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Als wir Waisen waren

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
432 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am15.03.2021
England in den Dreißigerjahren: Ganz London schwärmt von Christopher Banks und seinen Erfolgen. Es gibt nur einen Fall, den der Meisterdetektiv bisher nicht aufklären konnte: Das mysteriöse Verschwinden seiner Eltern in Shanghai, der Stadt seiner Kindheit. Beide waren in den Opiumhandel verstrickt: der Vater als Profiteur, die Mutter als erklärte Gegnerin. Als die Erinnerungen an die Zeit, als er Waise wurde, Banks immer häufiger quälen, beschließt er, sich auf den Weg nach Shanghai zu machen, um endlich das größte Rätsel seines Lebens zu lösen.

Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller »Was vom Tage übrigblieb«, der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 50 Sprachen übersetzt. Er erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur. Der Autor lebt in London.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextEngland in den Dreißigerjahren: Ganz London schwärmt von Christopher Banks und seinen Erfolgen. Es gibt nur einen Fall, den der Meisterdetektiv bisher nicht aufklären konnte: Das mysteriöse Verschwinden seiner Eltern in Shanghai, der Stadt seiner Kindheit. Beide waren in den Opiumhandel verstrickt: der Vater als Profiteur, die Mutter als erklärte Gegnerin. Als die Erinnerungen an die Zeit, als er Waise wurde, Banks immer häufiger quälen, beschließt er, sich auf den Weg nach Shanghai zu machen, um endlich das größte Rätsel seines Lebens zu lösen.

Kazuo Ishiguro, 1954 in Nagasaki geboren, kam 1960 nach London, wo er später Englisch und Philosophie studierte. 1989 erhielt er für seinen Weltbestseller »Was vom Tage übrigblieb«, der von James Ivory verfilmt wurde, den Booker Prize. Kazuo Ishiguros Werk wurde bisher in 50 Sprachen übersetzt. Er erhielt 2017 den Nobelpreis für Literatur. Der Autor lebt in London.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641280703
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum15.03.2021
Seiten432 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1929 Kbytes
Artikel-Nr.5491373
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1

Es war im Sommer 1923, kurz nach meinem Abschluss in Cambridge, als ich entschied, meine Zukunft liege in der Hauptstadt, auch wenn meine Tante wünschte, dass ich nach Shropshire zurückkehrte. Und so mietete ich eine kleine Wohnung in den Bedford Gardens 14 b in Kensington. Heute habe ich diese Zeit als meinen schönsten Sommer in Erinnerung. Nach Jahren, die ich umgeben von Kameraden verbracht hatte, in der Schule und in Cambridge, genoss ich es sehr, allein zu leben. Ich erfreute mich an den Londoner Parks, an der Stille des Leseraums im British Museum; ich gönnte mir das Vergnügen, ganze Nachmittage lang durch die Straßen von Kensington zu streifen und Zukunftspläne zu schmieden, wobei ich gelegentlich stehen blieb, voll Bewunderung, dass man hier in England, mitten in dieser großen Stadt, Kletterpflanzen und Efeu an den Fassaden eleganter Häuser emporranken sah.

Auf einem dieser gemächlichen Spaziergänge traf ich zufällig einen alten Schulfreund, James Osbourne, und als ich feststellte, dass wir nahe beieinanderwohnten, schlug ich ihm vor, er solle mich doch besuchen, wenn er das nächste Mal vorbeikomme. Obwohl ich bis dahin noch keinen einzigen Gast empfangen hatte, sprach ich diese Einladung in der Überzeugung aus, meine Wohnung mit Sorgfalt gewählt zu haben. Die Miete war nicht hoch, und meine Hauswirtin hatte die Räume geschmackvoll eingerichtet, sodass sie den Geist einer gemütlichen viktorianischen Vergangenheit wachriefen; im Salon, in den vormittags die Sonne hineinschien, standen ein altes Sofa sowie zwei behagliche Sessel, eine antike Anrichte und ein Bücherschrank aus Eichenholz, in dem sich zerlesene Enzyklopädien befanden - all dies, davon war ich überzeugt, würde die Anerkennung eines Besuchers finden. Außerdem hatte ich, kaum dass ich eingezogen war, in Knightsbridge ein Queen-Anne-Teeservice, verschiedene feine Teesorten und eine große Keksdose erstanden. Als mich dann Osbourne tatsächlich einige Tage später morgens besuchte, konnte ich ihm die kleinen Stärkungen mit einer solchen Selbstverständlichkeit servieren, dass er nie auf den Gedanken gekommen wäre, er sei mein erster Gast.

In der ersten Viertelstunde wanderte Osbourne ruhelos in meinem Salon hin und her, lobte meine Wohnung, betrachtete dieses und jenes und warf in regelmäßigen Abständen einen Blick aus dem Fenster, um alles, was sich unten abspielte, zu kommentieren. Schließlich ließ er sich aufs Sofa fallen, und wir erzählten uns die Neuigkeiten - unsere eigenen und die unserer alten Schulfreunde. Ich erinnere mich, dass wir eine Weile über die Aktivitäten der Gewerkschaften diskutierten, ehe wir eine lange Debatte über deutsche Philosophie führten, für uns eine willkommene Gelegenheit, einander unsere intellektuelle Gewandtheit vorzuführen, die wir auf unseren jeweiligen Universitäten erworben hatten. Dann stand Osbourne auf und ging wieder auf und ab, während er seine verschiedenen Zukunftspläne ausbreitete.

»Ich würde gerne im Verlagswesen arbeiten, weißt du. Zeitung, Zeitschrift, so etwas. Am liebsten würde ich eine eigene Kolumne schreiben. Über politische oder soziale Fragen. Dies für den Fall, wie gesagt, dass ich nicht doch noch beschließe, selbst in die Politik zu gehen. Sag, Banks, hast du wirklich keinerlei Vorstellung, was du machen möchtest? Sieh doch, da draußen, alles wartet auf uns.« Er deutete zum Fenster. »Bestimmt hast du irgendwelche Pläne.«

»Kann schon sein«, sagte ich lächelnd. »Ich habe ein, zwei Dinge im Kopf. Ich werde dir davon erzählen, wenn es so weit ist.«

»Was hast du in der Hinterhand? Komm schon, heraus damit! Ich finde es doch sowieso heraus!«

Doch ich verriet ihm nichts, und kurz darauf hatte ich ihn wieder so weit, dass wir über Philosophie, Poesie oder Ähnliches diskutierten. Gegen Mittag erinnerte sich Osbourne plötzlich an eine Verabredung zum Lunch am Piccadilly und suchte seine Sachen zusammen. Als er gerade gehen wollte, drehte er sich an der Tür noch einmal um und sagte: »Alter Freund, was ich dir noch sagen wollte. Ich gehe heute Abend auf eine Party. Ein Onkel von mir gibt sie, zu Ehren von Leonard Evershott. Der Tycoon, du weißt schon. Sehr kurzfristig, aber vielleicht möchtest du mitkommen. Das meine ich ganz ernst. Ich wollte schon vor einiger Zeit bei dir vorbeischauen, aber es hat nie geklappt. Das Fest findet im Charingworth statt.«

Als ich nicht sofort antwortete, machte er einen Schritt auf mich zu und sagte: »Ich dachte an dich, weil ich mich erinnert habe. Ich habe mich erinnert, wie du mich immer wegen meiner guten Verbindungen aufgezogen hast. Ach, komm schon! Tu nicht so, als hättest du es vergessen! Du hast mich immer gnadenlos ausgefragt. Gute Verbindungen  - was heißt das genau? Nun ja, ich dachte, das wäre für den alten Banks eine gute Gelegenheit, sich einmal selbst die guten Verbindungen anzusehen.« Dann schüttelte er den Kopf, als wäre er in der Erinnerung versunken, und sagte: »Mein Gott, zu Schulzeiten warst du wirklich ein merkwürdiger Vogel.«

Ich glaube, an diesem Punkt stimmte ich schließlich seinem Vorschlag für den Abend zu - einen Abend, der sich noch als bedeutungsvoller erweisen sollte, als ich es mir damals habe vorstellen können - und geleitete ihn hinaus, ohne ihm im Mindesten den Groll zu zeigen, den ich bei seinen letzten Worten empfand.

Mein Ärger wurde erst größer, als ich mich wieder hingesetzt hatte. Ich hatte sofort geahnt, worauf Osbourne anspielte. Tatsache war, dass ich während der Schulzeit wiederholt hatte sagen hören, Osbourne habe »gute Verbindungen«. Eine Formulierung, die unweigerlich benutzt wurde, wenn Leute über ihn sprachen, und ich glaube, auch ich wandte sie auf ihn an, wann immer sie mir angebracht schien. Tatsächlich faszinierte mich der Gedanke, er sei auf geheimnisvolle Weise mit Leuten der höheren Gesellschaftsschichten verbunden, auch wenn er nicht anders aussah und sich nicht anders verhielt als wir Übrigen. Wie auch immer, ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ihn »gnadenlos ausgefragt« haben soll, wie er behauptet hatte. Richtig ist, dass ich viel über dieses Thema nachdachte, als ich vierzehn oder fünfzehn war, doch Osbourne und ich waren uns in der Schulzeit nicht besonders nahe, und ich habe ihn, soweit ich mich erinnere, nur ein einziges Mal persönlich darauf angesprochen.

Es war ein nebliger Morgen im Herbst, und wir beide saßen auf einem niedrigen Mäuerchen vor einem Landgasthaus. Damals besuchten wir, glaube ich, die fünfte Klasse. Wir waren als Streckenposten bei einem Querfeldeinlauf eingesetzt und warteten darauf, dass die Läufer aus dem Nebel auftauchten, der über einem nahe gelegenen Feld hing, sodass wir ihnen die richtige Route, einen matschigen Weg hinunter, weisen konnten. Da wir die Läufer nicht so rasch erwarteten, konnten wir in Ruhe miteinander plaudern. Ich bin sicher, dass ich Osbourne bei dieser Gelegenheit nach seinen »guten Verbindungen« fragte. Osbourne, der trotz seines Reichtums von Natur aus bescheiden war, versuchte, das Thema zu wechseln. Doch ich blieb beharrlich, bis er schließlich sagte:

»Ach, Banks, hör doch auf damit. Das ist doch alles Unsinn, da gibt es nichts zu analysieren. Man kennt ganz einfach Leute. Man hat Eltern, Onkel und Freunde der Familie. Ich weiß nicht, warum du dir darüber den Kopf zerbrichst.« Als ihm dann sehr schnell bewusst wurde, was er gesagt hatte, drehte er sich zu mir um und berührte meinen Arm. »Tut mir schrecklich leid, alter Kumpel. Das war sehr taktlos von mir.«

Dieser Fauxpas schien Osbourne viel mehr zu peinigen als mich. Es ist sehr gut möglich, dass er ihm all die Jahre auf der Seele lastete, sodass seine Frage, ob ich ihn an jenem Abend in den Charingworth Club begleiten wolle, in gewisser Weise der Versuch einer Wiedergutmachung war. Auf jeden Fall war ich an jenem nebligen Vormittag überhaupt nicht verstimmt über seine zugegebenermaßen gedankenlose Bemerkung. Was mich wahrhaftig irritiert hatte, war der Umstand, dass meine Schulfreunde, die sonst über jedes Unglück scherzen konnten, das anderen zustieß, tiefen Ernst bewahrten, als sie zum ersten Mal hörten, dass ich keine Eltern hatte. Auch wenn es merkwürdig klingen mag: Die Tatsache, dass ich ohne Eltern war - und abgesehen von meiner Tante in Shropshire auch ohne nahe Verwandte -, hatte für mich damals schon lange aufgehört, ein großes Problem zu sein. Wie ich meinen Kameraden häufig darlegte, hatten wir doch in einem Internat wie dem unsrigen alle lernen müssen, ohne Eltern auszukommen, und daher war meine Position keineswegs so einzigartig. Dennoch erscheint es mir, wenn ich heute zurückblicke, gut möglich, dass meine Faszination für Osbournes »gute Verbindungen« letztlich etwas mit dem zu tun hatte, was ich damals als das völlige Fehlen von Verbindungen zu der Welt außerhalb von St. Dunstan empfand. Dass ich, wenn es so weit wäre, solche Verbindungen knüpfen und meinen Weg machen würde, daran hatte ich keinen Zweifel. Doch möglicherweise glaubte ich, von Osbourne Grundlegendes über die Art und Weise lernen zu können, wie diese Dinge funktionieren.

Doch wenn ich eben sagte, dass Osbournes Worte, als er meine Wohnung verließ, mich in gewisser Weise verletzten, so will ich das nicht darauf bezogen wissen, dass er mich auf meine »Befragung« Jahre zuvor ansprach. Woran ich eher Anstoß nahm, war sein beiläufiges Urteil, ich sei »zu Schulzeiten so ein merkwürdiger Vogel« gewesen.

Es ist mir immer ein Rätsel geblieben, wie Osbourne an jenem Morgen so etwas über mich sagen konnte, da ich mich meines Wissens doch perfekt in das...

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