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Madrigal

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
144 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am21.04.20211. Auflage
Wray, Jahrgang 1971, ist Amerikaner. Seine Mutter ist Österreicherin, er ist zweisprachig aufgewachsen, verbringt seine Sommer noch immer im Kärntner Haus seiner Großeltern in Friesach - und seinen neuen Band «Madrigal» hat er auf Deutsch geschrieben. In der titelgebenden Erzählung geht es um Bruder und Schwester. Er ist ein erfolgreicher Schriftsteller mit Profilneurose, sie - Madrigal - eine erfolglose Schriftstellerin mit psychischen Problemen. Nach ein paar Absätzen entführt Wray seine Leser aus der realistischen Anfangssituation in die irrlichternden Welten im Kopf von Madrigal: filmreife Horrorszenen, Vorstadtdepression und Reisebeschreibungen aus dem 19. Jahrhundert wechseln in schneller Folge. Sogar Donald Trump hat am Ende noch einen Cameo-Aufritt. Von der ersten Seite an ist man gefangen in und von diesen Welten, deren Achse und Horizont stets verschoben erscheinen, ins Metaphysische, ins Abwegige. Daraus entwickeln die Texte eine eigene Logik, die Logik der Paranoia, die sich bekanntermaßen stets aus sich selbst begründet und fortschreibt. Nach seinem gefeierten Auftritt während der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt legt John Wray nun seinen lange erwarteten, auf Deutsch geschriebenen ersten Erzählband vor.

John Wray wurde 1971 in Washington, D. C., als Sohn einer Österreicherin und eines Amerikaners geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin Granta unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.
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Produkt

KlappentextWray, Jahrgang 1971, ist Amerikaner. Seine Mutter ist Österreicherin, er ist zweisprachig aufgewachsen, verbringt seine Sommer noch immer im Kärntner Haus seiner Großeltern in Friesach - und seinen neuen Band «Madrigal» hat er auf Deutsch geschrieben. In der titelgebenden Erzählung geht es um Bruder und Schwester. Er ist ein erfolgreicher Schriftsteller mit Profilneurose, sie - Madrigal - eine erfolglose Schriftstellerin mit psychischen Problemen. Nach ein paar Absätzen entführt Wray seine Leser aus der realistischen Anfangssituation in die irrlichternden Welten im Kopf von Madrigal: filmreife Horrorszenen, Vorstadtdepression und Reisebeschreibungen aus dem 19. Jahrhundert wechseln in schneller Folge. Sogar Donald Trump hat am Ende noch einen Cameo-Aufritt. Von der ersten Seite an ist man gefangen in und von diesen Welten, deren Achse und Horizont stets verschoben erscheinen, ins Metaphysische, ins Abwegige. Daraus entwickeln die Texte eine eigene Logik, die Logik der Paranoia, die sich bekanntermaßen stets aus sich selbst begründet und fortschreibt. Nach seinem gefeierten Auftritt während der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt legt John Wray nun seinen lange erwarteten, auf Deutsch geschriebenen ersten Erzählband vor.

John Wray wurde 1971 in Washington, D. C., als Sohn einer Österreicherin und eines Amerikaners geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin Granta unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644006164
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum21.04.2021
Auflage1. Auflage
Seiten144 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1027 Kbytes
Artikel-Nr.5447723
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

MADRIGAL

Und dieser allerletzte Tag, dieser letzte und längste, endgültige Tag, endet mit dem Anruf ihres unerträglichen Bruders. Unerträglich, wenn er sich bei ihr meldet, pausenlos klagend über eine Reihe von Lasten, die jeder Nicht-in-der-Kulturhauptstadt-der-Erde-lebende-Mensch nur allzu gerne hätte - Waldorfschulen und Verkehrsstörungen und etwas, das tatsächlich, so etwas kann man nicht erfinden, «mansion tax» heißt - und noch viel weniger erträglich angesichts jener langen Zeit absoluter Funkstille, die ihr deutlich macht, so deutlich wie nur möglich, wie wenig ihm seine Familie eigentlich bedeutet. Ihr Bruder nimmt die Saga seines epischen, einseitigen Streits mit einem gewissen Hunter Wagoner sofort wieder auf, der neueste in einer langen Reihe von Südstaatenschriftstellern, dessen «Moment» ein bisschen intensiver glänzt und länger zu dauern scheint als der «Moment» ihres Bruders; aber zum ersten Mal in mehr als zehn Jahren dieses Rituals der Autopietà erlaubt sie es sich, seinen Monolog zu unterbrechen.

«Ich will mir diese Scheiße nicht mehr anhören müssen, Teddy.»

«Wie bitte?»

«Du hast mich gehört. Endlich bitte Schluss mit Hunter Wagoner.»

«Glaub mir, Maddy, ich stimme voll mit dir überein. Leider bleibt aber die Tatsache, dass dieser schmierige Arschkriecher -»

«Ich könnte dir all deine Beschwerden jetzt schon aufsagen, ohne ein weiteres Wort hören zu müssen. Mir ist sogar die Reihenfolge vertraut.»

«Okay. Verstehe. Aber -»

«Ich weiß, dass sein Buch eine ganze Seite im Feuilleton bekommen hat, obwohl es nur ein Kurzgeschichtenband war, und dass alle den Humor seiner Prosa in den Himmel heben, obwohl er sonst eigentlich gar nicht so witzig ist, und dass du bei irgendeiner Party mitbekommen hast, wie er einer jungen, naiven Studentin von jenem Jahr erzählte, in dem er außer dem Neuen Testament kein Wort gelesen hat, und dass sie dann zusammen die Party verlassen haben. Können wir einfach zu dem Punkt im Gespräch vorspulen, an dem ich dir versichere, dass du ein besseres Ohr für Dialoge hast?»

Langes Schweigen. Die Wendung wird registriert.

«Okay.»

«Okay.»

«Eigentlich hab ich angerufen, um zu fragen, wie es dir mit den neuen Medikamenten so geht. Wagoner kann mir einen blasen.»

Dazu sagt sie überhaupt nichts.

«Maddy? Noch da?»

«Ich nehme keine neuen Medikamente.»

Er lacht übertrieben laut. «Wahrscheinlich gibt´s irgendeinen neuen Fachausdruck dafür, Lebenserlebnisermöglichungstabletten oder so was, aber du weißt sehr wohl -»

«Ich nehme kein Paxil mehr. Kein Zoloft. Ich nehme keine Tabletten mehr. Ich schluck sie einfach nicht.»

Eine deutlich längere Pause.

«Ich hab heute mit Papa gesprochen, deshalb melde ich mich. Er macht sich wohl Sorgen.»

«Ich weiß, dass es ein Klischee ist, zu sagen, dass du mich nie anrufst», sagt sie schließlich. «Oder dass du nur anrufst, wenn du etwas von mir willst.»

«Du hast vollkommen recht, Maddy. Das ist ein Klischee.»

«Aber du rufst nie an.»

«Stimmt nicht. Schau, wir reden ja -»

«Oder du rufst nur an, wenn du etwas von mir willst.»

«Es tut mir leid, Maddy. Okay? Es tut mir leid. Ich hab dich lieb. Ich hab dich lieb und mache mir Sorgen deinetwegen. Gähnst du?»

«Ich hab dich auch lieb, Teddy.»

«Es ist nur, du bist nicht unbedingt der angenehmste Gesprächspartner, weißt du? Und ich bin auch nicht der angenehmste Gesprächspartner.»

«Irgendwo in dieser Welt lebt der angenehmste Gesprächspartner», hört sie sich antworten. «Muss ja so sein. Ich bin aber ziemlich sicher, dass er, beziehungsweise sie, nicht hier in Little Rock zu Hause ist.»

«Ich würde auf eines der teeproduzierenden Länder tippen», sagt er. «Eines der betelnusskauenden Länder. Sri Lanka, zum Beispiel. Oder Bangladesch.»

Beide fühlen sich plötzlich verbunden, fast so, wie sie es als Kinder waren, und das ist für Maddy eine Erleichterung, weil sie nur darauf gewartet hat, um das Gespräch beenden zu können. Sie legt auf, durchquert die leere Küche bis zur Steckdose und zieht das Kabel aus der Wand. Langsam atmet sie aus. Wie aus der Ferne nimmt sie das Summen des Kühlschranks wahr und stellt fest, leicht verblüfft wie immer, wie sehr dieses Geräusch sie beruhigt. Sie versucht, sich zu erinnern, wann ihr Bruder das letzte Mal gefragt hat, wie es mit ihrem eigenen Schreiben geht. Das Brummen wird lauter, dann wieder sanfter, wie das Atmen eines schlafenden Hundes. Ihre elektrische Schreibmaschine steht dort, wo sie immer steht, am Ende der Küchentheke - heute, ganz ausnahmsweise, ist ein Blatt Papier darin. Sie holt sich ein Bier und setzt sich an die Theke.

Der Roman, den sie schreiben würde, wenn sie noch schreiben könnte, wenn sie auch nur noch zwei zusammenhängende Gedanken aneinanderreihen könnte, würde in einem Universum spielen, das dem unseren so ähnlich wäre, dass dem Leser erst in der Mitte des Buches langsam dämmern würde, dass etwas nicht stimmt. Der Unterschied macht sich bemerkbar auf subtilste Art und Weise, zunächst im Dialog, durch kleine Fehler, als ob die Personen Englisch nur als Zweitsprache sprechen würden: Das Moor vor dem Haus der Protagonistin wird «die Feuchtigkeit» genannt, ihr Auto scheint ohne Benzin oder Strom zu laufen, sie sagt ihrem Mann, er solle sich beeilen, weil sie «nicht aus Zeit bestehe». Die Frau, die sich so ausdrückt, heißt Madrigal, und sie arbeitet vier Tage in der Woche, wie Maddy selber, als Keilerin für ein Inkassounternehmen, ansässig in Little Rock, Arkansas.

Es wird ein großartiges Universum werden, sagt sich Maddy. Es wird das Universum, das uns allen eigentlich zusteht - eines, in dem die natürliche Bewegung der Dinge in Richtung Ordnung statt Chaos geht, in dem Körper und Beziehungen und Pläne dazu tendieren, sich nicht in Scheiße zu verwandeln. Trotzdem werden bestimmte, ausgewählte Existenzen von Zeit zu Zeit scheitern, denn: kein Scheitern, keine Geschichte.

Schon seit einiger Zeit weiß Madrigal, dass irgendwo der Wurm drin ist. In ihr persönlich, selbstverständlich, nicht in ihrer Welt. Ihre Arbeit ist befriedigend, die Zukunft schaut rosig aus, und ihr Ehemann ist fürsorglich und liebevoll, aber etwas stimmt ganz und gar nicht: ein graues, undefinierbares Etwas, das von ihrer unteren Wirbelsäule aus in alle Richtungen kühl ausstrahlt. Sie weiß zwar, dass das Leben prächtig, aber trotz allem doch nicht recht überzeugend ist, ganz so, wie ihr die Sänger immer vorkamen an den Abenden, als ihre Eltern sie mit in die Oper geschleppt haben. Prachtvoll, aber unnatürlich, anorganisch, übertrieben. So wird Madeleine Wells´ Protagonistin ihre Existenz betrachten.

Eines Tages nach der Arbeit, als Madrigal in ihrem Kaltfusionkombi die Feuchtigkeit entlangfährt, wird sie von einer plötzlichen Welle der Emotionen überrascht, die sie zwingt, am Schilfrand anzuhalten. Sie lehnt sich steif über das Lenkrad und sucht vergebens nach einer Erklärung für ihren Zustand. Wie oft, fragt sich Madrigal, ist sie an diesem verwunschenen Ort, diesem geradezu schmerzhaft romantischen Ort, vorbeigefahren? War es immer so herzzerreißend malerisch hier, so leuchtend bedeutungsvoll, so geheimnisvoll still?

Und dann, durch einen schmalen Spalt im Schilf, sieht sie es.

Sie hat keine Worte für das, was sie da jetzt sieht, keine ausreichenden Vergleiche, sie weiß nur, dass es die Lösung ist, der Schlüssel zum Rätsel, der Grund, dass sie überhaupt stehen geblieben ist. Es liegt sonderbar auf dem Wasser, ein längliches, graues Etwas, und wenn es seinen langen Hals in die Feuchtigkeit taucht, könnte man es für eine riesige Schlange oder einen Aal halten - aber das ist doch nicht richtig, dieses Wesen ist ganz etwas Unverwandtes: Madrigal hat einfach keinen Bezugsrahmen für das, was sie sieht. Ein Fisch oder eine Schlange hätte Schuppen irgendeiner Art, würde sich viel schneller bewegen, würde den Eindruck machen, Gewicht zu haben. Dieses Tier scheint mit einer Art feinem, zerrissenem Stoff bekleidet zu sein, einer dichten, blaugrauen Decke, vielleicht sogar etwas wie Fell. Von ihrem Platz aus kann Madrigal keine Glieder erkennen. Sie drückt ihr Gesicht gegen das langsam beschlagende Glas der Windschutzscheibe, traut sich kaum zu atmen vor lauter Angst, ihre Aussicht weiter zu vernebeln.

Das Wesen bewegt sich in engen, ziellosen, verspielten Kreisen, gleichgültig dem Auto gegenüber, und als plötzlich Sonnenlicht auf seinen Hals, seine Brust fällt, sieht Madrigal, dass sie sich getäuscht hat. Das Wesen ist mitternachtsblau und rostrot und silbern. Seine scheinbar undifferenzierte Haut besteht in Wirklichkeit aus unzähligen, sich überlappende Segmenten, so klein und präzise, dass sie sogar aus der Nähe wie eine perfekte Einheit aussehen. Madrigal wischt mit dem Ärmel über ihre Augen. Sie möchte die Türe leise öffnen, langsam aussteigen und barfuß und sachte in das kalte, stinkende Wasser waten, um dieses rätselhafte Wesen zu berühren. Sie ist gerade aus ihren flachen Arbeitspumps geschlüpft und hat den Griff der Türe schon in der Hand, als ein zweites Tier herbeischwimmt. Madrigal öffnet die Autotür und in dem Moment geschieht es: das Ereignis, das sie für immer prägen wird.

Das größere der beiden Wesen scheint sich zu entfalten, sich auseinanderzuklappen, in alle Richtungen massiver zu werden auf eine undefinierbare Weise. Es ist plötzlich ein ganz anderes Tier, größer und bunter, von anderer Form. Jetzt hat es auch Glieder: breite, graue Flossen, die...
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Autor

John Wray wurde 1971 in Washington, D. C., als Sohn einer Österreicherin und eines Amerikaners geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin Granta unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.