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Der Schatten meiner Schwester

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am13.09.2021
Henrietta ist eine lebenshungrige junge Frau, die auf einer Farm in den Wäldern New Hampshires aufwächst. Elspeth ist 150 Jahre früher, Mitte des 19. Jahrhunderts, aus Schottland an ebendiesen Ort gekommen. Und doch verbindet die beiden mehr als dieser Zufall. Beide geraten in Konflikt mit den Moralvorstellungen ihrer Zeit. Beide verschwinden aus dem Leben ihrer Familie. Und beide hinterlassen eine schmerzliche Lücke im Leben ihrer jüngeren Schwestern. Diese versuchen zu verstehen, was mit ihrem Geschwister geschehen ist. Denn tief in ihrem Inneren wissen sie, dass sie selbst nicht ganz frei von Schuld sind.

Abi Maxwell zählt zu den interessantesten literarischen Talenten Amerikas. »Der Schatten meiner Schwester« ist ihr zweiter Roman. Für ihr literarisches Debüt »Lake People« wurde Abi Maxwell mit großen Stimmen wie Alice Munro und Marilynne Robinson verglichen. Ihre Kurzgeschichten erschienen in der renommierten Literaturzeitschrift »McSweeney's«. Abi Maxwell lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in New Hampshire.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextHenrietta ist eine lebenshungrige junge Frau, die auf einer Farm in den Wäldern New Hampshires aufwächst. Elspeth ist 150 Jahre früher, Mitte des 19. Jahrhunderts, aus Schottland an ebendiesen Ort gekommen. Und doch verbindet die beiden mehr als dieser Zufall. Beide geraten in Konflikt mit den Moralvorstellungen ihrer Zeit. Beide verschwinden aus dem Leben ihrer Familie. Und beide hinterlassen eine schmerzliche Lücke im Leben ihrer jüngeren Schwestern. Diese versuchen zu verstehen, was mit ihrem Geschwister geschehen ist. Denn tief in ihrem Inneren wissen sie, dass sie selbst nicht ganz frei von Schuld sind.

Abi Maxwell zählt zu den interessantesten literarischen Talenten Amerikas. »Der Schatten meiner Schwester« ist ihr zweiter Roman. Für ihr literarisches Debüt »Lake People« wurde Abi Maxwell mit großen Stimmen wie Alice Munro und Marilynne Robinson verglichen. Ihre Kurzgeschichten erschienen in der renommierten Literaturzeitschrift »McSweeney's«. Abi Maxwell lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in New Hampshire.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641244798
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum13.09.2021
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1446 Kbytes
Artikel-Nr.5425406
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1 | Ende Juni an einem Nachmittag vor fast zwanzig Jahren. Nie wäre mir damals in den Sinn gekommen, meine Schwester könnte verschwinden. Die Sonne stand hoch, Henrietta und ich waren zum ersten Mal auf dem Weg zu Kaus. Mit ihm hatte das alles überhaupt erst angefangen. Wir hatten etwas Geld - woher, weiß ich nicht mehr, zu der Zeit jobbten wir noch nicht als Babysitter -, und weil Sommer war, hatten wir Zeit. Unser Vater war bei der Arbeit, unsere Mutter hatte sich in ihrem Atelier im zweiten Stock eingeschlossen. Niemand hielt uns davon ab, zu dem kleinen Laden zu gehen und Süßigkeiten zu kaufen. Es gab dort auch ein Regal mit Schmuddelheften, deswegen hatte mein Vater uns eigentlich verboten hinzugehen, aber wir scherten uns nicht darum. Meine Schwester war gerade fünfzehn geworden, sie trug neuerdings einen Bügel-BH, föhnte sich die Haare und quittierte jede Aufforderung unserer Eltern mit einem lässigen »Jaja«.

Die Schmuddelhefte interessierten uns sowieso nicht. Wir kauften jede Menge Süßigkeiten und verließen den Laden wieder. Ich dachte, wir würden den Heimweg antreten, aber an der alten Fabrik ging meine Schwester nicht über die Brücke, sondern einfach weiter geradeaus. Sie lief immer ein paar Schritte vor mir, und im Gehen stopften wir uns die Bonbons in den Mund. Ich kann mich bis heute an das Gefühl erinnern. Der Zucker bildete einen eigenartigen Belag auf der Zunge.

Nach einer Weile hatten wir die Church Street erreicht, in der ich noch nie gewesen war, zumindest nicht zu Fuß. Sie verlief parallel zum Fluss, auf der Waldseite standen Trailer in einer langen Reihe. Ich wusste, dass ich da nicht hinstarren durfte, aber ich konnte nicht anders, als das fremde Leben mit sehnsüchtigen Blicken aufzusaugen. Wir wohnten in einem alten Farmhaus an einer einsamen Straße, deswegen fand ich den lärmenden Trailerpark einfach nur traumhaft. Frauen lagen mit Zigarette, Schnurlostelefon und Zeitschriften draußen im Liegestuhl, Kleinkinder spielten in Plastikplanschbecken, alles schien laut und fröhlich.

Mit der Sonne im Rücken liefen Henrietta und ich zur alten Eisenbahnbrücke, noch so ein Ort, an dem wir eigentlich nichts zu suchen hatten. Die Brücke spannt sich in fünfzehn Metern Höhe über den Fluss und ist bis heute ein beliebter Treffpunkt für Halbstarke, die den ganzen Sommer über da oben hocken, rauchen, spucken und ins Wasser springen. Die Bahnschienen verlaufen auf verschränkten Eisenträgern, und an dem Tag reflektierten die meterhohen Andreaskreuze das Sonnenlicht wie ein riesiges Warnschild. Auf dem Wasser tanzte das Spiegelbild der Bäume, hauptsächlich Kiefern und Ahorn, und am liebsten wäre ich sofort hineineingesprungen. Deswegen war ich enttäuscht, als ich mich umdrehte und sah, dass Henrietta schon weitergegangen war. Ihre leeren Bonbonpapiere hatte sie einfach fallen lassen, der Wind blies sie über die Böschung in den Fluss. Ich war entsetzt.

»Das ist Umweltverschmutzung!«, sagte ich, aber sie beachtete mich gar nicht. Ich rief ihren Namen, allerdings leise, damit die Leute mich nicht hörten. Es war eher ein Zischen, gerade so laut, dass Henrietta mich verstehen konnte, doch sie ignorierte mich weiter. Wenn es mir wirklich so wichtig gewesen wäre, hätte ich den Müll einfach aufsammeln und sie später zur Rede stellen können, aber dafür war ich zu wütend. Wir hatten beide dünnes Haar, meins war mausbraun und stumpf, Henriettas so dunkel und glänzend, dass es irgendwie voller wirkte. Außerdem trug sie es lang, und als ihr hochnäsiges Schweigen mich zu sehr ärgerte, streckte ich die Hand aus und zog daran. Meine Schwester wirbelte herum, ihr Haar flog in die Höhe, umrahmte ihr spitzes Gesicht und schien - kurzer Sieg über die Schwerkraft - einfach in der Luft hängen zu bleiben. Und dann verwandelte Henrietta sich in ein wildes Tier mit gelben Augen.

Sie packte mich wortlos am nackten Oberarm und zog mich an sich. Sie hielt mich fest, ihre Nägel gruben sich in meine Haut. Am liebsten hätte ich geschrien, aber ich hatte verstanden: Ich nervte und sollte die Klappe halten. Inzwischen standen wir vor einem roten, zweigeschossigen Haus, das nicht so recht in die Straße passte. Zum einen war es kein Trailer, zum anderen fand ich es irgendwie unheimlich. Alle Vorgärten in der Church Street waren klein und vollgestellt, nur dieses Grundstück wirkte seltsam weitläufig und leer. Die Fenster des Hauses waren geschlossen und alle Vorhänge zugezogen. Ich hätte es für unbewohnt gehalten, hätte Henrietta nicht immer wieder erwartungsvoll hinübergeschaut. Wir verharrten in brüllendem Schweigen, bis die Haustür aufging und ein Junge auf die Veranda trat. Er badete im gleißenden Sonnenlicht.

Kaus. Später behauptete Henrietta, sie hätte ihn an dem Tag zum ersten Mal gesehen, aber auch das muss eine Lüge gewesen sein. Kaus. Immer wieder sprach ich den Namen aus und spürte nach, wie er hinten in meiner Kehle aufsprang und der Länge nach über meine Zunge kullerte. Kaus, ein Name so weich wie ein Kissen. Oder spitz und hart?

Er stand einfach nur da und beobachtete den Fluss, und wir standen auf der Straße und beobachteten ihn. Schließlich verlagerte er das Gewicht vom einen Fuß auf den anderen und zog eine Zigarette aus der Schachtel, die in einer Tasche seiner abgeschnittenen Jeans steckte. Die Bewegung war unglaublich elegant. Obwohl vom Fluss eine leichte Brise herüberwehte, schaffte Kaus es, die Zigarette beim ersten Versuch anzuzünden, und dann setzte er sich in Bewegung und kam direkt auf uns zu. Er sprach kein Wort, wir auch nicht, aber es war klar, was er vorhatte. Er überquerte die Straße, ging dicht an Henrietta vorbei, drehte den Kopf und blies ihr eine Qualmwolke ins Gesicht. Meine Schwester legte den Kopf schief, öffnete die schmalen Lippen und atmete tief ein.

An dem Tag gingen wir nicht auf die Eisenbahnbrücke. Meine Schwester packte mich bei den Schultern, drehte mich um und scheuchte mich nach Hause. Abends in der Badewanne entdeckte ich fünf kleine, violette Flecken an meinem Oberarm. Ein Zeichen, sagte ich mir später. Der Anfang vom Ende.

Unser Haus stand im Wald, einen knappen Kilometer oberhalb der Stadt. Meine Eltern erzählten die Geschichte so: Sie waren jung und verliebt gewesen und hatten einen Ausflug aufs Land gemacht, und da hatten sie das Haus entdeckt. Besser gesagt die Scheune, denn anfangs war es ihnen nur darum gegangen. Unsere Scheune war die größte im ganzen County und der Grund, warum wir überhaupt hier wohnten. Damals war mein Vater rechts rangefahren, ausgestiegen und auf das Grundstück gelaufen. Ohne sich zu fragen, ob das Anwesen bewohnt war (war es nicht), ging er zur Scheune und strich mit beiden Händen über die Holzschindeln wie über die Haut einer Geliebten.

Meine Mutter nahm all ihren Mut zusammen, schlich zum Haus und spähte durchs Fenster. Die Tapete war eine Katastrophe!, rief sie, wenn mein Vater die Geschichte erzählte. Damals war Henrietta schon in ihrem Bauch und bereitete sich aufs Leben vor, was meine Mutter aber nicht wusste. Meine Eltern fuhren zurück zu ihrer Wohnung in der weiter südlich gelegenen Kleinstadt, mein Vater streckte sich auf der Matratze am Boden aus und träumte laut. Meine Mutter, die einfach nur schlafen wollte, sagte so etwas wie: »Mein Gott, Charley, dann tu es doch«, ohne zu ahnen, dass er es wirklich tun würde. Eine Woche später hatten sie das Haus gekauft. Als Anzahlung verwendeten sie die kleine Summe, die meine Großeltern ihnen hinterlassen hatten. Die Böden des Hauses bestanden aus gestampftem Lehm und die Treppen aus Brettern, die noch nicht mal fingerdick waren, behauptete meine Mutter, aber das Haus war billig und, wie mein Vater betonte, es gehörte ihnen.

Als Henrietta und ich klein waren, hatten wir Katzen und Hühner, manchmal auch ein paar Schweine oder ein Schlachtrind. Und Shania und Dolly, zwei kräftige Stuten mit schwarz glänzendem Fell und einem Gang so geschmeidig wie Öl. Unser Vater behauptete, die habe er immer schon gehabt.

Mein Vater verdiente nicht viel, er war Koch und zuletzt Chefkoch im örtlichen Krankenhaus, aber mit dem Haus und der Scheune hatte er sich einen Traum erfüllt. Wahrscheinlich tat er deswegen alles, damit auch meine Mutter ihren Traum verwirklichen konnte. Er unterstützte sie in ihrem Entschluss, zu Hause zu bleiben, selbst später, als wir zur Schule gingen, übernahm er nach der Arbeit noch das Kochen, Putzen und fast alle anderen Hausarbeiten.

Denn meine Mutter war Künstlerin. Sie malte, auch wenn sie nur selten mal ein Bild verkaufte. Außerdem hat sie, da bin ich mir sicher, nicht unbedingt Kinder gewollt. Sie blieb gern auf Abstand. Abends nach dem Essen, wenn der Abwasch erledigt war, öffnete sie die Kiste mit dem Silberbesteck - ein Familienerbstück -, hob den Samteinsatz heraus, schob eine Hand unter das Futteral mit den Grapefruitlöffeln und zog einen dünnen Joint heraus. Das Zündholz strich sie an der Ofenplatte an. Sie nahm ein paar Züge und verwandelte sich in eine fremde, vollkommen in sich ruhende Frau. Henrietta und ich hockten oben auf der Treppe und rangen mit verwirrenden, widersprüchlichen Wünschen. Wir wollten von ihr gesehen werden, und wir wollten verschwinden und werden wie sie.

»Sylvia«, sagte mein Vater manchmal. Immer, wenn ich ihren Vornamen hörte, regte sich in mir eine leise Angst. Sylvia. Der Name war so einzigartig, so unberechenbar. Nicht der Name meiner Mutter, sondern der einer Frau, die sich jederzeit aus unserem kleinen Leben verabschieden könnte.

Aber dass Henrietta verschwinden würde, Henrietta mitsamt ihrer Seele, ihrem Körper und dem ganzen Rest, das kam mir damals nie in den Sinn....

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Autor

Abi Maxwell zählt zu den interessantesten literarischen Talenten Amerikas. »Der Schatten meiner Schwester« ist ihr zweiter Roman. Für ihr literarisches Debüt »Lake People« wurde Abi Maxwell mit großen Stimmen wie Alice Munro und Marilynne Robinson verglichen. Ihre Kurzgeschichten erschienen in der renommierten Literaturzeitschrift »McSweeney's«. Abi Maxwell lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in New Hampshire.