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Leben zwischen den Geschlechtern

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Christoph Links Verlagerschienen am24.09.20131. Auflage
Etwa 100 000 Menschen in Deutschland sind intersexuell. Manche sehen eindeutig weiblich aus - oft schön wie Models - und haben doch weder Gebärmutter noch Eierstöcke, anderen Mädchen wächst in der Pubertät ein Penis. Bei Jungen hat das Geschlechtsteil mitunter eine so ungewöhnliche Form, daß Mediziner empfehlen, daraus eine Scheide zu konstruieren und das Kind als Mädchen aufwachsen zu lassen - nur drei Möglichkeiten in einer Fülle von Formen der Intersexualität, die im Roman 'Middlesex' nun auch erfolgreich Eingang in die Literatur gefunden hat.
Da die Gesellschaft noch kein drittes Geschlecht zuläßt, treffen Eltern und Chirurgen oft frühzeitig eine Entscheidung. War der Entschluß falsch, kann das für die Betroffenen mit großen persönlichen Dramen verbunden sein.
Ulla Fröhling lernte viele Intersexuelle kennen, die von ihrem Leben, ihren Kämpfen, Konflikten und dem wachsenden Selbstbewußtsein der Intersex-Bewegung berichten. Einige von ihnen sprechen zum ersten Mal über diesen Tabu-Bereich. Interviews mit Medizinern, Sexualwissenschaftlern, Therapeuten, Informationen über Genetik und ein umfangreicher Service-Teil ergänzen dieses erste deutsche Sachbuch zum Thema.
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Produkt

KlappentextEtwa 100 000 Menschen in Deutschland sind intersexuell. Manche sehen eindeutig weiblich aus - oft schön wie Models - und haben doch weder Gebärmutter noch Eierstöcke, anderen Mädchen wächst in der Pubertät ein Penis. Bei Jungen hat das Geschlechtsteil mitunter eine so ungewöhnliche Form, daß Mediziner empfehlen, daraus eine Scheide zu konstruieren und das Kind als Mädchen aufwachsen zu lassen - nur drei Möglichkeiten in einer Fülle von Formen der Intersexualität, die im Roman 'Middlesex' nun auch erfolgreich Eingang in die Literatur gefunden hat.
Da die Gesellschaft noch kein drittes Geschlecht zuläßt, treffen Eltern und Chirurgen oft frühzeitig eine Entscheidung. War der Entschluß falsch, kann das für die Betroffenen mit großen persönlichen Dramen verbunden sein.
Ulla Fröhling lernte viele Intersexuelle kennen, die von ihrem Leben, ihren Kämpfen, Konflikten und dem wachsenden Selbstbewußtsein der Intersex-Bewegung berichten. Einige von ihnen sprechen zum ersten Mal über diesen Tabu-Bereich. Interviews mit Medizinern, Sexualwissenschaftlern, Therapeuten, Informationen über Genetik und ein umfangreicher Service-Teil ergänzen dieses erste deutsche Sachbuch zum Thema.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783862842469
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum24.09.2013
Auflage1. Auflage
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse726 Kbytes
Artikel-Nr.5600956
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Intersexuelle - Die Dritten im Bunde

Weltweit gibt es und zu allen Zeiten gab es Intersexuelle: Menschen, die bei ihrer Geburt die Hebamme in Verwirrung bringen, weil sie auf die allererste Frage »Was ist es denn?« nur antworten kann: »Es ist ein gesundes Kind.« Ob Junge oder Mädchen, weiß sie nicht so recht. Jedes 1000. bis 2000. Neugeborene, so schätzen selbst vorsichtige Experten, zeigt sich diesem ersten Blick weder als eindeutig weiblich noch als zweifellos männlich. Bei einer weiteren Gruppe, vielleicht sind es ebenso viele, ruft die Hebamme ohne jedes Zögern: »Es ist ein Mädchen!« Doch diese Gewißheit hält nur etwa bis zur Pubertät an. Dann setzen Veränderungen ein, mit denen kaum jemand gerechnet hätte: Manche Mädchen entwickeln sich nicht zu Frauen weiter, andere scheinen sich in Jungen zu verwandeln. Plötzlich steht das ganze Leben für diese Kinder und Jugendlichen in Frage.

Vor 2000 Jahren tauchte der Sohn von Hermes und Aphrodite, schon damals eine Gestalt der Mythologie, in den Metamorphosen des Dichters Ovid1 auf. Dem 15jährigen begegnete an einer Quelle die Nymphe Salmacis, die sich unsterblich in den Kleinen verliebte und die Götter um Verschmelzung mit ihm bat, »so daß sie weder Knabe noch Frau genannt werden konnten und wie keines oder wie beides schienen«. Hermaphroditus eben. Die Metamorphose, die Veränderung geschah in der Pubertät des Jungen, den Sexualität - zumal mit dieser aufdringlichen Nymphe - überhaupt noch nicht interessierte. Pubertät, eine verletzliche Phase des Übergangs, der Verwandlung. Dieser Mythos inspiriert seither die Phantasie von Dichtung, bildenden Künsten und - nicht zuletzt - Sexualwissenschaften. Ich vermute allerdings, daß die lüsterne Nymphe Salmacis nie existiert hat; Aphrodite und Hermes erfanden sie, um zu verbergen, was wirklich geschehen war. Verschiedenen Quellen zufolge waren die beiden nämlich Kinder desselben Vaters: Uranus. Aphrodite ist die Göttin der Liebe, genannt »die Schaumgeborene«, - dieser Schaum bildete sich übrigens um das abgeschnittene Geschlechtsteil von Uranus, das auf den Wellen des Meeres trieb; so dicht liegen Liebe und Haß, Zerstörung und Geburt beieinander. Vater Uranus muß diesen beiden Kindern wohl im Chromosomensatz seines Erbguts ein besonderes Gen mitgegeben haben. Ein Gen mit einer Macke. Dieses Gen war rezessiv vererblich, das heißt, es konnte seinen speziellen Auftrag nur erfüllen, wenn es bei der Zeugung auf ein gleiches Gen traf. Dann aber schuf es ein Wesen, das weder Mann noch Frau und wie keines oder wie beides schien. Und da bot eine Geschwisterliebe wie die von Hermes und Aphrodite natürlich optimale Bedingungen. Hermaphrodit - das ist der Beweis - trug seinen Namen von Geburt an, nicht erst seit der Pubertät, als die Verwandlung begann und sichtbar wurde, was sonst noch alles in ihm steckte.

Geschwisterliebe als Transporteur eines mutierten Gens ist auch die Quelle, der Ursprung von Calliope/Cal Stephanides. Calliope ist Heldin - und Held - im mitreißenden Romanepos Middlesex des griechisch-amerikanischen Autors Jeffrey Eugenides.2 Ihr besonderes Gen sitzt auf dem Chromosom Nr. 5, Mediziner katalogisieren Calliope als 5-alpha-Reduktase-Pseudohermaphroditen.* Sie aber widersetzt sich allen Normierungsversuchen und wird in der Pubertät zum Beinahe-Jungen Cal.

In den Jahrtausenden zwischen diesen beiden Dichtungen gab es viele Mythen, aber auch viele Berichte über reale Hermaphroditen. Jeanne d´Arc, heißt es, hätte XY-Chromosomen gehabt, sei also genetisch männlich gewesen, doch ihre Körperzellen hätten nicht auf Androgene reagieren und daher keine Männlichkeit produzieren können. Lebte sie heute, dann wäre sie vielleicht Mitglied der Selbsthilfegruppe XY-Frauen - statt Krieg gegen England zu führen. Auch der Amerikanerin Wallis Simpson - König Edward VIII. zog sie dem britischen Thron vor - wird diese Androgenresistenz (AIS) nachgesagt. Manchen Schauspielerinnen, Sportlerinnen und Models ebenfalls. Abwegig ist das nicht, denn eine erstaunliche Folge dieser speziellen Genveränderung ist perfekte Weiblichkeit - äußerlich jedenfalls: schlanke, großgewachsene Frauen mit dichten, kräftigen Haaren, wunderbar reiner Haut und schönen Brüsten. Geradezu liebevoll singt die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Natalie Angier in ihrem Buch Frau3 eine Hymne auf die AIS-Frauen und fegt dabei reihenweise Vorurteile über Bord, wie oder was Frau sei.

Der Schein trügt also: Männliche Chromosomen produzieren nicht immer männliche Körper. Weibliche Körper können männliche innere Geschlechtsorgane beherbergen. Oder ein wenig von beiden. In unterschiedlichen Mischungen. Geschlecht ist nicht gleich Identität. Sexualität ergibt sich nicht automatisch aus dem Geschlecht. Weibliche Erziehung ist kein Garant für Weiblichkeit. Sogenannte geschlechtsanpassende Operationen an intersexuellen Kindern sind es ebenfalls nicht.

Dieser kurze Überblick soll eines zeigen: daß es den Intersexuellen nicht gibt. Eine Vielzahl von Ursachen kann dazu führen, daß das körperliche Geschlecht eines Menschen sich nicht in die Richtung entwickelt, die seine genetische Ausstattung oder die seiner Keimdrüsen vermuten lassen. Die Entwicklungen sind unterschiedlich, die Auswirkungen auch. Die Lebenswege ebenfalls. Die Traumatisierungen durch medizinische Einstellungen, Ein- und Übergriffe allerdings ähneln sich oft.

Oberflächlich betrachtet, führen die meisten Intersexuellen ein ganz normales Leben. 80 000 bis 100 000 Intersexuelle, vielleicht noch mehr, leben in der Bundesrepublik. Wahrscheinlich ist Ihnen schon jemand begegnet oder wohnt vielleicht in Ihrer Nähe, ohne daß Sie es wissen, möglicherweise Ihre Anwältin, Ihr Hauswirt, das schlanke junge Mädchen, das morgens durch Ihre Straße joggt. Die meisten verbergen ihre Besonderheit und sprechen kaum darüber. Vielleicht auch nie. Sie würden sie nicht erkennen. Viele von ihnen haben erlebt, daß sich unser Sozialverhalten manchmal nicht besonders weit von dem unzivilisierterer Tiere, etwa der Hühner, entfernt hat. Ohne viel Federlesens picken die reinweißen Hühner ein blau gefärbtes Huhn tot. Warum? Weil es anders ist. Natürlich muß man hier die Frage stellen, wer das Huhn blau gefärbt hat. Und warum. Aber das Andere kann auch schön sein: Die Mutter eines intersexuellen Kindes machte mich darauf aufmerksam, daß wir alle uns über ein vierblättriges Kleeblatt freuen, das doch auch eine Laune der Natur ist, denn normaler Klee hat nur drei Blätter.4

Einige seriöse Fernsehdokumentationen zu Intersexualität wurden in den letzten Jahren produziert.5 Aber es gab auch schon das eine oder andere TV-Team, das - auf der Suche nach blauen Hühnern - enttäuscht von hinnen zog, weil ihnen die Intersexuellen, die sie kennenlernten, irgendwie zu normal erschienen. Gar nicht so schillernd, erregend, wie sie es sich vorgestellt hatten.
Schwarze Medizin
Die meisten Intersexuellen verbergen diesen Aspekt ihrer Person, weil Ärzte ihnen einschärften, ihre anatomischen Eigenheiten geheimzuhalten, um nicht im sozialen Abseits zu landen. Die Tabuisierung war so dogmatisch, so einschneidend, daß viele sich kaum gestatteten, über sich selbst nachzudenken. Einige wurden im Laufe ihres Lebens so tief beschämt und gedemütigt, daß sie sich weit in sich selbst zurückzogen. Oder sich das Leben nahmen. Es ist journalistische Pflicht, über Methoden dieser schwarzen Medizin zu informieren. Wie auch berichtet werden muß, daß fortschrittliche Mediziner sich heute davon distanzieren. Doch auch sie gestehen ein, daß manche Kollegen noch vorgehen wie in früheren Jahrzehnten.
Geschlechtliche Identität - ein soziales Konstrukt?
Dieses Buch stellt mehr Fragen, als es Antworten geben kann. Daß diese Fragen endlich gestellt werden, verdanken wir intersexuellen Menschen, die seit Mitte der neunziger Jahre zuerst in den USA, dann in Großbritannien und nun auch in Deutschland auf ihre Situation aufmerksam machen. Eine Antwort immerhin steht fest: Die Medizin hat sich an Intersexuellen über lange Zeit hinweg schuldig gemacht. Nicht nur in Deutschland, aber gerade in Deutschland hat die Medizin eine schwarze Tradition, die auf nationalsozialistischem Denken fußt. Nur wenige führende Ärzte der Nazizeit praktizierten nicht mehr nach 1945; manche übernahmen die Ausbildung der nächsten Generation und prägten die jungen Forscher und Mediziner. Nur so kann ich mir einige der ärztlichen Verhaltensweisen erklären, die in diesem Buch geschildert werden.

In den sechziger Jahren hatte es ausgesehen, als sei das »Problem der Zwitter« gelöst: durch chirurgische Anpassung zur Auslöschung. Und so war es dazu gekommen: Die Annahme, daß die geschlechtliche Identität des Menschen ein soziales Konstrukt ist, durch das Umfeld geprägt, setzte sich durch. Die Frauenbewegung griff dies auf: »Als Frau wird man nicht geboren, zur Frau wird man gemacht« wurde Simone de Beauvoir - nicht ganz korrekt - zitiert. Weitergedacht bedeutete dieses, Erziehung könnte aus einem biologischen Mädchen auch einen Jungen machen. Und umgekehrt. Wie günstig. Zwar wurden die technischen Möglichkeiten der Mikrochirurgie kontinuierlich verfeinert, aber immer noch galt es als leichter, aus einem intersexuellen Kind ein Mädchen zu konstruieren als einen Jungen. Wenn also die chirurgische Vorgabe »Mädchen« durch Erziehung unterstützt würde, müßte dann nicht...
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