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Wer wir sind

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am18.05.20211. Auflage
Sankt Petersburg/Ludwigsburg 1992. Ein Mädchen reist mit den Eltern, der Großmutter und ihrem Bruder nach Deutschland aus, in die Freiheit. Was sie dafu?r zuru?cklässt, sind ihre geliebte Hu?ndin Asta, die Märchen-Telefonnummer und fast alles, was sie mit Djeduschka, Opa, verbindet - letztlich ihre Kindheit. Im Westen merkt die Elfjährige, dass sie jetzt eine andere und «die Fremde» ist. Ein Flu?chtlingskind im selbstgeschneiderten Parka, das die Wörter so komisch ausspricht, dass andere lachen. Auch fu?r die Eltern ist es schwer, im Sehnsuchtswesten wächst ihre russische Nostalgie; und die stolze Großmutter, die mal einen Betrieb leitete, ist hier einfach eine alte Frau ohne Sprache. Das erst fremde Deutsch kann dem Mädchen helfen - beim Erwachsenwerden, bei der Eroberung jenes erhofften Lebens. Aber die Vorstellungen, was Freiheit ist, was sie erlaubt, unterscheiden sich zwischen Eltern und Tochter immer mehr. Vor allem, als sie selbst eine Familie gru?ndet und Entscheidungen treffen muss. Ein autobiographischer Roman, der zeigt, dass die Identität gerade im Zwiespalt zwischen Stolz und Scham, Eigensinn und Anpassung, Fremdsein und allem Dazwischen stark wird. «Wer wir sind» erzählt, wie eine Frau zu sich findet - und wer wir im heutigen Deutschland sind.

Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Roman «Hochzeit in Jerusalem» (2007) war für den Deutschen Buchpreis nominiert, der viel­gelobte Roman «Mehr Schwarz als Lila» (2017) für den Deutschen Jugendbuchpreis. Regel­mäßig schreibt Lena Gorelik Beiträge zu gesellschaftlichen Themen, u.a. für die «Süddeutsche Zeitung» oder «Die Zeit». Sie lebt in München.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
BuchKartoniert, Paperback
EUR9,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextSankt Petersburg/Ludwigsburg 1992. Ein Mädchen reist mit den Eltern, der Großmutter und ihrem Bruder nach Deutschland aus, in die Freiheit. Was sie dafu?r zuru?cklässt, sind ihre geliebte Hu?ndin Asta, die Märchen-Telefonnummer und fast alles, was sie mit Djeduschka, Opa, verbindet - letztlich ihre Kindheit. Im Westen merkt die Elfjährige, dass sie jetzt eine andere und «die Fremde» ist. Ein Flu?chtlingskind im selbstgeschneiderten Parka, das die Wörter so komisch ausspricht, dass andere lachen. Auch fu?r die Eltern ist es schwer, im Sehnsuchtswesten wächst ihre russische Nostalgie; und die stolze Großmutter, die mal einen Betrieb leitete, ist hier einfach eine alte Frau ohne Sprache. Das erst fremde Deutsch kann dem Mädchen helfen - beim Erwachsenwerden, bei der Eroberung jenes erhofften Lebens. Aber die Vorstellungen, was Freiheit ist, was sie erlaubt, unterscheiden sich zwischen Eltern und Tochter immer mehr. Vor allem, als sie selbst eine Familie gru?ndet und Entscheidungen treffen muss. Ein autobiographischer Roman, der zeigt, dass die Identität gerade im Zwiespalt zwischen Stolz und Scham, Eigensinn und Anpassung, Fremdsein und allem Dazwischen stark wird. «Wer wir sind» erzählt, wie eine Frau zu sich findet - und wer wir im heutigen Deutschland sind.

Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Roman «Hochzeit in Jerusalem» (2007) war für den Deutschen Buchpreis nominiert, der viel­gelobte Roman «Mehr Schwarz als Lila» (2017) für den Deutschen Jugendbuchpreis. Regel­mäßig schreibt Lena Gorelik Beiträge zu gesellschaftlichen Themen, u.a. für die «Süddeutsche Zeitung» oder «Die Zeit». Sie lebt in München.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644008786
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum18.05.2021
Auflage1. Auflage
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3408 Kbytes
Artikel-Nr.5447696
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Я

Я heißt: ich. Ausgesprochen: ja.

Ich heißt auf Russisch Я, ein Buchstabe nur. Der letzte im Alphabet. So wurden wir auch groß und erzogen:

«Ð¯ - поÑледнÑÑ Ð±Ñква в алÑавиÑе.»

«Ich ist der letzte Buchstabe im Alphabet.»

Das hat dann jedes

ich will

ich mag

ich muss

ichichich

mit einer Faust erschlagen. Die Ordnung der Buchstaben, die uns Kindern den Egoismus austrieb, in aller Seelenruhe.

Ich erinnere mich, meistens leise.

«Ich will aber ...»

«Ich ist der letzte Buchstabe im Alphabet.»

Ich will aber: diese Geschichte erzählen. Ich wünsche, dass diese Geschichte mir gehört.

Heute bin ich für diesen Satz dankbar, natürlich. Dankbar, aber danke sage ich nicht. Hoffe wahrscheinlich, dass meine Eltern einfach wissen, oder aber ich denke zu wenig an sie. Jetzt versuche ich, es den Kindern weiterzugeben. Nur diesen Satz,

«Ð¯ - поÑледнÑÑ Ð±Ñква в алÑавиÑе»,

den lasse ich weg. Wir sprechen meist eine andere Sprache. Wir haben keine gemeinsame Muttersprache, meine Kinder und ich. Wenn sie weinen oder wenn sie schlafen, flüstere ich ihnen auf Russisch zu, streichelnde Worte. Es gibt mehr Platz für Zärtlichkeit in der russischen Sprache. Auf Deutsch bringe ich ihnen bei, die Stimme auch für sich selbst zu erheben.

Я heißt: ich.

Wie die Erinnerung manchmal das Jetzt übertönt. Wie sie sich über alles legt, wie ein Dickicht aus Verletzungen, Mustern und Fragen. Wie ich nicht mehr weiß, wer ich wurde und wann. Und ich dennoch beginne zu erzählen. Und mich erinnere, an diesen Satz,

«Ð¯ ist der letzte Buchstabe im Alphabet»,

wie ich mich erinnere, leise, an alles.

 

«Ich habe im Internet gelesen», sagt mein Vater, die Arme vor der Brust verschränkt, «dass du ein neues Buch schreibst.»

Er sitzt im Schreibtischstuhl, ein schwarzer Chefsessel aus Kunstleder. Ich besuche meine Eltern, liege auf dem Bett, auf der synthetischen Tagesdecke, auf dem Rücken, die Knie angewinkelt. Habe die Arme ebenfalls verschränkt, unter dem Kopf. Zwischen uns versuchen Erwartungen, die Stille zwischen Frage und Antwort auszufüllen. Schwirren zischend.

«Was hast du wo gelesen?»

Ich wackle mit den Zehen, die Socken gestreift. Minuten ticken davon.

«Dass du ein neues Buch schreibst. Dass du irgendwo aus dem neuen Buch gelesen hast. Weiß nicht mehr, wo genau ich das gelesen habe, aber generell weiß ich genau, dass ich es gelesen habe.»

«Ich weiß auch nicht, wo du das gelesen hast.»

«Wo, das ist auch nicht wichtig. Wichtig ist: Schreibst du?»

«Nein, ich schreibe nichts. Wann soll ich denn schreiben, du siehst doch, wie mein Leben ist.»

Ich wackle mit allen Zehen. Mein Vater sieht nichts von meinem Leben.

 

Seit ein paar Jahren macht mein Vater Kunst. Aus Urlauben, in die er alleine fährt, ohne meine Mutter, im späten Herbst, im frühen Frühling, immer dann, wenn die Sonne nicht mehr oder noch nicht brennt, ans Meer, für eine Woche, nach Portugal am liebsten, und manchmal an die Nordsee, bringt er Muscheln, Steine, Seesterne, getrocknete Algen mit. Alles, was das Meer zu geben hat. Wickelt die Stücke in Kleidung, damit sie im Koffer nicht brechen, die Hände zittern dabei. Ich stelle ihn mir vor, wie er ein Hemd auf dem Hotelbett ausbreitet und eine Muschel nach der anderen vorsichtig darauflegt, es dann so zusammenrollt, dass sie nicht aneinanderknallen können. Wie er das Hemd in den offenen Koffer legt, obenauf. Mein Vater ist es, der mir das Packen beibrachte, unten die schweren Dinge, Platz sparend, klug. Alles muss klug sein bei meinem Vater, Ñ Ñмом, «mit Bedacht. Wozu hast du denn einen Kopf?»

Nur, dass da kein Zweifel aufkommt: zum Denken. Mein Vater packt die Muscheln und die Seesterne und alles andere mit Bedacht ein, nimmt sich Zeit, er hat sie. Er muss pünktlich zum Mittag- und Abendessen im Hotelrestaurant sein, sonst ist da nichts, kein Zeitdruck. Er möchte eigentlich gar nicht nach Hause zurück, möchte hier bleiben, am Meer.

Zu Hause macht er aus diesen Mitbringseln Kunst. Ich stelle ihn mir vor, meinen Vater. Wie er den Strand entlangläuft, in seinen Turnschuhen. Er spürt nicht die Sandkörner an den Fußsohlen, will sie gar nicht spüren. Weiß nicht, dass seine Tochter, sobald sie das Meer sieht, bei jedem Wetter die Schuhe auszieht, um die Füße in den Sand zu graben, dass sie auch im Winter barfuß ins Meer läuft, bis die Jeans nass ist und klebt, bis der feuchte Sand zwischen den Zehen steckt. Mein Vater läuft nur. Blickt vielleicht manchmal hinaus aufs brodelnde Meer, braunschmutzige Gischt, Schiffe. Geht nicht ins Wasser, schwimmt nicht. Denkt vielleicht, wenn er aufs Meer blickt, rückwärts, an die Zeit, als er auf einem sowjetischen U-Boot stationiert war, unter Wasser arbeitete und lebte und Sehnsüchte nach Zuhause beiseitewischte, er denkt, meine ich zu wissen, nicht im Leben nach vorn. Meistens aber zielt der Blick nach unten, vor die Füße. Auf den Strand, er sucht Muscheln, Seesterne, Steine. So denke ich ihn mir, meinen Vater. Zu kleinen Wunderwerken verbogene Muscheln, Steine mit Mustern, die das Meer gezaubert hat, er beugt sich hinunter, obwohl ihm das nicht so leicht fällt, das Hinunterbeugen, hebt eine Muschel auf, begutachtet sie von allen Seiten. Steckt sie, wenn sie wundersam genug ist, in eine Plastiktüte. Die Tüte wird immer schwerer; der Wind, der ihm in den Nacken weht. Das Meer rauscht geschäftig. Hat er Kopfhörer im Ohr, hört er Musik, dieses eine Lied des russischen Sängers, den er so mag. Der Sänger ist vermutlich in seinem Alter, er hat graue Haare und einen georgischen Akzent.

«Mои года, Ð¼Ð¾Ñ Ð±Ð¾Ð³Ð°ÑÑÑво.»

«Meine Jahre, mein Reichtum»,

hört er, und dann denkt er über seine Jahre nach, alles, was sich angesammelt hat an Erfahrungen, Wissen, Entbehren. So denke ich ihn mir. Denkt er vielleicht an mich, seine Tochter, denkt er mich, wie ich ihn denke? Wir denken uns, aber kennen uns zu wenig, lieben uns, ohne uns kennen zu müssen, endlos.

Ich muss diese Worte schreiben, um mir zu wünschen, mit meinem Vater an den Strand zu gehen, schöne Muscheln für ihn zu suchen. Ich wäre nach wenigen Minuten vermutlich gelangweilt.

Wenn er den Blick vom Meer abwendet, sieht er die Hotelklötze an der Promenade, und sein Hirn fängt sofort an zu rechnen, wie viele Stockwerke, wie viele Fenster, wie viele Zimmer, wie viel Euros pro Zimmer, wie viele Menschen. Eine Woche lang ist mein Vater meist fort, sieben Tage, an denen er Muscheln sucht und sich an der Vielfalt der Hotelbuffets erfreut und daran, einfach zu essen: keine Cholesterinwerte, kein krankes Herz, keine Jahre, die man an den grauen Haaren abzählen könnte, niemand, der ihn ermahnt. Stille; manchmal ruft meine Mutter ihn an. Er spricht in diesen Tagen mit niemandem, muss mit niemandem sprechen. Den Kellnern nickt er zu, brummig. Auf dem Hotelzimmer löst er Sudokus, er mag die schwierigsten Hefte. Oder er liest. Wie viele Jahre war ich nicht mehr mit meinem Vater am Strand, wie viele Jahre bin ich nicht mehr neben ihm im Zug gesessen, habe mit ihm Karten gespielt, Schach, Spiele, die einen zum Denken zwingen. Alles andere wäre ja Zeitverschwendung.

«Muss man da denken?»

So wurden Spiele für mich als Kind ausgesucht.

«Hast du gut nachgedacht über diesen Zug?»

Bei jedem Spiel, jedem Zug diese Frage. Heute hat er nur noch eine Frage an mich:

«ÐÑ, какие Ð·Ð°Ð´Ð°Ð½Ð¸Ñ ÑÐµÐ±Ñ Ð¶Ð´ÑÑ?»

«Nu, welche Aufgaben warten auf dich?»

Wir spielen keine Spiele mehr, und meine Kinder beschweren sich, dass Opa die Spiele zu ernst nimmt, die er mit ihnen spielt, er kann nicht verlieren. Ich will nicht, dass immerzu Aufgaben auf mich warten, aber ich weiß nicht, wie ich das meinem Vater erklären soll.

Zu Hause setzt er sich an den Tisch in seinem Zimmer, der mit einer bunten Plastikdecke bedeckt ist. Legt noch eine Schicht Zeitungspapier drauf, breitet seine mitgebrachten Schätze aus. Muscheln, Steine, Wurzeln, Holz, Seesterne, Algen, alles, was er gefunden hat. Ordnet sie, setzt sie zu Mustern zusammen, klebt sie auf Kartonpapier fest. In vergoldeten Rahmen, die er auf Flohmärkten kauft, hängen sie dann später an der Wand seines Zimmers.

«Das gefällt mir sehr», sage ich.

«Wenn du willst, kannst du es mitnehmen.»

Ich muss beginnen, diese Worte zu schreiben, um zu denken, beim nächsten Besuch nehme ich tatsächlich eins mit. Muss ihn aufschreiben, meinen Vater, um mich nicht mehr zu fragen, wohin dieses Bild in meiner Wohnung passen soll.

 

An der Wand in der Küche hängen Kalender, die ich jährlich für meine Eltern gestalte: mit Bildern und lustigen Zitaten der Kinder. Da hängt auch eine Küchenschürze, mit kleinen Nadeln an die Wand gepinnt, die habe ich ebenfalls mit Bildern der Enkel bedrucken lassen. Er verwendet sie nicht beim Kochen: Da sind doch die Enkel abgebildet. Die Tür zur Speisekammer steht offen. An der Innenseite hängt ein Zettel, auf den mein Vater mit seinen ordentlichen, eckigen Buchstaben «Gorelik» und «Keller» geschrieben hat, darunter sind Daten notiert. Verblichenes Papier, die Zahlen mit geraden Strichen gezeichnet. Wie geometrische Formen hängen sie an unsichtbaren, linealgeraden Fäden, obwohl das Papier blank ist.

«Was sind denn das für Daten? Kehrwoche?», frage ich.

«Nein, das sind die Tage, in denen wir dran sind und den unteren Keller zum Wäscheaufhängen benutzen dürfen. Seit fünfzehn Jahren wohnen wir hier, aber den haben wir...
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Lena Gorelik, 1981 in St. Petersburg geboren, kam 1992 mit ihren Eltern nach Deutschland. Ihr Roman «Hochzeit in Jerusalem» (2007) war für den Deutschen Buchpreis nominiert, der viel­gelobte Roman «Mehr Schwarz als Lila» (2017) für den Deutschen Jugendbuchpreis. Regel­mäßig schreibt Lena Gorelik Beiträge zu gesellschaftlichen Themen, u.a. für die «Süddeutsche Zeitung» oder «Die Zeit». Sie lebt in München.