hatten. Er musste arbeiten und ich in die Schule. Ich ging über die Wiese, vorbei am Blumenrondell, in dem Vater ausschließlich Rittersporn gepflanzt hatte, der gerade anfing zu blühen, blau und violett, was uns beiden gefiel. Vater setzte sich, damit ich neben ihm Platz nehmen konnte. Nun schauten wir beide auf den Rittersporn.

»Wunderschön«, sagte er, »das ist wunderschön«, und mir schien, er wollte gar nicht, dass ich ihn verstehe, so leise, wie er sprach. In diesem Moment wurde ich wütend.

»Ich muss zur Schule«, sagte ich, aber es klang gar nicht so wütend, wie ich war, was mich nur noch wütender machte. Also sagte ich es noch einmal, mit mehr Nachdruck, und jetzt musste er einfach hören, wie ernst es mir war. Vater aber ging nicht darauf ein. Er legte einen Arm um mich und begann zu erzählen. Und während er sprach, fiel mir sein herber Geruch auf, den ich mochte, weil er mich an Sommertage in diesem Garten erinnerte, die wir damit verbracht hatten, Unkraut zu zupfen, Radio zu hören, mit den Rädern durch die umliegenden Dörfer zu fahren, um schließlich erschöpft und schweißnass auf dieser Hollywoodschaukel kalte Limonade zu trinken. Während Vater mich also festhielt, erzählte er von Mutter, was er nicht oft machte, vom Schreiben und wie versöhnlich es sein konnte, etwas zu haben in dieser Welt, worin man gut sei, wirklich gut. Vater kam vom Hundertsten ins Tausendste. Ich konnte ihm kaum folgen, manches verstand ich überhaupt nicht.

Bis zum Mittag saßen wir so, und ich war mir sicher, dass Vater an diesem Vormittag so viel geredet hatte, wie sonst in einem Jahr. Mich hatte er nicht zu Wort kommen lassen, aber auch wenn er mich etwas gefragt hätte, anstatt einfach zu erzählen, ich hätte ihm eine Antwort verweigert. Dass ich alles andere als begeistert war, hatte er sicher gemerkt.

Irgendwann hatte ich mich aus seiner Umarmung befreit, hatte immer wieder tief geseufzt und demonstrativ meine Arme verschränkt. Das alles sah er nicht, oder er wollte es nicht sehen. Gegen zwölf stand er auf, holte unsere Sachen aus der Laube und schloss ab. Auf dem Weg zum Auto fragte er mich, ob ich Hunger hätte, und sagte dann: »Gut, gehen wir essen.«

Während der Fahrt legte Vater eines der Kriminalhörspiele ein, von denen er eine ganze Reihe besaß und die wir alle schon kannten. Trotzdem hörten wir sie immer wieder, und das war etwas, auf das ich mich jedes Mal freute, denn diese Stimmen gehörten genauso zur Fahrt in den Garten oder wieder nach Hause wie die Felder ringsherum, das öde Land, die heruntergekommenen Häuser in den Dörfern, die das Pech hatten, von einer Bundesstraße zerteilt zu werden.

Wir fuhren zu einem Chinesen in Ammendorf, aßen und tranken dazu Cola. Ich hatte damit gerechnet, dass Vater auch während des Essens erzählte. Das tat er aber nicht. Wir waren die einzigen Gäste und aßen schweigend, und ich wusste nicht, warum. Ich wusste weder, warum ich an diesem Tag nicht in der Schule war, noch, warum er mich in dieses Restaurant einlud. Das passte nicht zu ihm. Als wir den Nachtisch serviert bekamen, sah ich ihn an. Ich war immer noch wütend. Ich wollte ihn fragen, was mit ihm los war. Aber er kam mir zuvor, er fragte: »Was ist? Schmeckt es dir nicht?« Die Frage machte keinen Sinn, denn ich hatte den Nachtisch noch nicht angerührt, und das merkte nun auch Vater, und wir lachten, obwohl es gar nicht wirklich witzig war, sondern nur ein bisschen - aber es tat gut, jetzt mit ihm zu lachen, und ich merkte, dass meine Wut verflogen war. Auf einmal kam mir meine Frage sonderbar vor. Ich dachte: Was soll denn schon sein mit ihm? Warum nicht einfach mal auf Arbeit und Schule pfeifen und es sich gut gehen lassen? Also sagte ich nichts. Wir aßen auf, dann zahlte er, und wir gingen.

Vater war mir manches Mal seltsam vorgekommen, zum Beispiel wenn er abends nach der Arbeit stundenlang in der Küche saß und nichts weiter machte. Er sah dann aus, als warte er auf jemanden, aber es kam ja niemand. Ging ich an einem solchen Abend in die Küche, begrüßten wir uns, und ich sagte etwas, zum Beispiel: »Ich trinke jetzt Kakao« oder »Ich habe noch Hunger«, weil ich glaubte, mich rechtfertigen zu müssen, und er sagte dann etwas wie: »Ja, warum nicht« oder »Ja, gute Idee«.

Wir hielten vor dem Haus meiner Großmutter, im Süden der Stadt, ein Fünfgeschosser mit viel zu kleinen Fenstern, wie ich fand. Selbst im Sommer musste man das Licht einschalten, so dunkel war Großmutters Wohnung. Sie schien überhaupt nicht verwundert zu sein, uns zu sehen. Sie umarmte erst mich und dann Vater. Ich hatte die Schuhe schon ausgezogen und wartete darauf, dass auch Vater seine Schuhe auszog und wir uns ins Wohnzimmer setzten, wie wir es sonst auch machten, um Kaffee und Kakao zu trinken, ein bisschen fernzusehen und uns zu unterhalten. Aber Vater zog seine Schuhe nicht aus. Er blieb vor der Wohnungstür stehen und sah mich an, auf eine Art, die mir nicht gefiel. Großmutter ging ins Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Komm her«, sagte Vater, der immer noch vor der Tür stand. Als ich bei ihm war, drückte er mich, kurz und fest, dann schob er mich ein Stück zurück und hielt mich an den Schultern. Sein Blick beunruhigte mich, ohne dass ich wusste, warum.

»Mach´s gut, Junge.«

Er ging die Treppen nach unten, und ich hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Im Wohnzimmer lief leise der Fernseher. Ich wartete eine Minute oder vielleicht auch zwei, dabei blickte ich immerzu auf die Fußmatte vor meinen Füßen. Schließlich kam Großmutter aus dem Wohnzimmer. Sie verlor kein Wort über Vaters Abwesenheit, stattdessen hielt sie eine Tüte mit Bonbons in der Hand. Ich hatte bisher zweimal im Krankenhaus gelegen: ein gebrochener Arm, da war ich acht, und eine gebrochene Kniescheibe, nur wenige Monate später. Jedes Mal, wenn Großmutter mich besuchen kam, legte sie mir eine große Tüte mit Bonbons auf das Beistelltischchen, zum Trost, wie sie sagte. Als ich sie nun sah, die Tüte in der Hand, mitleidig ihr Blick, da begriff ich, dass Vater nicht wiederkommen würde. Ich fing an zu weinen. Viel lieber wollte ich wütend sein, auf Vater, so wütend, wie ich es am Vormittag gewesen war. Aber das klappte nicht.

Erst Stunden später beruhigte ich mich etwas. Ich legte mich in Großmutters Bett, bekam eine Scheibe Brot und schließlich eine Handvoll Bonbons gereicht, dann kochte sie mir Tee, die Sorte, die sie trank, um besser schlafen zu können. Ich fragte sie, wo er sei und wann er wiederkomme. Sie sagte, er habe verreisen müssen, aber ganz bald komme er wieder. Sie sah an mir vorbei, als sie das sagte. Dass sie log, war nicht schwer zu...
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Autor

Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle/Saale, studierte Skandinavistik und Kunstgeschichte in Greifswald sowie Oslo und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sowohl für seinen Debütroman »Raubfischen« (2015) als auch für seinen Roman »Die Verlassenen« (2021) wurde er mehrfach ausgezeichnet, 2022 erhielt er den Klopstock-Preis für Literatur des Landes Sachsen-Anhalt. 2023 ist Jügler Stadtschreiber von Halle. Er lebt mit seiner Familie in Leipzig, wo er auch als freier Lektor arbeitet.
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