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Ein von Schatten begrenzter Raum

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
762 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am10.10.20211. Auflage
Emine Sevgi Özdamars Bestseller ist die wortgewaltige Begehung eines Raums zwischen Bedrohung und Geborgenheit - ein vielstimmiges Loblied auf ein Nachkriegseuropa, in dem es für kurze Zeit möglich schien, mit den Mitteln der Poesie Grenzen einzureißen. Er ist der sehnsuchtsvolle Nachruf auf die Freunde, Künstler, Bekanntschaften, die sie auf ihrem Weg begleiteten.
Nach dem Militärputsch 1971 flieht die Erzählerin aus Istanbul übers Meer nach Europa. Wie auch andere Künstlerinnen und Künstler, Linke und Intellektuelle fürchtet sie um ihre Existenz. Im Gepäck: das unbedingte Verlangen, den so jäh gekappten kulturellen Reichtum ihres Landes andernorts bekannt zu machen und lebendig zu halten. Im geteilten Berlin, auf den Boulevards von Paris, im Zwiegespräch mit bewunderten Dichtern und Denkern, findet sie schließlich eine »Pause der Hölle«, in der Kunst, Politik und Leben uneingeschränkt vereinbar scheinen.


Emine Sevgi Özdamar wuchs in Istanbul auf, wo sie die Schauspielschule besuchte. Mitte der siebziger Jahre ging sie nach Berlin und Paris und arbeitete mit den Regisseuren Benno Besson, Matthias Langhoff und Claus Peymann. Sie übernahm zahlreiche Filmrollen und schreibt seit 1982 Theaterstücke, Romane und Erzählungen. Emine Sevgi Özdamar lebt in Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR28,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR14,99

Produkt

KlappentextEmine Sevgi Özdamars Bestseller ist die wortgewaltige Begehung eines Raums zwischen Bedrohung und Geborgenheit - ein vielstimmiges Loblied auf ein Nachkriegseuropa, in dem es für kurze Zeit möglich schien, mit den Mitteln der Poesie Grenzen einzureißen. Er ist der sehnsuchtsvolle Nachruf auf die Freunde, Künstler, Bekanntschaften, die sie auf ihrem Weg begleiteten.
Nach dem Militärputsch 1971 flieht die Erzählerin aus Istanbul übers Meer nach Europa. Wie auch andere Künstlerinnen und Künstler, Linke und Intellektuelle fürchtet sie um ihre Existenz. Im Gepäck: das unbedingte Verlangen, den so jäh gekappten kulturellen Reichtum ihres Landes andernorts bekannt zu machen und lebendig zu halten. Im geteilten Berlin, auf den Boulevards von Paris, im Zwiegespräch mit bewunderten Dichtern und Denkern, findet sie schließlich eine »Pause der Hölle«, in der Kunst, Politik und Leben uneingeschränkt vereinbar scheinen.


Emine Sevgi Özdamar wuchs in Istanbul auf, wo sie die Schauspielschule besuchte. Mitte der siebziger Jahre ging sie nach Berlin und Paris und arbeitete mit den Regisseuren Benno Besson, Matthias Langhoff und Claus Peymann. Sie übernahm zahlreiche Filmrollen und schreibt seit 1982 Theaterstücke, Romane und Erzählungen. Emine Sevgi Özdamar lebt in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518769546
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum10.10.2021
Auflage1. Auflage
Seiten762 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5694987
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




Insel


Auf dieser Insel waren alle Häuser miteinander verwandt. Auch die Menschen sahen sich ähnlich. Man konnte sogar denken, dass sie hinter ihren Haustüren an den Nägeln ähnliche Masken hängen hatten, die sie, bevor sie aus dem Haus gingen, aufsetzten, auch die Hände sahen so aus, als ob sie die gleichen Händemasken angezogen hätten. Einige waren Fischer, andere Olivenpflücker.

Diese türkische Insel liegt genau gegenüber der griechischen Insel Lesbos.

Die Inselmenschen hier hatten drei Winde, Imbat, Poyraz, Lodos. Auch den Yıldızwind, aber der kam hier nicht so oft vorbei. Imbat kam dagegen sehr oft, Imbat wehte genau von gegenüber, aus Richtung Lesbos, setzte zuerst die Häuser von Lesbos in Nebel und Dunst, kam dann auf dem Rücken der fliegenden Pferde über das Ägäische Meer, das diese beiden Inseln verband, galoppierend hierher, wehte alle Wäsche, die auf den Balkonen oder in den Gärten hing, nach hinten, boxte ununterbrochen in die Bäuche der Bettwäsche, der Hosen, Unterhosen, Kissenbezüge, Unterröcke, Nylonstrümpfe, flapflapflap. Alles wurde vom Imbat nach hinten gefegt, die Haare der Fischer, die Haare der Fischerfrauen, die Haare der Kinder, die Haare der Pferde und die Ohren der Esel. Die Papiere, die auf den steilen Steinpflastergassen lagen, flogen bei Imbat rückwärts vom Meer weg die Gassen hoch. Imbat klebte die Kleider der Frauen an ihre Körper, stellte die Brüste, Bäuche und Schenkel und Schenkelzentren der Frauen zur Schau. Früher, im Osmanischen Reich, gingen die Mütter in die türkischen Bäder, um ein gut gebautes Mädchen für ihre Söhne als Frau zu suchen. Brautschau im türkischen Bad. Das machte Imbat auch.

Wenn an manchen Tagen der Imbatwind aufhörte, zu wehen, und Poyrazwind an seine Stelle trat, machte er das Gegenteil. Poyraz wehte aus den Bergen und fegte alles nach vorne Richtung Meer. Die Haare der Fischer flogen von hinten nach vorne, und die Kleider der Fischerfrauen klebten sich an ihre Körper, sodass ihre Popos und Beine von hinten - wie von Bildhauern modelliert - auf den Gassen zu sehen waren. So verwandelten beide Winde, Imbat und Poyraz, wenn sie kamen, diese Insel sofort in einen Salon de Louvre, in dem man die Venusstatuen einmal von vorne, einmal von hinten betrachten konnte. Der Poyrazwind, der aus den türkischen Kazbergen in Richtung Lesbos wehte, setzte Lesbos nicht wie Imbat in Dunst und Nebel, sondern machte die Lesboshäuser von Weitem einzeln sichtbar.

Der dritte wichtige Wind, Lodos, weil er ein warmer Wind war, wenn er kam, haute als Erstes jedem auf der Insel eins ins Gesicht. An den Lodostagen liefen die Frauen, Männer, Kinder, Esel und Ziegen, bekümmert auf die Erde schauend wie die Trollfiguren aus Peer Gynt, auf den engen, steilen Gassen oder am Hafen, mit langsamen Schritten wie in einem Slow-Motion-Film, herum. Sogar die Fliegen flogen langsam und sprachen nicht wızvızwızvız, sondern wı wı wı. Und das Meer sah bei Lodos wie ein ohnmächtig auf die Erde gefallener Himmel aus. Durch die Hitze schienen die Fensterscheiben der Häuser, als ob sie sich schweratmend ausdehnen und zerplatzen würden. Einer der älteren Fischer hatte erzählt, dass, als Hitler Lesbos bombardierte, hier auf dieser türkischen Insel alle Fensterscheiben zerplatzt waren, und die vielen Glasscheiben auf den sonnigen Gassen hätten scharf wie Messer ins Auge gestochen, und die Griechen aus Lesbos flüchteten damals vor Hitler mit den Booten hierher.

Wie die Winde Imbat, Poyraz, Lodos, die behaupten, dass sie hier auf dieser Insel wohnen und nicht die Menschen, genauso denken auch die Tiere. Lassen wir jetzt die unzähligen Möwen, die auf den fünfundzwanzig unbewohnten Inseln um diese Insel herum leben und wann und wie es ihnen beliebt ihren Möwenbabys das Fliegen beibringen und, um ihre Jungen zum Fliegen zu animieren, als erwachsener Möwenchor mit lauten Möwenstimmen, der sich wie ein ständiges Lachen anhört, schreien und als Chor stundenlang die Möwenbabys vom Felsen in den Himmel hoch, vom Himmel hinunter ans Meer, dann wieder hoch in den Himmel treiben, lassen wir sie auf den niedrigen oder hohen Felsen alle Steine als ihre Möwentoilette benutzen und hinter den Fischerbooten als Schwanz eines Drachen in Gruppen hinterherfliegen und im Himmel warten, bis die Fischer kleine, zum Verkauf untaugliche Fische aus ihren Netzen wieder ins Meer schmeißen. Kaum schwimmen die kleinen, halb toten Fische im Meer, rufen die Möwen, bevor sie die Fische in ihren schnell auf- und zuschnappenden Schnäbeln aus dem Meer in den Himmel entführen, wieder als Chor laut, so laut wie nur Möwen schreien können, ohne den Himmel in Stücke zu zerschneiden, um alle Möwen von den fünfundzwanzig unbewohnten Inseln zum Essen einzuladen. Und die kommen tatsächlich. Aber lassen wir die Möwen, die auf ihren von Menschen noch unbewohnten fünfundzwanzig Inseln leben, essen, scheißen, den Kindern Fliegen beibringen. Hier, auf unseren von Menschen bewohnten Inseln, konnte man sagen: Neben den Winden Imbat, Poyraz und Lodos waren es die Katzen und Grillen, die alle Bäume und Gärten und die Dächer und die Gassen besetzt hielten. zızızızızızızızızızızızızızızızı-zızızızızızızızızızızızızı.

Wenn die Fischerfrauen, sich in ihren Kleidern fremd fühlend, die engen, steilen Gassen in Richtung Hafen hinunterliefen, tönte über ihren Köpfen das zızızızızızı von den Grillen und unten zwischen ihren Füßen das miau, miau, miau, miau. Wenn es die Frauen satthatten, diese Stimmen, die die Bäume und die Erde besetzt hielten, zu hören, drohten sie mit hochgereckten Hälsen den Grillen mit einem »sus yeter geber - genug, schweig, stirb«, und den Katzen drohten sie, mit gesenkten Köpfen, sie zu einer der fünfundzwanzig unbewohnten Inseln zu bringen, dorthin zu verbannen.

Ich bringe dich zur Nackten Insel.

Ich bringe dich zur Melinainsel.

Ich bringe dich zur Feigeninsel.

Die Feigeninsel, eine dieser fünfundzwanzig unbewohnten Inseln, hatte einmal vier Feigenbäume, an denen wirklich sehr gute Feigen wuchsen. Aber einer der Fischer hatte vor sechs Jahren die vier Feigenbäume zerhackt, um sie im Winter im Ofen zu verbrennen, und alle anderen Fischer schimpften seit sechs Jahren auf den Holzhacker, weil sie keinen Schatten mehr fanden, wenn sie in der Bucht der Feigeninsel die Netze auswarfen und eine Zigarette unter einem Baum rauchen wollten. Die Fischer liebten den Baum, sie waren immer auf dem wackelnden Boot, und oben, wenn sie ihre Köpfe hochhoben, sahen sie einen Himmel, der auch wie das Wasser beweglich war, mit irgendwohin ziehenden Wolken, die zuerst wie ein Tier aussahen, dann wie sich vom Tier in körperlose Watte auflösende Himmelsgassen. Und aus diesen Himmelsgassen plötzlich und gezielt direkt zu den Fischernetzen fliegende Möwen. An die Möwen wurden Schimpfwörter ausgeteilt, die Möwen nahmen aber nur die Fische mit zum Himmel, die Schimpfwörter der Fischer fielen ins Wasser. Die Fischer hatten immer Möwengeschichten, sie gaben den Möwen einen Frauennamen: Aziza. »Aziza geldi, Aziza geldi, Aziza gitti. Ich zog gerade das Netz raus, was sah ich, Aziza ist gekommen.«

Die Fischerfrauen hatten keine Azizageschichten zu erzählen, sie schimpften nicht auf die Azizas, sie sahen sie fast nie. Dafür hatten sie Ziegen oder Pferde und Katzen.

Die Frau AyÅe zum Beispiel. Die wohnte oben auf der Hügelspitze dieser Insel. Sie sagte, seit dreißig Jahren gehe ich nicht mehr zum Hafen hinunter. Da war AyÅe frisch verheiratet, sie kam aus einem Bergdorf. Ihr Mann wollte sie hinunter zum Hafen ausführen, dort tranken sie Tee in einem Teehaus, der Ehemann hatte ein Pferd oben zu Hause, er sagte zu AyÅe: »Warte hier, ich werde zu dem Restaurant gehen und altes Brot für das Pferd abholen.«

AyÅe wartete ein paar Stunden, dann lief sie alleine die steile Gasse hoch, wollte nach Hause, da aber die Häuser so ähnlich aussahen, fand sie zuerst ihr Haus nicht. Als sie es doch fand, sah sie ihren Mann das Pferd füttern und mit ihm sprechen. Sie schwor, nie wieder zum Hafen zu gehen. »Geh mit deinem Pferd zum Hafen Tee trinken«, ...


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Autor

Emine Sevgi Özdamar wuchs in Istanbul auf, wo sie die Schauspielschule besuchte. Mitte der siebziger Jahre ging sie nach Berlin und Paris und arbeitete mit den Regisseuren Benno Besson, Matthias Langhoff und Claus Peymann. Sie übernahm zahlreiche Filmrollen und schreibt seit 1982 Theaterstücke, Romane und Erzählungen. Emine Sevgi Özdamar lebt in Berlin.
Ein von Schatten begrenzter Raum