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Sämtliche Essays und Reden Band 1

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
500 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am16.08.2021Originalausgabe
1973 erklärte Christa Wolf, dass für sie kein grundsätzlicher Unterschied bestehe zwischen ihrer Prosa und ihrer Essayistik, denn deren gemeinsame Wurzel sei »Erfahrung, die zu bewältigen ist: Erfahrung mit dem ?Leben?, mit mir selbst, mit dem Schreiben, das ein wichtiger Teil meines Lebens ist, mit anderer Literatur und Kunst. Prosa und Essay sind unterschiedliche Instrumente, um unterschiedlichem Material beizukommen«. Das sind auch die Themen ihrer Essays und Reden, die in der chronologischen Reihenfolge ihres Entstehens in dieser Ausgabe versammelt sind. Christa Wolf bezieht als kritische Zeitgenossin Position, setzt sich mit poetologischen Reflexionen über ihr Selbstverständnis als Autorin auseinander und nähert sich über wesentliche Berührungspunkte Gefährt:innen und Kolleg:innen an.



Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR36,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99
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Produkt

Klappentext1973 erklärte Christa Wolf, dass für sie kein grundsätzlicher Unterschied bestehe zwischen ihrer Prosa und ihrer Essayistik, denn deren gemeinsame Wurzel sei »Erfahrung, die zu bewältigen ist: Erfahrung mit dem ?Leben?, mit mir selbst, mit dem Schreiben, das ein wichtiger Teil meines Lebens ist, mit anderer Literatur und Kunst. Prosa und Essay sind unterschiedliche Instrumente, um unterschiedlichem Material beizukommen«. Das sind auch die Themen ihrer Essays und Reden, die in der chronologischen Reihenfolge ihres Entstehens in dieser Ausgabe versammelt sind. Christa Wolf bezieht als kritische Zeitgenossin Position, setzt sich mit poetologischen Reflexionen über ihr Selbstverständnis als Autorin auseinander und nähert sich über wesentliche Berührungspunkte Gefährt:innen und Kolleg:innen an.



Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518768273
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum16.08.2021
AuflageOriginalausgabe
Reihen-Nr.5160
Seiten500 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5429296
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Diskussionsbeitrag
zur zweiten Bitterfelder Konferenz 1964


Alle unsere öffentlichen Diskussionen in den letzten Monaten, die Beschlüsse der Partei zu verschiedenen Gebieten unseres Lebens haben einen gemeinsamen Kern. Es geht darum, die Möglichkeiten, die unsere Gesellschaft in ihrer jetzigen Etappe bietet, besser zu nutzen, die Voraussetzungen zu schaffen, daß die erkannten Gesetze des Sozialismus bewußt angewendet werden können in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, im Bildungswesen. Worin bestehen die Möglichkeiten unserer Gesellschaft für die Kunst?

Manchmal werden immer noch Klischeeantworten angeboten: materielle Förderung, Betriebsverträge, öffentliche Ehrungen von Künstlern. Das alles ist etwas, aber es ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche springt einem in die Augen wenn man - wie ich zum Beispiel kürzlich - für einige Tage in Westdeutschland ist. Meine Gesprächspartner dort waren meist junge Menschen, übersatt von dem platten Antikommunismus ihrer offiziellen Propaganda, an sachlichen Informationen über die DDR brennend interessiert. Man konnte sehen, daß die Jugend besonders empfindlich reagiert auf das Ende jenes Trancezustandes, in den das sogenannte Wirtschaftswunder für Jahre Teile der westdeutschen Bevölkerung versetzt hat. Man steht jetzt in dieser imponierenden Warenkulisse und fragt sich: Was nun? Man fragt uns: Wißt ihr was Besseres? Man erwartet von uns wohlüberlegte, praktische, brauchbare Antworten. Daraufhin liest man auch unsere Bücher. Man erwartet keine platten Antworten, keine Ausflüchte. Man kann durchaus auch Probleme vertragen.

Man wundert sich über unsere Themen. Das ist mir besonders aufgefallen. Man sagt uns: Was ihr da schreibt, das halten westdeutsche Schriftsteller nicht für literaturfähig: die wirklichen, im täglichen Leben entstehenden Konflikte junger Leute, den Alltag von Millionen Menschen, das gewaltige Thema des Arbeiters in einer hochentwickelten Industriegesellschaft, die Kampfaktionen, die - wie zum Beispiel die Ostermarschbewegung - außer ihrem politischen Gehalt eine große moralische Bedeutung für jeden einzelnen ihrer Teilnehmer haben. Sie bedeuten nämlich, daß in einem streng abgezirkelten, sehr begrenzten Bereich gesellschaftlicher Betätigungsmöglichkeit sich plötzlich für sie ein Feld auftut für Aktivität, für Initiative, für Kühnheit, für Ideenreichtum, überhaupt für die Entwicklung einer Persönlichkeit - übrigens auch für die Förderung künstlerischer Talente.

Wir haben an einer Ostermarschrevue teilgenommen. Da haben wir Songs und Lieder gehört mit spritzigen, frechen Texten, von Laien gesungen und begleitet, die jedem FDJ-Abend zur Förderung junger Talente Ehre machen würden. Zum Beispiel gab es einen Text - drüben muß die Polizei von jeder Demonstration benachrichtigt werden, und sie begleitet die Demonstration vorn und hinten mit Jeeps -: »Der Polizei ein Osterei. Die Polizei ist auch dabei. Die Polizei, dein Freund und Helfer, sie ist auch dieses Jahr dabei.« Ihr könnt euch denken, wie die das singen ... Wir haben mitgesungen. Diese jungen Leute, in denen wie in jedem Menschen das Bedürfnis ist, sich selbst in Kunst ausgedrückt zu sehen, fühlen sich - das war eine unserer interessantesten und ich muß auch sagen unerwarteten Beobachtungen - von der westdeutschen Literatur im Stich gelassen. Sie sagten uns: Von euch müßte mal einer herkommen, das alles hier genau kennenlernen und darüber schreiben. Nicht etwa, daß sie kommunistische Bücher haben wollten; aber sie haben uns zugetraut, daß wir uns auf alle Fälle um die Bereiche des Lebens kümmern würden, die sie interessieren und in denen sich ihre täglichen Probleme und Konflikte abspielen. Denn wir sind natürlich in sehr vielen Punkten ganz verschiedener Meinung gewesen. Darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel.

Sie sehen, daß man mit uns nicht nur über Ästhetik, sondern auch über Ökonomie, Politik, Soziologie und Psychologie zum Beispiel reden kann. Sie stimmten spontan unserer Ansicht zu, daß ein Schriftsteller viel wissen muß, um in den komplizierten Organismus der modernen Gesellschaft eindringen zu können, und sie suchen, was ganz natürlich ist, unsere Gesellschaft, unsere Ideale, unser Bild vom Menschen in unseren Büchern.

Wir können auch lernen in diesen Diskussionen. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß manches, was uns selbstverständlich ist, dort noch nie gehört wurde. So wurde es ihnen noch nie gesagt. Nicht jede Frage, die uns dumm vorkommt, ist provokatorisch gemeint. Ich habe zwar früher schon gewußt, daß wir verantwortlich für Westdeutschland sind, jetzt fühle ich mich verantwortlich gegenüber ganz bestimmten Menschen. Es geht mir jetzt so, daß alles, was ich nicht gut genug mache oder was wir zusammen nicht klug genug machen, nicht offensiv genug - mir scheint, wir sollten viel offensiver sein, mehr positive Tatsachen schaffen und viel weniger in die Defensive gehen gegenüber falschen Ansichten, sondern unsere positiven Tatsachen ihnen entgegensetzen -, daß alles, wo wir nicht schnell genug vorwärtskommen, wo wir nicht konsequent genug Hemmnisse überwinden, sogar dann, wenn sie schon erkannt sind, daß mich das alles jetzt nicht nur in unserem Namen ärgert, sondern auch in ihrem Namen, im Namen dieser jungen Leute. Denn sie sind, wenn sie es auch nicht wissen, auf uns angewiesen und wir auf sie.

Die westdeutschen Zeitungen wittern natürlich irgendeine Art von Unrat. Sie geben Alarmzeichen, darunter sogenannte Kritiken unserer Bücher. Vergleicht man sie untereinander, hat man den Eindruck, daß hier eine Art automatisch arbeitendes Elektronengehirn durch die Speisung mit zwei einander entgegengesetzten und sich ausschließenden Informationen in Unordnung geraten ist. Die eine Information ist: Es gibt keinen zweiten deutschen Staat, also auch keine zweite deutsche Literatur. Die zweite: Da entsteht in jenem nicht existierenden Staat unter den Bedingungen extremer Unterdrückung Literatur. Da wird diese Literatur, die sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen im Staat auseinandersetzt, sie begleitet, aktiv an ihnen mitarbeitet, nicht nur freiwillig von den unterdrückten Bürgern gelesen, und zwar in Massen, sondern sie wird auch heiß diskutiert. Da gibt es Meinungsverschiedenheiten, heftige Gegensätze, aber weiterhin Literatur.

Nun kann jeder westdeutsche Rezensent nach seinem Charakter, nach der Färbung seiner Zeitung oder nach der finanziellen Lage und dem Grad der eigenen Desinformation über uns eine Variante aussuchen, wie er diese beiden unvereinbaren Axiome doch zu einer Literaturkritik verarbeitet. »Revolte gegen das Regime« - wünschen sich die einen, »besonders raffinierte kommunistische Propaganda« - warnen die anderen. Falsches Lob soll uns schmeicheln, falscher Tadel uns schrecken. Besonders tut sich da die Gilde der »Ostexperten« hervor, jene Leute, die vor ein paar Jahren noch bei uns waren und sich sehr sozialistisch gebärdeten. Aber was wirklich los ist - Tucholsky würde sagen, sie wissen es nicht; Kenntnisse wären hier vonnöten, dialektisches Denken, die Fähigkeit, Prozesse zu begreifen. Da fällt die Klassenschranke, und der Apparat hakt aus. Er läuft leer und kaut nur noch an ein paar unverdaulichen Fakten herum. Man möchte ihnen sagen: Spart euch die Mühe! Mit uns rechnet nicht! Doch da sie nicht glauben wollen, daß in unserem Lande in fast zwei Jahrzehnten der Sozialismus zur menschenbildenden Kraft geworden ist, daß er die tägliche Arbeit von Millionen Menschen darstellt und kein Hirngespinst, werden sie auch diesen gutgemeinten Rat wahrscheinlich nicht annehmen.

Nun gibt es ja Leute, die können sich daran gewöhnen, einen Apfel zu Boden fallen zu sehen und jemanden seelenruhig immerzu dabei sagen zu hören: Er fällt nicht. Solche Leute gibt es auch bei uns, aber sie haben geringere Chancen auf die Dauer. Es gibt Künstler, die den Streit um den Apfel für unerheblich halten, die da überhaupt keinen Apfel sehen, sondern zum Beispiel Leere. Wir haben in Frankfurt am Main den Bergman-Film »Das Schweigen« gesehen, der unerhörtes Aufsehen machte, bis zu Anfragen im Bundestag. Am Nachmittag des gleichen Tages waren wir im Auschwitzprozeß, und zwar in jener Sitzung, in der das Gericht sich darauf konzentrierte, den Sachverständigen Professor Kuczynski der Befangenheit zu bezichtigen, anstatt die Wahrheit seines Beweises über die Verflechtung großer Chemiekonzerne mit dem...

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Autor

Christa Wolf, geboren 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski), lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen, darunter dem Georg-Büchner-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Uwe-Johnson-Preis, ausgezeichnet. Sie verstarb am 1. Dezember 2011 in Berlin.
Weitere Artikel von
Sonja, Hilzinger
Hrsg.

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt