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Unter Wasser atmen

von
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
dtv Verlagsgesellschafterschienen am20.10.20211. Auflage
Ein Tauchgang zum Ursprung unserer Gefühle Eines Herbstmorgens findet Jia Jia ihren Mann leblos in der halbvollen Badewanne. Neben ihm liegt die Zeichnung einer rätselhaften Kreatur: halb Fisch, halb Mann. Obwohl der Tod ihres Mannes das Ende einer unglücklichen Ehe und den Beginn einer neuen Freiheit bedeutet, lässt Jia Jia diese Zeichnung nicht mehr los. Der Fischmann verfolgt sie in ihrem einsamen Alltag in der Millionenmetropole Peking und in ihren Träumen. Um seine Bedeutung zu entschlüsseln, begibt Jia Jia sich auf eine Spurensuche, die wertvolle Begegnungen mit sich bringt und sie bis ins Landesinnere Tibets führt - und in die Tiefen ihres eigenen Bewusstseins.

An Yu wurde in Peking geboren. Mit 18 Jahren zog sie nach New York, wo sie an der NYU studierte. Mittlerweile lebt sie abwechselnd in Paris und Hongkong. >Unter Wasser atmen< ist ihr erster Roman.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextEin Tauchgang zum Ursprung unserer Gefühle Eines Herbstmorgens findet Jia Jia ihren Mann leblos in der halbvollen Badewanne. Neben ihm liegt die Zeichnung einer rätselhaften Kreatur: halb Fisch, halb Mann. Obwohl der Tod ihres Mannes das Ende einer unglücklichen Ehe und den Beginn einer neuen Freiheit bedeutet, lässt Jia Jia diese Zeichnung nicht mehr los. Der Fischmann verfolgt sie in ihrem einsamen Alltag in der Millionenmetropole Peking und in ihren Träumen. Um seine Bedeutung zu entschlüsseln, begibt Jia Jia sich auf eine Spurensuche, die wertvolle Begegnungen mit sich bringt und sie bis ins Landesinnere Tibets führt - und in die Tiefen ihres eigenen Bewusstseins.

An Yu wurde in Peking geboren. Mit 18 Jahren zog sie nach New York, wo sie an der NYU studierte. Mittlerweile lebt sie abwechselnd in Paris und Hongkong. >Unter Wasser atmen< ist ihr erster Roman.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423439428
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum20.10.2021
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse867 Kbytes
Artikel-Nr.5702570
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Der orangefarbene Schal glitt Jia Jia von der Schulter und fiel ins Wasser. Er sank und wurde dunkler dabei, wie ein Goldfisch trieb er neben Chen Hangs Kopf. Jia Jia war erst vor ein paar Minuten ins Bad gekommen, einen Schal über jede Schulter geworfen, um ihren Mann zu fragen, welcher ihm lieber sei. Stattdessen fand sie ihn kopfüber in der halbvollen Wanne, das Gesicht im Wasser, den Hintern in die Höhe gereckt.

»Na so was, willst du dir die Haare waschen?«, hatte sie ihn gefragt.

Sie wusste nur zu gut, dass solche Scherze nicht seine Art waren. Aber war es einem ausgewachsenen Mann denn überhaupt möglich, in der Badewanne zu ertrinken? Sie fasste sein Handgelenk, suchte nach dem Puls, beugte sich vor, um zu sehen, ob Luftblasen aus seiner Nase kamen. Sie rief ihn beim Namen, stieg in die Wanne und packte ihn am Oberkörper, um ihn hochzuhieven, damit er wenigstens richtig herum saß. Aber er war starr wie ein kaputter Roboter und wollte sich nicht rühren.

Der Krankenwagen war unterwegs, das hatte man ihr zumindest gesagt. Jia Jia kniete sich auf die beigefarbenen Kacheln. Sie zog den Stöpsel heraus, um das Wasser abfließen zu lassen. Etwas anderes fiel ihr nicht ein; vielleicht würde Chen Hang ohne Wasser ja wieder Luft bekommen. Die Arme auf dem Wannenrand verschränkt, betrachtete Jia Jia ihren toten Mann, als hätte sie eine Skulptur im Museum vor sich. Solche Ruhe hatte sie noch nie erlebt. Das musste der erste Moment der Stille sein, den sie in vier Jahren Ehe mit ihm teilte: Selbst wenn sie schliefen, waren da immer noch Geräusche - sein Schnarchen, die Klimaanlage, der Verkehr draußen auf der Straße. Jetzt hörte sie absolut nichts. Es war, als würde sein hingekauerter Körper stetig grauer und dürrer, wie trockener, nicht glasierter Ton, der auseinanderzufallen drohte. Jia Jia verspürte einen plötzlichen Brechreiz und stellte fest, dass auch sie den Atem angehalten hatte. Sie drückte die Hand auf den Mund und versuchte, an etwas anderes zu denken. Wie lange es wohl dauerte, bis ein Körper nach dem Tod kalt wurde? Ein paar Minuten? Eine Stunde? Mehrere Stunden? Sie wusste es nicht. Die Feuchtigkeit legte sich wie Hände um ihren Hals, und das Marmorbad, das immer viel zu groß gewesen war, wirkte jetzt ganz klein, es schien sie beide zu ersticken. Jia Jia realisierte, dass Chen Hang nicht eine Sekunde darüber nachgedacht haben konnte, ob ein Ort wie dieser einem Tod angemessen war. Er hatte keinen Gedanken an seine Frau verschwendet, die ihn finden, dabei allein sein würde und zwangsläufig warten musste, bis jemand zu ihr in dieses Badezimmer kam. Er hatte sich nicht überlegt, wie diese ersten paar Minuten für sie sein würden, nachdem sie ihn gefunden hatte, nackt und tot, sonst hätte er doch sicher einen anderen Weg gewählt.

Am Morgen, beim Frühstück, hatte Chen Hang, seufzend und mit einem Bissen eingelegter Gurke im Mund, vor sich hin gebrummelt, es sei vielleicht keine schlechte Idee, ihre jährliche Reise nach Sanya wieder aufzunehmen. Es war das erste Mal seit Wochen, dass ihm etwas Erfreuliches über die Lippen kam. Vergangenes Jahr hatte er den Urlaub ohne Angabe von Gründen abgesagt - ein erstes Anzeichen, wie Jia Jia damals fürchtete, dass er zusehends das Interesse an ihr und dieser Ehe verlor. Geliebt hatte er sie nie, das war ihr klar. Sie war ja nicht dumm. Aber sie hatten einander lebenslange Partnerschaft versprochen, die, wenn schon nicht von Liebe, dann doch von dem erklärten gemeinsamen Ziel zusammengehalten wurde, eine Familie zu gründen. Solange er ihr nur versicherte, dass er mit ihr verheiratet bleiben wollte, hatte sie alles andere verzeihlich gefunden.

»Wann fahren wir?«, fragte sie spontan, während Chen Hang noch an seiner Gurke kaute. »Ich fange gleich nach dem Frühstück an zu packen.«

»Wann du willst. Ich nehme erst mal ein Bad.«

»Ein Bad?«

Jia Jia kannte Chen Hang als einen Mann, der nie badete: Er fand keinen Gefallen daran, im warmen Wasser zu liegen, er duschte lieber und war fest davon überzeugt, dass es der Sauberkeit zuträglicher war. Sie wollte sich schon näher erkundigen - schluckte rasch hinunter, trank etwas Wasser und setzte zum Reden an -, beschloss dann aber, doch lieber zu schweigen, weil sie fürchtete, ihn mit ihrer Frage zu verärgern und ihn so früh am Tag schon in schlechte Stimmung zu versetzen.

»Pack aber nicht zu viel ein«, ermahnte er sie, hob seine Schüssel an den Mund und verspeiste den letzten Rest Congee in einem Rutsch.

Jia Jia hörte ihn den Stöpsel in den Abfluss stecken und das Wasser aufdrehen. Es war November, sie war gerade damit fertig geworden, die Kleiderschränke für den Winter umzuräumen. Sie klappte Chen Hangs Koffer auf, erklomm einen Stuhl und streckte sich nach seinen Sommersachen im oberen Schrankfach, wollte sich nicht ablenken lassen, aus Angst, sonst etwas von ihm zu vergessen. Das durfte ihnen nicht die Reise verderben. Soll er ruhig baden, beschloss sie, soll er etwas Zeit für sich haben.

An diesem Punkt ihrer Ehe fiel es ihr nicht weiter schwer, für Chen Hang zu packen. Als Jia Jia sich das erste Mal um seinen Koffer gekümmert hatte, vor den Flitterwochen, war es ein Fiasko gewesen. Sie hatte viel zu viele Socken eingepackt, dafür aber sein Schachspiel vergessen. Nach dieser Reise hatte sie schnell gelernt, die Sachen im Koffer so zu ordnen, wie er es mochte: die Unterwäsche zusammengerollt, die Polohemden gefaltet, das Schachspiel so eingepasst, dass es auch noch sicher lag, wenn der Koffer aufgegeben wurde, und oben rechts ein freies Eckchen für seine Zigarren, die er eigenhändig aussuchte.

Diesmal lag die größere Herausforderung darin, ihre eigenen Habseligkeiten zusammenzupacken. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich neu einzukleiden - was Chen Hang ihr sonst immer auftrug, bevor sie verreisten.

»Geh shoppen«, sagte er dann. »Hol dir ein paar von den neuen Sachen aus den Schaufenstern. Dann siehst du am Strand hübsch aus. Und bist glücklich.«

Vielleicht sollte sie morgen noch shoppen gehen. Aber Chen Hang hatte ihr ausdrücklich aufgetragen, nicht zu viel einzupacken. Gab es finanzielle Probleme? Lief irgendetwas falsch in der Firma? Wieder wollte sie ihn beim Baden stören und ihn fragen. Warum badest du jetzt? Du badest nie. Stimmt etwas nicht bei der Arbeit? Sie war immerhin seine Frau, nicht seine Geliebte, sie hatte ein Recht, das zu wissen. Aber wie so oft im Umgang mit ihm fürchtete sie, etwas aufzustören, was er lieber begraben halten wollte.

Schließlich entschloss sie sich, trotzdem nach ihm zu sehen, sich zu überzeugen, dass das Baden ihn entspannte. Womöglich öffnete er sich ihr dann ja von sich aus. Also hatte sie die beiden Schals ausgewählt, einer orange, der andere mit Blumenmuster, noch ein paar Minuten abgewartet, ihr Lächeln aufgesetzt und vorsichtig die Badezimmertür geöffnet.

Sie hätte ihn gleich fragen sollen, noch am Frühstückstisch. Jetzt musste sie all ihre Fragen herunterschlucken, zurück in den Magen. In dieser Hinsicht hatte sich also eigentlich nichts geändert, und dieser Gedanke erfüllte Jia Jia mit unbändigem Abscheu und Ekel vor dem Mann, von dem sie sich hatte heiraten lassen. Unfähig, es noch weiter zurückzuhalten, stürzte sie zur Toilette, erbrach sich und kniff dabei fest die Augen zu. Er hatte sie betrogen. Sie verlassen. Das einzige Versprechen gebrochen, das er ihr je gegeben hatte. Alles an ihm schien ihr erbärmlich abstoßend: die selbst im Tod noch finsteren Brauen, der wie ein Sack herabhängende Bauch, der kahl werdende Kopf.

Als sie wieder aufsah, entdeckte sie ein Blatt Papier, das auf einem Stapel Handtücher neben dem Waschbecken lag. Es war in der Mitte gefaltet und öffnete und schloss sich sanft in der Stille des Badezimmers. Als wäre das Blatt lebendig. Jia Jia griff danach und legte eine Zeichnung frei - eine Gestalt, der Körper eines Fischs mit einem Menschenkopf. Die Zeichnung war von Chen Hang, sie kannte seinen groben Stil nur zu gut.

Die geschwungene Wirbelsäule zog sich mitten durch den Körper des Wesens, außen war es von Schuppen bedeckt. Selbst aus der kruden Zeichnung wurde ersichtlich, welche Kraft die große Schwanzflosse hatte. Das ganze Bild war hastig gemalt, aber im Gegensatz zum Rest war der menschliche Teil mit großer Präzision ausgeführt worden. Der Kopf wirkte wie ein detailliertes Portrait. Alles war da: die Falten, die leicht hervorschauenden Nasenhaare, die geschwollenen Ringe unter den Augen. Es war der Kopf eines Mannes, dessen Blick direkt durch den Betrachter hindurch zum fernen Horizont ging. Er hatte etwas von einem Passfoto, kein Lächeln, kein Stirnrunzeln. Nichts daran war besonders, bis auf die übergroße, kahle Stirn vielleicht. Er zeigte keinerlei Anzeichen einer interessanten Vergangenheit oder einer aufregenden Zukunft.

Jia Jia musste an einen Traum denken, von dem Chen Hang ihr erzählt hatte. Er war allein in Tibet gewesen, um, wie er es formulierte, »dem ganzen Mist spirituell zu entfliehen«. Chen Hang war kein religiöser Mensch, auch wenn er in jedem Tempel und jeder Kirche, die er besuchte, Geld in die Opferstöcke warf, unternahm aber immer wieder solche Reisen, ganz allein. Jia Jia wusste, dass er das brauchte, wollte sich aber lieber nicht ausmalen, wozu. Normalerweise beruhigte sie sich damit, dass sie ja seine Frau war, die Frau in seinem Haus, und er ein Mann, der sich seine Lebenspartnerin mit großer Sorgfalt ausgesucht hatte, ein Mann, der die Frau seiner Wahl nie verlassen würde, auch wenn sein Herz hin und wieder in einem anderen Bett Ruhe fand. Und darum hatte sie auch vor jeder Reise für ihn gepackt, ihn an der Tür verabschiedet und dann darauf gewartet, dass er wiederkam.

Diese letzte...
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