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Menschen wie Dirk

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
173 Seiten
Deutsch
Lenos Verlagerschienen am31.03.2021
Julia Kohli seziert in ihrem zweiten Buch Rollenbilder und Geschlechterkonflikte im Hier und Jetzt. Es sind Paare, Berufskollegen und Unbekannte aus unterschiedlichsten Mi­lieus, die sich begegnen. Sei es ein starker Kerl wie Dirk, eine genervte Zeitungsredaktorin, eine besorgte Mutter oder ein arrivierter Professor: Kohli kommt dem Lebensgefühl ihrer Figuren, ihrem Selbstverständnis, ihren Komplexen und ihrer Ohnmacht im Umgang mit dem anderen Geschlecht mit erstaunlichen Innensichten auf die Spur. Rasant, provokant und sprachgewandt, oft schmunzeln machend und plötzlich wieder schockierend - mit diesen sieben Short Storys legt Julia Kohli eine Textsammlung vor, die mitten in ein gesellschaftliches Reizthema sticht. Sie ist dabei ebenso unangepasst wie überzeugend.

Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, absolvierte eine Buchhandelslehre und studierte Wissenschaftliche Illus­tration, Anglistik, Osteuropäische Geschichte sowie Kultur­publizistik in Zürich. Sie schreibt u.a. für 'Das Magazin' und die 'NZZ am Sonntag'. Ihr Roman 'Böse Delphine' wurde 2018 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet und erschien 2019 bei Lenos. Julia Kohli lebt in Zürich.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextJulia Kohli seziert in ihrem zweiten Buch Rollenbilder und Geschlechterkonflikte im Hier und Jetzt. Es sind Paare, Berufskollegen und Unbekannte aus unterschiedlichsten Mi­lieus, die sich begegnen. Sei es ein starker Kerl wie Dirk, eine genervte Zeitungsredaktorin, eine besorgte Mutter oder ein arrivierter Professor: Kohli kommt dem Lebensgefühl ihrer Figuren, ihrem Selbstverständnis, ihren Komplexen und ihrer Ohnmacht im Umgang mit dem anderen Geschlecht mit erstaunlichen Innensichten auf die Spur. Rasant, provokant und sprachgewandt, oft schmunzeln machend und plötzlich wieder schockierend - mit diesen sieben Short Storys legt Julia Kohli eine Textsammlung vor, die mitten in ein gesellschaftliches Reizthema sticht. Sie ist dabei ebenso unangepasst wie überzeugend.

Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, absolvierte eine Buchhandelslehre und studierte Wissenschaftliche Illus­tration, Anglistik, Osteuropäische Geschichte sowie Kultur­publizistik in Zürich. Sie schreibt u.a. für 'Das Magazin' und die 'NZZ am Sonntag'. Ihr Roman 'Böse Delphine' wurde 2018 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet und erschien 2019 bei Lenos. Julia Kohli lebt in Zürich.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783857879906
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum31.03.2021
Seiten173 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse988 Kbytes
Artikel-Nr.5687722
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Dirk

Die Salbe kühlt. Dirk hält die Luft an, zieht die hochgekrempelte Trainerhose wieder vorsichtig über seine rechte Wade. Er wischt sich die klebrigen Finger an seinem T-Shirt ab und betrachtet die silberne Tube mit dem schwarzen Schlangenkopf-Aufdruck. Die zweigeteilte Reptilienzunge hängt unentschlossen aus der kleinen Mundöffnung. Seltsame Zeichnung für ein Heilmittel. Die Schlange, Begleiterin von Asklepios, macht Sinn, aber wieso nur ein Kopf, ohne Schwanz? Und heisst das Ding überhaupt Schwanz? Oder Schwanzkörper? Körperschwanz? Dirk legt die Tube wieder zurück in den Medizinschrank, genau dorthin, wo er sie vorgefunden hat. Ana sollte von dem Ding an seiner Wade nie erfahren.

Alles kommt gut, du hast schon Schlimmeres überstanden, flüstert er sich zu, und während er sich die Hände wäscht, denkt er an ein Klassenlager, wo er wegen einer Salmonellenvergiftung Blut geschissen hatte. Er greift nach Anas Haarbürste, kämmt ausgiebig sein bis zur Taille reichendes goldenes Haar und denkt über Bakterien, Antibiotikaresistenzen und sein Immunsystem nach.

Neben dem Badezimmerspiegel zappelt eine Motte in einem Spinnennetz. Das flatterige, staubige Ding kämpft um sein Leben. Dirk benetzt sein Gesicht, den Hals, fasst sich an die Stirn, die sich ganz normal anfühlt, überhaupt nicht heiss. Zur Sicherheit noch ein Aspirin. Er greift nach der grünen Schachtel, die er vor wenigen Tagen am Münchner Flughafen gekauft hat und die ihm bereits alt und fremd vorkommt.

Ein Pfauenschrei, elend wie eine überfahrene Katze, dringt ins Badezimmer. So wird er nicht schlafen können. Dirks Augen verengen sich, seine Kieferknochen malmen, an der linken Schläfe tritt eine Ader hervor. Seine Gereiztheit enttäuscht ihn, lässt ihn umso gereizter werden. In Deutschland hatte er sich vorgestellt, dass er in Mexico City gelassener sein würde, ein neuer Dirk, Mexico-City-Dirk.

Der Pfau ist ausdauernd. Ein weiteres Auuu hallt im Innenhof. Dirk greift nach einer Seife, als wäre sie eine Handgranate, öffnet das Fenster und streckt den Kopf in die Nachtluft. Ein kühler Wind bläst ihm über die erregte Ader. Die Nacht und die Mexikaner, alles da draussen amüsiert sich über ihn. Ein silbernes Rauschen zieht durch die Palisanderbäume, flüstert über diesen sonderbaren Deutschen mit dem blonden Haar, den Idioten mit dem entzündeten Bein. Die Äste, wie eingefrorene Blitze, strecken sich dem Himmel entgegen, wohl in Kontakt mit himmlischen Kräften, peitschen Stromschläge direkt in Dirks Nervenbahnen. Ein Meer violetter Blüten flimmert über seinem Kopf, tänzelt und bebt, als sei Scheisskarneval. Der Pfau ist nicht zu sehen.

Schhhhhhh!, zischt Dirk. Laut zu werden, traut er sich nicht. Jemand könnte ihn für verrückt halten. Wahrscheinlich werden Menschen hier schon für weniger abgeknallt. Doch auf der Strasse rührt sich nichts, da liegen nur faulige Blütenblätter. Die Stadt antwortet ihm mit entfernten Polizeisirenen, dem üblichen Kläffen eines Strassenköters. Er atmet tief ein, seine Gereiztheit bröckelt, zerfällt, als er nochmals wütend werden will, verwandelt sich in einen eisernen Block in der Brust. Gefühlsschwankungen, fuck, was macht diese Stadt mit mir, kriege ich meine Tage, bin ich schwanger, liegt es am Essen? Dirks Hals schwillt an, die Tränendrüsen schmerzen. Schnell die Augen schliessen, zusammenkneifen, den Moment vorbeigehen lassen. Dieser Pfau. Wieso meint er den Ruf aus der Vergangenheit zu kennen? Aus einer Art Parallelvergangenheit? Vorvergangenheit? Als ob der Pfauenschrei jede Zellteilung, jeden Schritt der Entfremdung vom Urknall bis zur Zelle bis zum Schnitt der Nabelschnur nachzeichnen könnte. Einsame Kohlenstoffverbindungen linear vertont. Dirk schlägt seinen Kopf gegen den Fensterrahmen.

Die Seife immer noch in seiner verkrampften Faust. Er riecht daran. Sandelholz. Verdammter Hippiegeruch. Ana hatte sie wohl ausgewählt. Zwei schwere Tränen lösen sich aus seinen Augenwinkeln, fallen, obwohl das nicht möglich ist, ungewöhnlich langsam vom zweiten Stock, glitzern kurz auf im trübgelben Licht der Strassenlampe und landen im Kakteenbeet.

Dirk schliesst das Fenster. Woher diese verdammte Melancholie? Es gibt überhaupt keinen Grund. Er hat Ana gefunden: Chefin einer IT-Firma, Death-Metal-Fan wie er, Zapotekin, die schärfste Frau, die er je gesehen hat. Die Sache zwischen ihnen: eine ständig wiederkehrende Explosion. Eine Explosion in Zeitlupe, wie die Schlussszene von Antonionis Zabriskie Point. Nur schon der Gedanke an sie lässt ihn innerlich in Slow Motion explodieren, Millionen Bluttröpfchen und Knochensplitter schiessen zum Soundtrack von Pink Floyd in die Unendlichkeit. Dirk bereut, nichts über die Zapoteken zu wissen. Er sollte dies nachholen. Seine sechzehn Semester Romanistik nützen ihm hier nichts.

Beim Warten vor den Toiletten hat er sie kennengelernt, diese zapotekische Göttin, nach dem Konzert von Ancient Infection. Einzig dafür war Dirk nach Mexico City gekommen, ein spontaner Entschluss war das gewesen, weil er entschieden hatte, nur noch zu tun, was ihm gefällt. Sie hat ihn angesprochen, ihn gefragt, welche Produkte er für sein Haar benutze, ihn dabei angeschaut, als sei er eine exotische Pflanze. Dirk errötete, fasste sich aber angesichts der Einmaligkeit dieses magischen Moments wieder und lud sie auf ein Bier ein. Und eigentlich, so realisiert er jetzt, in diesem Badezimmer in dieser Wohnung in Polanco an der Avenida Schiller, hat sein Leben genau an diesem Tag begonnen. Deutschland ist zu einer nebligen Legende zusammengeschrumpft, einem Jammertal am anderen Ende der Welt, bevölkert von bucklig grauen Windjackenträgern.

Dirk wischt sich mit dem Ärmel das letzte Nass aus den Wimpern. Alles könnte perfekt sein. Wäre da nicht dieses Bein. Er steigt bekleidet in die leere Badewanne und versucht sich an Deutschland zu erinnern. Was hatte er dort gemacht? Als Teenager hatte er sich als Satanist versucht, die Werke von Aleister Crowley gelesen, Myrrhe und Weihrauch verbrannt, Runengedichte in Holzstücke geritzt, wallende schwarze Kleidung im Gruftikatalog bestellt, die Kontaktanzeigen dort studiert, schöne Brieffreundschaften - ja, das gab es damals - mit anderen Satanisten gepflegt. Er hatte sich aber seinen eigenen kleinen Satanismus gestaltet, ohne jemanden zu stören. Dirk Ackermann war schon damals kein Herdentier und würde niemals eins sein. In seinem Kult waren weder Hühner geschlachtet noch sonstige blutige Rituale in Wäldern abgehalten worden. Kopfhörer aufsetzen, Ancient Infection aufdrehen, mit wehendem Mantel durch Münchens Fussgängerzone spazieren, sich vom röchelnden Schrei des Leadsängers leiten lassen, so hatte sein Alltag ausgesehen. Nur so hatte er die in Steppjacken gehüllten Tanten mit ihren Pudeln und goldenen Brillenketten, die kreischenden bauchfreien Mädchen in Hüftjeans, die hirnbefreit pöbelnden Fussballerjungs ertragen können, nur so seine verkorkste Katholikenfamilie, den ganzen kleinbürgerlichen Dreck überlebt. Ancient Infection ist er treu geblieben, wieso er die Kräuterrituale aufgegeben hat, weiss er nicht einmal.

In wenigen Stunden wird er mit Ana nach Oaxaca fahren. Könnte problematisch werden. Gestern hat er sich das erste Mal mit ihr gestritten. Keine Angst, ich stelle dich als Freund vor, nicht als Verlobten, beruhigte sie ihn, als sie ihm die Reise vorschlug. Meine Verwandten haben noch nie jemanden aus Deutschland kennengelernt. Wieso betonst du Deutschland, als sei es eine Krankheit?, fragte Dirk. Ihr habt fast hundert Faschisten im Bundestag und eine bemerkenswerte Vergangenheit, falls dir das entfallen ist. Ana nannte ihm auch die genaue Anzahl AfD-Abgeordneter in Sachsen und Thüringen. Dirk hatte sie unterschätzt, ärgerte sich, war beeindruckt, schämte sich, wollte sich rechtfertigen, doch ein Trotz überkam ihn, wieso sollte er, war an der Misere schliesslich nicht schuld. Er entschied sich für die Strategie, die bisher bei allen Metal-Girls funktioniert hatte. Er sei eben verdammt noch mal nicht politisch, gehe nie wählen, Politiker seien sowieso alle korrupt, Lobbyisten, machtgeil, pädophil, schau sie dir an, das System, die Struktur an sich krank und so weiter. Ein grosser Fehler.

Als Deutscher? Gerade als Deutscher gehst du nicht wählen?

Ana sprang auf, schlug seinen Arm dabei von ihrer Schulter.

Für einen kurzen Moment hatte er Angst.

Genau solche pseudogebildeten Menschen wie du sind das Problem, schrie sie ihn an. Ja, schrie. Dir sind alle scheissegal, nur du und deine kindischen Bedürfnisse zählen, du gehst reisen, um arme Menschen anzuschauen, Konzerte zu hören, kehrst zurück in dein Nazidorf, wirst damit angeben, eine Eingeborene in Mexiko flachgelegt zu haben, dann lebst du noch fünfzig Jahre in irgendeinem Einfamilienhaus mit einer braven apolitischen Tussi, schraubst an deinem Synthesizer herum, kaufst ein paar Platten, und das alles, ohne jemals deine demokratischen Rechte genutzt zu haben. Und schaust dabei zu, wie diese rechten Schweine sich dein Land zurückerobern. Ich...
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Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, absolvierte eine Buchhandelslehre und studierte Wissenschaftliche Illus­tration, Anglistik, Osteuropäische Geschichte sowie Kultur­publizistik in Zürich. Sie schreibt u.a. für "Das Magazin" und die "NZZ am Sonntag". Ihr Roman "Böse Delphine" wurde 2018 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet und erschien 2019 bei Lenos. Julia Kohli lebt in Zürich.