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Spurlos verschwunden

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
208 Seiten
Deutsch
Christoph Links Verlagerschienen am25.02.20161. Auflage
Gessen, Schmirchau, Lichtenberg, Culmitzsch, Katzendorf, Sorge - das sind die Namen von Dörfern im Osten Thüringens, die nach dem Zweiten Weltkrieg dem Uranbergbau in der SBZ /DDR weichen mussten. Dort wurde unter höchster Geheimhaltung das Erz für Moskau abgebaut - für die Herstellung sowjetischer Atomwaffen und für die Kernenergie. Als die Bagger anrückten und die Dörfer zerstörten, war ein öffentlicher Protest der Bewohner unmöglich. Wer sich wehrte, hatte mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen.
Annerose Kirchner hat Zeitzeugen befragt, die froh waren, endlich Gehör zu finden. Sie erzählen die Geschichte der verschwundenen Dörfer und ihrer Bewohner, berichten von den Brüchen in den Biografien. Die Autorin ordnet die Ereignisse in die DDR-Geschichte ein und stellt weitergehende Fragen: Was ist aus den Menschen geworden, die damals zwangsumgesiedelt wurden und ihre Heimat verloren? Wie sieht die Landschaft heute aus?
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextGessen, Schmirchau, Lichtenberg, Culmitzsch, Katzendorf, Sorge - das sind die Namen von Dörfern im Osten Thüringens, die nach dem Zweiten Weltkrieg dem Uranbergbau in der SBZ /DDR weichen mussten. Dort wurde unter höchster Geheimhaltung das Erz für Moskau abgebaut - für die Herstellung sowjetischer Atomwaffen und für die Kernenergie. Als die Bagger anrückten und die Dörfer zerstörten, war ein öffentlicher Protest der Bewohner unmöglich. Wer sich wehrte, hatte mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen.
Annerose Kirchner hat Zeitzeugen befragt, die froh waren, endlich Gehör zu finden. Sie erzählen die Geschichte der verschwundenen Dörfer und ihrer Bewohner, berichten von den Brüchen in den Biografien. Die Autorin ordnet die Ereignisse in die DDR-Geschichte ein und stellt weitergehende Fragen: Was ist aus den Menschen geworden, die damals zwangsumgesiedelt wurden und ihre Heimat verloren? Wie sieht die Landschaft heute aus?
Details
Weitere ISBN/GTIN9783862843350
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum25.02.2016
Auflage1. Auflage
Seiten208 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5601012
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Abgebaggerte Dorfzeit
I

Ein kalter, verregneter Sonntag im Dezember 2008. Über die Elsteraue nahe Meuselwitz treibt Nebel. Trotz des Wetters kann ich von der B 180 die beiden gigantischen weißen Dampfsäulen des Braunkohlenkraftwerks Lippendorf am nördlichen Horizont gut ausmachen. Ein Bild, das mir aus der Ferne bereits vertraut ist, denn inzwischen habe ich mehrmals die rund 350 Meter hohe sanierte Tafelhalde des einstigen Wismut-Bergbaubetriebes Beerwalde am Rande der Gemeinde Löbichau nördlich der A 4 bestiegen und vom Plateau aus bei klarer Sicht die Lippendorfer »Rauchzeichen« entdecken können. Heute lasse ich den wachsenden grünen »Zukunftswald« der aufgeforsteten Halde Beerwalde mit 80 000 Bäumen, darunter Traubeneichen, Winterlinden, Bergahorn, Vogelkirsche, Lärchen und Douglasien, hinter mir und fahre durchs Altenburger Land. Von Gera über Nedissen, Großpörthen, weiter nach Meuselwitz und Lucka. Mein Ziel heißt Heuersdorf, Ortsteil von Regis-Breitingen. Der kleine Ort in Sachsen, nahe der thüringischen Landesgrenze, machte weltweit Schlagzeilen - als Dorf des jahrelangen, doch vergeblichen Widerstandes gegen die »bergbaubedingte Umsiedlung« und durch die spektakuläre Umsetzung der denkmalgeschützten 750 Tonnen schweren Emmauskirche nach Borna im Herbst 2007.

Noch verzeichnen Landkarten den Ort am südöstlichen Rand des Großtagebaus »Vereinigtes Schleenhain«. Doch die Realität sieht anders aus. Rechtlich existiert die Gemeinde, entstanden aus Alt-Heuersdorf und Großhermsdorf, längst nicht mehr, und über die Hälfte der Häuser, in denen zum Beispiel 1990 fast 350 Menschen wohnten, ist seit Ende 2007 abgebaggert. 50 Millionen Tonnen Braunkohle lagern unter dem 700 Jahre alten Dorf. Die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft mbH (Mibrag) fördert diesen Bodenschatz und transportiert ihn durch den vier Kilometer langen Tagebau direkt ins Großkraftwerk Lippendorf. Der Vattenfall-Koloss, seit 1999/2000 in Betrieb, verschlingt etwa zehn Millionen Tonnen Braunkohle im Jahr. Vierzig Jahre lang soll Lippendorf betrieben werden. Die erste Heuersdorfer Kohle ist schon verfeuert, und die Bagger nähern sich unaufhaltsam dem Dorfzentrum. Anfang 2010 wird hier wohl kein einziges Haus mehr stehen.

Im Frühjahr 2008 war ich das erste Mal in Heuersdorf, an einem Sonntag mit Kaiserwetter. Damals stand am Ortseingang ein Verbotsschild für Fahrzeuge aller Art. Jetzt ist es verschwunden. Das Dorf scheint auf den ersten Blick wie ausgestorben, doch hinter einigen Hoftoren wird geräumt und gepackt. Pkws warten vor den Grundstücken neben Containern, beladen mit Gerümpel. Nachts kommen die Plünderer. »Die haben keine Genehmigung, hier etwas aus den Häusern zu entfernen. Wenn wir einen erwischen, können wir den nicht mal bestrafen«, sagt einer der beiden schwarz gekleideten Security-Männer, die sofort mitbekommen, wenn sich Fremde dem Dorf nähern. Er wird gesprächig, als ich ihm erzähle, dass ich über Sorge, Katzendorf, Lichtenberg, Schmirchau, Gessen und Culmitzsch schreibe - Dörfer im östlichen Thüringer Schiefergebirge, die vor über vierzig, fünfzig Jahren dem Uranerzbergbau in der DDR weichen mussten.

Zwölf Heuersdorfer halten es noch im Dorf aus, sagt der Security-Mann. Darunter Horst Bruchmann, der ehemalige Bürgermeister und jetzige Ortsvorsteher, und Bernd Günther, Vorsitzender des Vereins Für Heuersdorf e.V. Sie gehören zu denen, die öffentlich Druck machen gegen die Mibrag, Vattenfall und die Umsiedlung. Sie werden wohl als Letzte ihre alte Heimat verlassen. Die Dorfgemeinschaft ist in alle Winde zerstreut, nach Regis-Breitingen, Hagenest, Ramsdorf oder Frohburg. Sie hat sich gegen einen neuen gemeinsamen Standort, gegen ein neu erbautes Dorf, entschieden. Der Security-Mann mahnt, leerstehende Gehöfte wegen der Einsturzgefahr nicht zu betreten. Als ich ihm erzähle, dass ich mir in Spanien für 200 000 Euro ein verlassenes Dorf kaufen und dort Pferdezucht oder Töpferkurse betreiben könnte, lacht er.

Ich laufe zur Taborkirche. Der Friedhof ist eine Baustelle. Die Gräber wurden vor kurzem nach Breitingen umgebettet. Das Gotteshaus ist entsegnet und wartet auf den Abriss. Doch zuvor werden die Archäologen hier, im »Tagebauvorfeld«, Siedlungsspuren sichern. Auf dem Anger stehen sich David und Goliath - ein wehrhafter Zwerg und ein mächtiger Riese - im Duell gegenüber. Die Skulpturengruppe, 1996 von Bündnis 90/Die Grünen (Leipzig) gespendet, ist für die Heuersdorfer ein sichtbares Symbol für ihren streitbaren, widerspenstigen Dialog. Sie wählten dafür den Ausspruch des engagierten Agrartechnikers und Weltreisenden Max Eyth: »Wer nicht manchmal das Unmögliche wagt, wird das Mögliche nie erreichen« und schrieben ihn auf ein Schild, das sie sichtbar am Anger anbrachten. Seit 1989 wehren sich die Heuersdorfer gegen die drohende Zerstörung ihres Lebensraumes. Es vergehen Jahre voller Hoffnung und Zweifel, begleitet von kleinen Siegen und bedrückenden Niederlagen. Eine Umsiedlung sei für die Heuersdorfer nur möglich, »wenn die energiepolitische Notwendigkeit nachgewiesen ist und ein Umsiedlungskonzept vorliegt, das eine ihren Interessen entsprechende Umsiedlung gewährleistet«, heißt es 1994 in einer Entschließung. 1995 unterzeichneten die Mibrag und der Freistaat Sachsen den Heuersdorf-Vertrag, der die sozialverträgliche Umsiedlung beschließt. Die Heuersdorfer verweigerten ihre Unterschrift und reichten Klage ein. Im Jahr 2000 erklärte das Sächsische Verfassungsgericht den Heuersdorf-Vertrag wegen Formfehlern für ungültig. 2004 wurde ein neues, das zweite Heuersdorf-Gesetz beschlossen. Die erneute Klage der Heuersdorfer wurde 2005 von den Verfassungsrichtern abgewiesen. Damit stand der geplanten Abbaggerung des Ortes, in dem nur noch an die 100 Menschen leben, nichts mehr im Wege.
II

Ich denke an die bewegenden Erinnerungen der von mir befragten Zeitzeugen in der Ronneburger Region, darunter auch ehemalige Bergleute der SDAG Wismut. Als ihre Dörfer Tagebauen, Schachtanlagen, Halden und Schlammteichen weichen mussten, gab es wegen der Geheimhaltungsstrategie im ostdeutschen Uranerzbergbau nur bedingt gesetzliche Einspruchsmöglichkeiten, meist gegen die geschätzte Höhe der Entschädigungen. Wer sich wehrte, hatte mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen.

Ein breiter öffentlicher Protest gegen Zwangsaussiedlungen im Braunkohlenrevier, wie er sich nach der politischen Wende ab 1990 in der Lausitz oder in Brandenburg entwickelte, mit Bürgerbegehren, Aktionen bis hin zu bestmöglichen Abfindungssummen, war in der zentralistisch regierten DDR, dem weltweit drittgrößten Uranproduzenten, unmöglich. Über die Devastierung der Braunkohle-Dörfer wusste die Bevölkerung weit über die betroffenen Regionen hinaus Bescheid, während die Themen »Uran« und »Wismut« bis 1990 in der Öffentlichkeit weitgehend tabu blieben, abgesehen von Aktivitäten der DDR-Friedens- und Umweltbewegung seit den achtziger Jahren mit Michael Beleites an der Spitze, der im Untergrund seine Dokumentation Pechblende - Der Uranbergbau in der DDR und seine Folgen veröffentlichte.

Im Sommer 2006 konnte ich noch nicht ahnen, wie viel Zeit und Energie meine Spurensuche in Anspruch nehmen würde. Ein Gespräch mit Dr. Rainer Hausigk aus Gera wirkte wie eine Initialzündung. Der Geophysiker, über dreißig Jahre bei der SDAG Wismut tätig, erzählte mir über die Initiativen des 2005 gegründeten Vereins für den Bau einer Gedächtniskapelle in der Neuen Landschaft bei Ronneburg. Dort, wo einstmals das Dorf Schmirchau gestanden hatte, sollte mit dem Neubau, geplant als Begleitprojekt der Bundesgartenschau 2007, an die verschwundenen Dörfer im Ostthüringer Wismut-Gebiet erinnert werden. Im Laufe unserer Diskussion nahm die Idee vage Gestalt an, ehemalige Bewohner der Dörfer über ihr teilweise kleinbäuerlich geprägtes Leben, über die Erfahrungen mit der zerstörten Landschaft, mit Umsiedlung, Heimatverlust und Neuanfang zu befragen.

Kurz darauf traf ich auf alte Menschen, die froh waren, sich endlich mitteilen zu können. Sie hatten gewartet, dass da jemand kommt und ihnen zuhört. Viel zu lange hatten sie geschwiegen, weil ihre Geschichten in der DDR nicht erwünscht waren, weil sie niemand hören wollte und aufschrieb. Sie, die letzten noch lebenden Zeugen, inzwischen 70, 80 Jahre alt, wissen, wie begrenzt die ihnen noch verbleibende Lebenszeit ist. Sie möchten, sofern sie gesundheitlich noch dazu in der Lage sind, den nächsten Generationen Bewahrenswertes über ihre Vergangenheit mitteilen und auch inneren Frieden finden. Einige Zeitzeugen verstarben bereits, wie Annita Meyer aus Katzendorf. Die 77-Jährige konnte mir nur einen Bruchteil ihrer Erinnerungen mitteilen und das schriftliche Ergebnis unserer Begegnungen nicht mehr zur Kenntnis nehmen. »Es ist bereits drei Minuten vor zwölf.« Diesen Satz hörte ich oft. Andere vertraten die Ansicht, die alten Geschichten lieber ruhen zu lassen. Sie meinten, die »Russen« könnten ja wiederkommen, um hier das letzte Uran aus der Erde zu kratzen. Außerdem würden täglich auf der Welt Dörfer aus ökonomischen Erwägungen aufgegeben und abgesiedelt. Sie nannten mir als Beispiele den Drei-Schluchten-Staudamm am Jangtse, wo bis zu zwei Millionen Menschen umgesiedelt wurden, und das rheinische Braunkohlenrevier, wo dem RWE-Power-Tagebau Garzweiler II in den nächsten Jahren zwölf Dörfer weichen müssen. Dort lagert der fossile Brennstoff in einer Tiefe von bis zu 200 Metern. Von Garzweiler II wird ein 185 Meter tiefes Restloch bleiben, dessen Dimensionen an die des...
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