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An das Wilde glauben

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
139 Seiten
Deutsch
Matthes & Seitz Berlin Verlagerschienen am18.03.20211. Auflage
Auf einer Forschungsreise wird Nastassja Martin von einem Bären gebissen und schwer verletzt. In aufwühlenden Worten erzählt sie von der Geschichte dieses Kampfes und von ihrer Genesung. Die Anthropologin Nastassja Martin teilt in dieser packenden autobiografischen Erzählung die Geschichte einer tiefen Verletzung und ihrer Heilung. Auf einer ihrer oft monatelangen Forschungsreisen auf die von Vulkanstümpfen durchzogene russische Halbinsel Kamtschatka, wo sie die Bräuche und Kosmologien der Ewenen studiert, taucht sie tief in deren Kultur ein und beginnt intensiv zu träumen. Nach einer Bergtour begegnet sie einem Bären: Es kommt zum Kampf, er beißt sie ins Gesicht und die 29-Jährige gerät in einen Zustand versehrter Identität. Was sie zuvor als Wissenschaftlerin beschrieben hat - die animistische Durchmischung von allem - erfährt sie nun am eigenen Leib. Die Grenzen zwischen dem Bären und ihrer selbst, oder dem, was früher sie selbst war, verschwimmen. Träume und Erinnerungen lassen Nastassja Martin umfassende Heilung in sich selbst und der Wildnis finden, in die sie nach einer qualvollen Genesungsgeschichte in russischen und französischen Krankenhäusern zurückkehrt.

Nastassja Martin, 1986 in Grenoble geboren, ist Anthropologin und Schriftstellerin. Die Schülerin Philippe Descolas ist Spezialistin für die Kosmologien und Animismen der Völker Alaskas und veröffentlichte vor ihrem ersten Roman, der großes Aufsehen erregte, u. a. mit Les âmes sauvages, ein Buch über die Widerständigkeit der Inuit gegen die Zivilisation.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,99

Produkt

KlappentextAuf einer Forschungsreise wird Nastassja Martin von einem Bären gebissen und schwer verletzt. In aufwühlenden Worten erzählt sie von der Geschichte dieses Kampfes und von ihrer Genesung. Die Anthropologin Nastassja Martin teilt in dieser packenden autobiografischen Erzählung die Geschichte einer tiefen Verletzung und ihrer Heilung. Auf einer ihrer oft monatelangen Forschungsreisen auf die von Vulkanstümpfen durchzogene russische Halbinsel Kamtschatka, wo sie die Bräuche und Kosmologien der Ewenen studiert, taucht sie tief in deren Kultur ein und beginnt intensiv zu träumen. Nach einer Bergtour begegnet sie einem Bären: Es kommt zum Kampf, er beißt sie ins Gesicht und die 29-Jährige gerät in einen Zustand versehrter Identität. Was sie zuvor als Wissenschaftlerin beschrieben hat - die animistische Durchmischung von allem - erfährt sie nun am eigenen Leib. Die Grenzen zwischen dem Bären und ihrer selbst, oder dem, was früher sie selbst war, verschwimmen. Träume und Erinnerungen lassen Nastassja Martin umfassende Heilung in sich selbst und der Wildnis finden, in die sie nach einer qualvollen Genesungsgeschichte in russischen und französischen Krankenhäusern zurückkehrt.

Nastassja Martin, 1986 in Grenoble geboren, ist Anthropologin und Schriftstellerin. Die Schülerin Philippe Descolas ist Spezialistin für die Kosmologien und Animismen der Völker Alaskas und veröffentlichte vor ihrem ersten Roman, der großes Aufsehen erregte, u. a. mit Les âmes sauvages, ein Buch über die Widerständigkeit der Inuit gegen die Zivilisation.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751800181
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum18.03.2021
Auflage1. Auflage
Seiten139 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse950 Kbytes
Artikel-Nr.5675110
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

WINTER

Die Salpêtrière also. Wie kann ich die Bilder von diesem Ort aufrufen, der meine Zuflucht hätte sein sollen und sich als Tiefpunkt meiner Höllenfahrt erwiesen hat? Vielleicht der Reihe nach. Kaum hat man mich alleingelassen, gehe ich ins Bad und nehme den Verband um meinen Kopf ab. Ich habe meinen Schädel noch nicht gesehen. Der Mull fällt auf das orangerote Linoleum. Ich schaue auf den Boden. Dann traue ich mich, ich hebe langsam den Kopf, starre in den Spiegel. Meine Haare sind jungenhaft geschoren, es ist fast ein Bürstenschnitt. Die roten Narben im Gesicht sind noch etwas geschwollen, die auf der Kopf haut verschwinden allmählich unter dem dunklen Flaum meiner nachwachsenden Haare. Ich breche zusammen und lasse meinen Tränen freien Lauf. Ich weine wie ein verlassenes kleines Mädchen, ich weine um alles, was nicht zu vermeiden war, ich weine um meinen Bären, um mein verlorenes früheres Gesicht, mein früheres Leben, das sicher auch verloren ist, ich weine um alles, was nie wieder sein wird wie vorher. Ich fahre mit der Hand über meine Haarstoppeln. Bei der Berührung spüre ich dieses komische Kitzeln auf dem Schädel und bekomme Lust, es wieder und wieder zu tun. Ich rufe mich ins Leben zurück. Ich stehe auf, schaue mich noch einmal im Spiegel an, drehe mich um, drücke die Klinke der Badtür herunter und beschließe, dem neuen Krankenhaus mit diesem Gesicht entgegenzutreten.

Da es ein Bär ist, der durch meinen Körper in die Salpêtrière Einzug hält, und zudem noch ein russischer Bär, bringt das Krankenhauspersonal sämtliche Sicherheits- und Vorsorgemaßnahmen zum Einsatz: Ich bin in Quarantäne. Die Grünpflanze und die Kascha von Petropawlowsk sind weit weg, hier versteht man in Sache Hygiene und Sicherheit keinen Spaß. Jedes Mal, wenn die Krankenschwestern mein Zimmer betreten, ziehen sie einen blauen Papierkittel an, den sie wegwerfen, wenn sie wieder hinausgehen. Das Papier ist ein Vliesstoff. Das hat mir der Lebensgefährte meiner Mutter gesagt, weil er lange in dem Bereich gearbeitet hat. Meine Wärterinnen ziehen auch Handschuhe an. Überschuhe. Masken. Sie fordern meine Angehörigen auf, dies ebenfalls zu tun, aber zum Glück halten sie sich nicht daran, sie widersetzen sich der Gewalt von Vlies und Maske, für mich. Ich fühle mich wie ein wildes Tier, das man gefangen und unter eine fahle Neonlampe gesetzt hat, um es unter die Lupe zu nehmen. Alles in mir schreit, das weiße Licht der Halogenlampen verbrennt mir die Augen, die Haut. Ich möchte verschwinden, ich möchte zurück in die arktische Nacht, ohne Sonne und ohne Strom, ich denke an Kerzen, es wäre so viel angenehmer, wenn ich mich verstecken könnte, mich verstecken, mich verstecken. Nachts fasse ich mich wieder, wenn alles endlich erlischt, wenn das Kommen und Gehen auf hört. Ich fixiere einen Punkt im Dunkeln, ich verschwinde unter der Erde, ich rede mit meinem Bären.

Zu den Öffnungszeiten bekomme ich Besuch, vor allem am Anfang. Mein Bruder Thibaut erzählt mir von den letzten Dokumentarfilmen, die er gedreht hat, zeigt mir Auszüge, bringt mir Passionsfrucht-Milkshakes. Und meine Schwester Gwendoline verlegt ihr Büro ein paar Stunden am Tag in die Flure der Salpêtrière, um mir Gesellschaft zu leisten. Ich höre ihre Absätze vor meiner Tür klappern, während sie auf und ab geht, Headset in den Ohren, und sicher sehr wichtige Entscheidungen für die SNCF trifft. Charles kommt auch oft vorbei. Beim ersten Mal hat er mir eine von allen Mitgliedern des Laboratoriums für Sozialanthropologie unterschriebene Postkarte mitgebracht. Und bei jedem Besuch berichtet er mir von den letzten interessanten Vorträgen, die er gehört hat, erzählt mir von den Auseinandersetzungen unter Kollegen im Laboratorium. Ich höre zu, als befände ich mich hinter einer Scheibe, seine Stimme rückt in die Ferne. Ich stelle mir vor, dass ich in einem losgebundenen Boot sitze, ich sehe, wie sich das Ufer unauf haltsam entfernt. Das Schiff wird rückwärts von der Strömung davongetragen, mit dem Heck voraus, ich erkenne die Schemen meiner am Ufer zurückgebliebenen Angehörigen, ich bin unfähig, die wachsende Distanz zwischen mir und ihnen aufzuheben oder auch nur zu verringern.

Bis ich Charles eines Tages bitte, mich nicht mehr besuchen zu kommen, was ihn traurig macht. Ich glaube, er findet mich ungerecht. Es tut mir leid, das ist alles, was ich ihm sagen kann. Ich bringe keinerlei Rechtfertigung vor, es fällt mir nichts Handfestes oder Argumentiertes ein, kein einziger guter Grund. Ich breche einfach die Brücken ab. Nicht nur mit ihm, sondern mit allen meinen Freunden. Ich höre auf, ans Telefon zu gehen.

Ich bin Wissenschaftlerin, ich verstehe schon. Die Notwendigkeit, seine Arbeit mit den Studierenden zu teilen, sie daran teilhaben zu lassen, jede Gelegenheit zu nutzen, um ihre Kenntnisse zu mehren, über die Fragen zu debattieren, die einen in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand beschäftigen. Nur bin ich heute dieser Gegenstand. Ein Schwarm von Medizinstudierenden, die ihrem Professor folgen wie die Bienen ihrer Königin, kommt in mein Zimmer. Sie sind so alt wie ich oder kaum jünger, Notizblock in der Hand, weiße Kittel, wissbegierige Blicke, sie beobachten und lauschen dem Professor, der meinen Fall vorstellt. Bärenbiss in Gesicht und Schädel, Fraktur des rechten aufsteigenden Unterkieferastes, Fraktur des rechten Jochbeins, zahlreiche Narben an Gesicht und Kopf, weiterer Biss am rechten Bein. Während sie mitschreiben, schaue ich sie nacheinander an. Sie sind so sauber, so ordentlich, so strahlend in ihren weißen Kitteln, sage ich mir. Und ich? Ich denke an die nicht sehr zartfühlenden Worte eines Bekannten zurück, der mich kurz nach meiner Ankunft besucht hat: Es könnte schlimmer sein, du siehst nur aus, als kämst du frisch aus dem Gulag. Gebieterischer Drang, mich zu verstecken, mein Gesicht mit einem Schleier zu bedecken, um mich ihren Blicken zu entziehen. Ich höre sie schon, wie sie am Abend ihren Freunden die Geschichte von der »Frau mit dem Bären« erzählen werden, die auf ihrer Station für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie gelandet ist. Ich versuche, die Kommentare auszublenden, die mir schon in den Ohren klingen. Sie ist entstellt, die Arme. Sie muss vorher schön gewesen sein.

Am nächsten Tag besucht mich die Stationspsychologin. Schuhe mit kleinen Blockabsätzen, schmaler Rock, weißer Kittel, blonder Haarknoten. Guten Tag Madame Martin und die üblichen Höflichkeitsfloskeln. Sie fragt mich, wie ich mich fühle, »in psychologischer Hinsicht«. Da mir nichts Besseres einfällt, antworte ich, dass meine Psyche sicher so ähnlich aussieht wie meine Haut und meine Knochen, zerrissen, zerbrochen, zermetzelt. Und weiter? Ich fühle mich lebendig, sage ich und versuche zu lächeln. Sie mustert mich mit einem Blick, der freundlich und wohlmeinend wirken soll. Aber wie fühlen Sie sich wirklich?, beharrt sie. Eine Pause, bevor sie fortfährt. Denn das Gesicht, wissen Sie, ist die Identität. Ich schaue sie fassungslos an. Die Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf, der plötzlich heiß läuft. Ich frage sie, ob sie alle Patienten der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Salpêtrière mit dieser Art von Informationen versorgt. Sie zieht verwundert die Augenbrauen hoch. Ich möchte ihr erklären, dass ich seit Jahren Berichte über die vielfältigen Wesenheiten sammle, die ein- und denselben Körper bewohnen können, eben um diesen Begriff einer eindeutigen, einheitlichen und eindimensionalen Identität auszuhebeln. Ich möchte ihr auch sagen, was für einen Schaden es anrichten kann, ein solches Verdikt auszusprechen, wenn die Person, die man vor sich hat, gerade das verloren hat, was doch irgendwie eine Art Einheit widerspiegelte, und nunmehr versucht, sich mit den Elementen von Alterität neu zu definieren, die sie im Gesicht trägt. Aber ich behalte es für mich. Das Einzige, was ich herausbringe, ist ein höfliches: Ich glaube, es ist komplizierter. Und dann entfährt mir noch: Ein Glück, dass man in den Zimmern die Fenster nicht aufmachen kann ⦠Die verlorene Identität des Entstellten, das ist als Urteil schon heftig. Gegen jede Erwartung gewährt sie mir ein weiteres Lächeln, sie macht Witze, das ist ein gutes Zeichen, muss sie sich wohl sagen. Sie lässt sich nicht aus dem Konzept bringen: Ob ich nachts schlafen kann? Wahrscheinlich hätte sie gern, dass ich mich ihr anvertraue. Dass ich von dem Grauen erzähle, vom Raubtier, seinem Maul, seinen Zähnen, seinen Krallen und so weiter. Ich lächle zurück. Sie ist nicht böswillig, sie ist sicher auch nicht inkompetent, sie ist nur daneben, jenseits. Sie macht große Augen, als ich ihr versichere, dass nachts alles besser geht. Es stimmt, nachts sehe ich klarer, weil ich weiter sehe; über das hinaus, was den Sinnen des Taglebens unmittelbar zugänglich ist.

Ob ich träume? Wie soll ich ihr das sagen. Ja, die ganze Zeit. Aber bevor ich träume, tue ich etwas anderes. Ich erinnere mich. Jeden Abend vor dem Einschlafen spule ich die Szene vor mir ab, die...
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Autor

Nastassja Martin, 1986 in Grenoble geboren, ist Anthropologin und Schriftstellerin. Die Schülerin Philippe Descolas ist Spezialistin für die Kosmologien und Animismen der Völker Alaskas und veröffentlichte vor ihrem ersten Roman, der großes Aufsehen erregte, u. a. mit Les âmes sauvages, ein Buch über die Widerständigkeit der Inuit gegen die Zivilisation.

Claudia Kalscheuer, 1964 in Berlin geboren, studierte Romanistik, Linguistik und Philosophie in Berlin und Toulouse. Sie übersetzt seit 1994 aus dem Französischen, u. ¿a. Marie NDiaye, Jules Verne und Sylvain Tesson.