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Das explodierte Ich

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Christoph Links Verlagerschienen am09.03.20151. Auflage
»Es sind die einfachen, aber großen Fragen, die mich immer wieder interessieren: Wie reagieren Menschen auf neue Situationen, wie gehen sie mit ihnen um, und wie gehen sie schließlich aus ihnen hervor? In der Biografie jedes Einzelnen spiegelt sich die Welt.« (Jana Simon)
Jana Simon erzählt von Waris Dirie, die niemandem gefallen will; von der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein, die Kälte verabscheut; von Angela Merkel, die Lärm nicht mag; von Hollywood-Produzent Jerry Weintraub, der schon zum Frühstück Wodka trinkt; von Uliana aus Sibirien, die in Indien modelt; von zwei Thüringer Polizisten, die denken, sie hätten den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) stoppen können; von einem deutschen Anwalt, der den US-Verteidigungsminister anzeigt.
Es sind Geschichten von Zusammenbrüchen und Sinnkrisen, dem Untergang alter Gewissheiten und der Orientierung in unwägbaren Zeiten, aber auch davon, wie Menschen sich verändern und neu aufbrechen. Die preisgekrönte Journalistin und Bestseller-Autorin Jana Simon legt in ihrem neuen Buch 16 erstaunliche Porträts vor.
»Wer Jana Simon liest, verabschiedet sich von seinen ­Vorurteilen.« (Stephan Lebert, ZEIT)

Jana Simon wurde 1972 in Potsdam geboren und wuchs in Ost-Berlin auf. Nach dem Abitur arbeitete sie als Jeans-Verkäuferin und Barfrau und verbrachte ein halbes Jahr in Perugia. Ab 1992 studierte sie Osteuropastudien, Politik und Publizistik in Berlin, London und Moskau.Jana Simon arbeitet als Reporterin beim Tagesspiegel in Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR2,99

Produkt

Klappentext»Es sind die einfachen, aber großen Fragen, die mich immer wieder interessieren: Wie reagieren Menschen auf neue Situationen, wie gehen sie mit ihnen um, und wie gehen sie schließlich aus ihnen hervor? In der Biografie jedes Einzelnen spiegelt sich die Welt.« (Jana Simon)
Jana Simon erzählt von Waris Dirie, die niemandem gefallen will; von der Eisschnellläuferin Claudia Pechstein, die Kälte verabscheut; von Angela Merkel, die Lärm nicht mag; von Hollywood-Produzent Jerry Weintraub, der schon zum Frühstück Wodka trinkt; von Uliana aus Sibirien, die in Indien modelt; von zwei Thüringer Polizisten, die denken, sie hätten den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) stoppen können; von einem deutschen Anwalt, der den US-Verteidigungsminister anzeigt.
Es sind Geschichten von Zusammenbrüchen und Sinnkrisen, dem Untergang alter Gewissheiten und der Orientierung in unwägbaren Zeiten, aber auch davon, wie Menschen sich verändern und neu aufbrechen. Die preisgekrönte Journalistin und Bestseller-Autorin Jana Simon legt in ihrem neuen Buch 16 erstaunliche Porträts vor.
»Wer Jana Simon liest, verabschiedet sich von seinen ­Vorurteilen.« (Stephan Lebert, ZEIT)

Jana Simon wurde 1972 in Potsdam geboren und wuchs in Ost-Berlin auf. Nach dem Abitur arbeitete sie als Jeans-Verkäuferin und Barfrau und verbrachte ein halbes Jahr in Perugia. Ab 1992 studierte sie Osteuropastudien, Politik und Publizistik in Berlin, London und Moskau.Jana Simon arbeitet als Reporterin beim Tagesspiegel in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783862842902
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum09.03.2015
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5600990
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
DIE HOHE KUNST DES »HANGING AROUND«
Liebeserklärung an das Porträt

Es ist Herbst 2006, ich knie auf dem Boden meines Arbeitszimmers, um mich herum liegen aufgeschlagene Bücher, Protokolle, Zeitungsartikel, Blöcke mit meinen Mitschriften, ab und an gehe ich zum Laptop, um ein paar Wortgruppen oder Sätze zu notieren. Die wenigen Zeilen, die ich schreibe, sollen verbergen, dass ich am Ende bin, fertig, mich in meinem Material komplett verloren habe. Mehr als ein dreiviertel Jahr recherchiere ich schon an der Geschichte über den Anwalt Wolfgang Kaleck und seine Anzeige gegen den US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen Folter. In einer Woche soll sie erscheinen.

Ich bin in Panik, im Stillen spiele ich verschiedene Varianten durch, wie ich den Redakteuren mein Scheitern erklären könnte: Krankheit, Computerabsturz, Rohrbruch. Das ist der Augenblick kurz vor dem Schreiben, in dem die Zweifel und die Fragen triumphieren: Wen soll das interessieren? Habe ich tatsächlich mit allen Wichtigen gesprochen, müsste ich nicht noch diesen oder jenen anrufen, dieses oder jenes lesen? Vielleicht könnte ich auch erstmal den Schreibtisch aufräumen. Ich fühle mich wie nach einem sanften Hirnschlag, alle Gedanken im Taumel, verirrt im Leben meiner Protagonisten. Am Schluss bin ich jedes Mal fast überrascht, dass tatsächlich ein Text entsteht, der schließlich gedruckt wird.

Acht Jahre später, im Juni 2014, sitze ich in Hamburg im gläsernen Spiegel-Palast beim Reporterforum, einem Netzwerk von Journalisten, die wie ich Reportagen schätzen. Ein Kollege vom Spiegel redet über »die Kunst des Schwärmens« und über Porträts. Diese seien eine Form des »Reporterunwesens«, in der sich Reporter mit einer »gewissen Unkenntnis« dem Mittel der Einfühlung bedienten und psychologisierend die Innensicht eines Menschen annähmen. Es klingt abfällig - der Reporter erscheint als etwas naives, arbeitsscheues Wesen, das Porträt als ein Stilmittel für Minderbemittelte. Der Kollege ist Feuilletonist und beklagt, dass kaum noch jemand aufgrund seines Schaffens beurteilt und beschrieben werde, stets gebe es noch einen Hausbesuch beim Protagonisten. Überspitzt formuliert: Vollkommen erfassen könnten nur Kritiker, Feuilletonisten einen Künstler und sein Werk.

Es ist einer von vielen Angriffen der vergangenen Jahre auf die Reportage und das Porträt. Sie wurden totgesagt, totgeschrieben: Sie seien zu ambitioniert literarisch, ihre Protagonisten gecastet, von der Wirklichkeit weit entfernt, und die Schreiber hätten keine Haltung. Manches davon stimmt. Die Reportage und auch das Porträt haben sich verändert, oft wirken sie eigenartig glatt, aller Widersprüche, Zweifel und Fragen beraubt. Vor allem aber gibt es sie immer seltener. Damit meine ich nicht den Hausbesuch, die einmalige Begegnung oder das gemeinsame Kaffeetrinken. Die Reportage und besonders das Porträt kosten Zeit, Geld und Kraft. Nur wenige Redaktionen können oder wollen sich das heute noch leisten. Ein Grund mehr, um dem Porträt nicht nur meine Liebe zu erklären, sondern auch seine Bedeutung zu betonen.

Im Winter 1996 /97 beginne ich gerade als Reporterin zu arbeiten, über mehrere Monate verfolge ich am Berliner Landgericht einen Mordprozess. Dabei lerne ich vor allem die Zuschauer kennen - eine junge Frau, die sich in den Angeklagten verliebt hat, einen ehemaligen Mörder, der sich durch diese Verhandlung auf den neuesten Stand der Ermittlungsmöglichkeiten bringt, einen Psychologen und eine Schöffin, die wie Verbrechensjunkies durch die Säle ziehen. Am Ende porträtiere ich nicht den Mörder, sondern die Zuschauer.

Es ist eine meiner ersten Geschichten und das erste Mal, dass ich eine Ahnung davon bekomme, wie viel Arbeit und Zeit Porträts bedeuten: Stunden irgendwo herumsitzen, zuhören, beobachten. Der amerikanische Reporter Gay Talese nennt das »the fine art of hanging around«, die hohe Kunst des »Herumhängens« - das Warten in Wohnzimmern, auf Konferenzen, vor Haustüren -, stets abhängig von der Gunst der Protagonisten. Es ist mir bis heute sehr unangenehm, bei jemandem zu klingeln, den ich nicht kenne und der mich nicht eingeladen hat. Manchmal gehört das zum Job dazu.

Das Porträt ist die Form der Reportage, bei der sich das Thema, das Erlebte, die Geschichte, in einem Menschen verdichtet. Für ein Porträt treffe ich nicht nur mehrmals meine Protagonisten, sehe ihre Filme, lese ihre Bücher und das, was andere über sie geschrieben haben, sondern spreche im Schnitt auch mit zehn bis zwanzig Menschen aus ihrem Umfeld. Das gebietet der Respekt. Manche begleite ich länger als ein Jahr, wie die jungen Männer aus der Zelle 221 des Jugendgefängnisses. Bei Reportagen, die auch politisch brisant sind, wie der über die Polizisten, die das NSU-Trio verfolgten, oder Wolfgang Kalecks Folteranzeige, kommen noch Aktenlektüre und Besuche in Untersuchungsausschüssen hinzu. Um überhaupt spannende Stoffe und geeignete Gesprächspartner zu finden, muss ich zuvor lange mit vielen verschiedenen Menschen reden. Manchmal ergibt auch eine Geschichte die nächste. Das Porträt über die Angehörige eines NSU-Opfers führte mich zum Beispiel schließlich zu den beiden Beamten, die das NSU-Trio gern verhaftet hätten.

Für mich als Reporterin sind die Menschen ein Glück, die vor nichts Angst haben, die Furchtlosen, denen es egal ist, was andere über sie denken und wie sie wirken. In diesem Buch trifft das nur auf den Filmproduzenten Jerry Weintraub zu. Er ruft persönlich an, und als ich ihn eines Vormittags in seinem Haus in Beverly Hills besuche, ist er noch betrunken oder schon wieder. Nie höre ich von ihm den Satz: »Das dürfen Sie aber nicht schreiben.« Menschen wie Weintraub machen extrem gute Laune.

Das Gegenteil davon ist das ehemalige Model Waris Dirie. Sie umgibt sich wie viele Prominente mit einem Kokon von Menschen, die sie vielleicht zu Recht schützen sollen, aber jede direkte Kommunikation unmöglich machen. Ich reise bis nach Dschibuti an einen Filmset, um mit ihr zu sprechen. Sie sitzt im Korbsessel ihres Hotels und hat keine Lust zum Reden oder vielleicht doch. Jede Frage wird zur Zumutung. Ich fühle mich als Eindringling. Es ist nicht klar, ob sie mir im nächsten Augenblick eine knallt oder mich umarmt. Aus Verlegenheit und um beschäftigt zu wirken, schreibe ich meinen halben Block voll und weiß, nachher kann ich alles wegschmeißen. Dirie sieht traurig aus, verletzlich, und sie schillert in jeder Facette ihrer Persönlichkeit. Auf dieser Reise flirtet sie mit dem Präsidenten, greift bei einer Gesellschaft öffentlich die Gastgeber an und geht in der Wüste joggen. Aberwitzige Situationen: Dirie dabei zu beobachten, ist großartig.

Die meisten Porträts in diesem Buch waren »meine Idee«, die anderen entstanden durch Vorschläge der ZEIT-Redaktion: wie zum Beispiel die Geschichte über Angela Merkel. Zu Beginn quälten mich damals nur zwei Fragen: Wie sollte ich über eine Kanzlerin schreiben, über die schon alles gesagt und geschrieben wurde? Und: Was könnte ich noch Neues beitragen? Die Redaktion hatte wohl im Stillen gehofft, dass ich durch meine ostdeutsche Herkunft über eine Art Geheimwissen verfüge. Es hatten aber auch schon sehr viele Ostdeutsche über Angela Merkel berichtet. Die Kanzlerin selbst sagt so gut wie nichts, und ihr Umfeld wird für das laute Schweigen allgemein bewundert. Ich verbrachte sehr viele Stunden mit Menschen, die alle nur eins gemeinsam hatten, sie gaben sich Mühe, so gut wie keinen zitierfähigen Satz zu formulieren. Und wenn einer mehr erzählte, konnte ich sicher sein, dass er Angela Merkel schon lange nicht mehr gesehen und gesprochen hatte. Von diesen Recherchen findet sich am Ende vielleicht ein Satz im Text, die meisten meiner Gesprächspartner tauchen gar nicht auf. Die vielen Treffen und Gespräche verdichten sich zu etwas, das ich »Hintergrundrauschen« nennen würde. Ein Ton, ein Gefühl, das man für einen Menschen bekommt. Eine Ahnung davon, was ihn treiben, was ihn ausmachen, wer er sein könnte.

Was die meisten Porträtierten in diesem Buch verbindet: In ihrem Leben gibt es einen Wendepunkt - eine Begebenheit, eine Erfahrung, sei es durch politische, historische oder persönliche Umbrüche, die fast alles für sie verändert, die sie zwingt, ihr Leben noch einmal neu zu denken. Ihre Persönlichkeit, ihr Ego, ihr Ich sind angegriffen, sie müssen oder mussten um ihr Selbstverständnis ringen. Auf sehr verschiedene Weise versuchen sie, die gewandelte Wirklichkeit zu verstehen und sich in ihr zu orientieren.

Es sind die einfachen aber großen Fragen, die mich immer wieder interessieren: Wie reagieren Menschen auf neue Situationen, wie gehen sie mit ihnen um, und wie gehen sie schließlich aus ihnen hervor? In der Biografie jedes Einzelnen spiegelt sich die Welt. Oder wie es die russische Reporterin Swetlana Alexijewitsch in ihrem Porträtband »Secondhand-Zeit« beschreibt: »Ich aber sehe die Welt mit den Augen der Menschenforscherin, nicht mit denen eines Historikers. Ich bestaune den Menschen. (â¦) Dieser Maßstab hat mich schon immer fasziniert - der Mensch ⦠der einzelne Mensch. Denn im Grunde passiert alles dort.«

Einen Menschen darzustellen, ihn zu beurteilen, zu deuten, ist immer auch eine Anmaßung. Ich kann nicht behaupten, ich wüsste genau, wer und wie der andere tatsächlich ist. Ich kann mich nur bemühen, ihn in all seinen Widersprüchen zu zeigen und mich nicht als Richterin...
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Autor

Jana Simon: Jahrgang 1972, studierte u. a. Osteuropawissenschaften in Berlin und London, arbeitete von 1998 bis 2004 als Reporterin beim Tagesspiegel und ist seit 2004 Autorin bei der Zeit. Bei Ch. Links veröffentlichte sie 2004 einen ersten Band ihrer Reportagen (»Alltägliche Abgründe«), 2013 erschien »Sei dennoch unverzagt. Gespräche mit meinen Großeltern Christa und Gerhard Wolf«. Die vielfach ausgezeichnete Journalistin lebt mit ihrer Familie in Berlin.