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Der Jaeger und sein Meister

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Hanser Berlinerschienen am23.08.20211. Auflage
Nach 'Große Freiheit' taucht Rocko Schamoni erneut ein in die brodelnde Szene der sechziger und siebziger Jahre in Hamburg, wo jenseits der bürgerlichen moralischen Vorstellungen ein freies, ungezügeltes Leben gefeiert wird.
Im Zentrum steht die Freundschaft von Joska Pintschovius zu Heino Jaeger, einem hochbegabten Künstler, Stimmenimitator und Satiriker, der kultisch als 'Meister' verehrt wird. Und am Ende an seiner seelischen Durchlässigkeit verglühen wird. Die Verbindung aus Genialität und Wahnsinn fasziniert den Erzähler und Chronisten Schamoni, der sich in der Ergründung dieses Lebens persönlicher und verletzlicher zeigt als je zuvor.

Rocko Schamoni, geboren 1966, ist Autor, Entertainer, Musiker, Schauspieler und Bühnenkünstler. Er lebt in Hamburg. Mit seinen Romanbestsellern wie 'Dorfpunks' und 'Große Freiheit' füllt er Hallen. Lange Jahre betrieb er zusammen mit Schorsch Kamerun den legendären 'Golden Pudel Club' auf Sankt Pauli.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextNach 'Große Freiheit' taucht Rocko Schamoni erneut ein in die brodelnde Szene der sechziger und siebziger Jahre in Hamburg, wo jenseits der bürgerlichen moralischen Vorstellungen ein freies, ungezügeltes Leben gefeiert wird.
Im Zentrum steht die Freundschaft von Joska Pintschovius zu Heino Jaeger, einem hochbegabten Künstler, Stimmenimitator und Satiriker, der kultisch als 'Meister' verehrt wird. Und am Ende an seiner seelischen Durchlässigkeit verglühen wird. Die Verbindung aus Genialität und Wahnsinn fasziniert den Erzähler und Chronisten Schamoni, der sich in der Ergründung dieses Lebens persönlicher und verletzlicher zeigt als je zuvor.

Rocko Schamoni, geboren 1966, ist Autor, Entertainer, Musiker, Schauspieler und Bühnenkünstler. Er lebt in Hamburg. Mit seinen Romanbestsellern wie 'Dorfpunks' und 'Große Freiheit' füllt er Hallen. Lange Jahre betrieb er zusammen mit Schorsch Kamerun den legendären 'Golden Pudel Club' auf Sankt Pauli.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446271906
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum23.08.2021
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3583 Kbytes
Artikel-Nr.5703531
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Prolog


Anfang Januar lag mein Vater schon seit ein paar Wochen im Krankenhaus. Der Krebs war nach Jahren zurückgekehrt, obwohl sein Arzt damals gesagt hatte, dass er diesen für immer besiegt habe. Den ganzen Sommer über hatte mein Vater eine Chemoanwendung nach der anderen tapfer ertragen, sein Zustand verbesserte sich kontinuierlich, und zum Herbst hin hielten wir ihn für geheilt. Er schien dem Tod zum zweiten Mal von der Schippe gesprungen zu sein. Aber kurz vor Weihnachten machte sich die Krankheit erneut heimtückisch an ihn heran.

In den Jahren zuvor hatte Vater eine Reihe minimaler Schlaganfälle erlitten, von ihm selbst unbemerkt, irgendwann machten sie sich jedoch durch Gedächtnislöcher und Wortfindungsschwierigkeiten bemerkbar. Er schämte sich jedes Mal wahnsinnig, wenn ihm ein einfaches Wort nicht einfiel, aber er gab es offen zu und entschuldigte sich, also fanden wir das Wort für ihn. Dadurch war Vater noch langsamer geworden als ohnehin schon. Dennoch erkannte ich hinter diesen sprachlichen Perforierungen klar und deutlich seine Persönlichkeit, sie schien mir in ihrem Kern unbeeinträchtigt von den Krankheiten.

Immer wieder besuchten wir ihn im Krankenhaus, er lag in einem Zweibettzimmer mit wechselnden Bettnachbarn, deren Dramen jeweils hätten Bände füllen können. Was für Elendshorte sind bloß unsere Krankenhäuser, Sackbahnhöfe für so viele große Lebensbögen, deren strahlendes Sein nun ausgerechnet in Orten wie Oldenburg in Schleswig-Holstein zu seinem dümpelnden Ende kommen muss. Dabei sollte doch ein Krankenhaus ein Ort der Heilung, der Genesung, der Gesundung sein, oder etwa nicht?

Wir ließen - wie alle Angehörigen - von der Hoffnung nicht ab, vom Vertrauen in die Ärzte und die Technik und den Fortschritt der Medizin. Wenn man nur lange genug das Elend, die Tristesse und die Lieblosigkeit, die Abgewichstheit und den Durchlaufbetrieb eines derartig menschenfeindlichen Ortes aushalten könnte, dann käme am Ende mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Wunder dabei raus. Wann wenden sie denn endlich das Wunder an, wann kommt die Wende, wann können wir unseren geliebten Menschen geheilt aus dieser Hölle befreien, hat er denn nicht bald genug gelitten? Alle Angehörigen geraten in diese trügerischen Hoffnungsspiralen - man verheddert sich darin wie Fische in Reusen -, und die Ärzte werden unsereins gegenüber zumindest eine Möglichkeit auf Rettung aufscheinen lassen, um ihre Betten bezahlt zu halten.

Vater wurde immer weniger, er aß nichts mehr und trank nur sehr wenig, der Krebs hatte sich in seinen Nieren festgefressen. Wenn wir den Raum betraten, lag der einst so starke Mann meist auf dem Rücken im Bett und betrachtete mit vom Leid entleertem Blick die Zimmerdecke, wie ein Kind, das eingesehen hatte, dass es an seinem Zustand nichts verändern könne, weil die Erwachsenen es nun mal so beschlossen hatten. Lesen konnte er nicht mehr, das Fernsehen interessierte ihn nicht, die Teilnahmslosigkeit des endgültig Ausgelieferten eroberte sein Wesen: leiden und warten auf Erlösung, darauf, endlich nach Hause zu können oder aber zu sterben. Einmal am Tag kam eine Schwester und brachte ihm ein paar Tabletten, die er wenn überhaupt nur sehr schwer schlucken konnte. Er verdorrte vor unseren Augen, seine Substanz schmolz dahin, die Kraft verdampfte buchstäblich. Schließlich verweigerte er den Ärzten die Dialyse, ohne genau begründen zu können warum, seine Wortfindungsschwierigkeiten hatten in dieser Krankenhauszeit stark zugenommen. Sein Wille aber war klar und entschlossen, er würde sich das nicht länger gefallen lassen, diese ganze Tortur. Ohne die Dialyse allerdings würde er keine zwei Wochen überleben, so sagten es die Ärzte voraus, da seine Nieren kaum noch funktionierten.

Wir beschlossen, ihn aus dem Krankenhaus zu holen. Ich weiß noch genau, wie ich ihm unseren Entschluss eröffnete und er darauf ganz erstaunt meinte: »Nach Hause? Wirklich? Ja, wenn ihr das erlaubt.« In dem Moment konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Er hatte sein Schicksal in unsere Hände gelegt, hatte nur unseretwegen all die Wochen an diesem unseligen Ort ausgehalten, weil wir als seine Familie es so beschlossen hatten, damit wir dadurch hoffen konnten, ich kam mir unendlich schuldig vor. Nachdem ihm der Dialyseschlauch aus der Halsschlagader gezogen worden war und wir seine wenigen Sachen zusammengepackt hatten, wurde mir ganz froh zumute, endlich konnten wir ihn befreien, und niemand würde uns aufhalten können.

Vater wirkte lebendiger, auch wenn er kaum noch gehen konnte. Es war später Nachmittag im Januar und schon dunkel draußen, als wir ihn mit einem Rollstuhl zum Auto transportierten und aus der Stadt über die Landstraße zurück nach Hause aufs Dorf fuhren. Ich steuerte den Wagen mit der linken Hand, er saß neben mir auf dem Beifahrersitz und hielt die ganze Fahrt über in der Dunkelheit meine rechte Hand. Er beobachtete konzentriert die dunkle Straße, als ob er diesen letzten Weg noch einmal ganz bewusst erleben wollte. Als wir das Wohnzimmer betraten, sagte er: »Das hätte ich nicht gedacht, dass ich noch mal nach Hause komme.« Wir waren alle für einen kurzen Moment erlöst.

Zehn Tage später starb er. Es hat mich viel stärker getroffen, als ich erwartet hätte. Wie schon Jahre zuvor bei Mutter. Man weiß, dieser Moment kommt unausweichlich, man geht gemeinschaftlich in der Familie darauf zu, begleitet den Sterbenden. Was ziemlich grotesk ist, so als ob man einen Lebenspartner im Alltag zur Exekution begleiten würde und nebenbei noch den Haushalt verrichten müsste. Das, was als »würdevolles Abschiednehmen im Kreise der Familie« beschrieben wird, hat im Kern etwas grausam Banales, dem man sich ohnmächtig ausgeliefert sieht, denn die Entscheidung, wer auch immer sie gefällt hat, lässt sich nicht aufhalten.

Nach seinem Tod dachte ich: Jetzt bist du Vollwaise. Dieses Nicht-mehr-Zurückkönnen ist einer von vielen Effekten, die man nach dem Tod der Eltern erlebt. Nicht mehr zurückkönnen ins Kindsein. Denn auch als Erwachsener bleibt man ja Kind seiner Eltern. Es ist schön, ein altes Kind sein zu dürfen. Auf eine gewisse Art und Weise tröstlich. In letzter Instanz könnte man bei unüberwindlichen Problemen immer noch die Eltern anrufen. Aber irgendwann sind sie dann tatsächlich verschwunden, versunken im Loch der Zeit. Dann sind auf einmal die alten Kinder an der Reihe. Ich bin der Nächste in der Familie, der gehen muss. Wenn alles nach dem normalen Ablaufplan der Natur geht.

Alle Fragen, die ich Vater noch stellen wollte, werden für immer unbeantwortet bleiben. Seitdem weiß ich: Wann auch immer man brennende Fragen in sich trägt, sollte man sie stellen - die Leute verschwinden irgendwann einfach. Mit seinem Tod sind mir auch die Fragen an Mutter wieder eingefallen. Fragen, die ihr zu stellen ich vergessen hatte. Die ebenfalls für immer unbeantwortet bleiben werden:

Mama, wann genau waren wir eigentlich in Guatemala?

Welche Kinderkrankheiten hatte ich, welche nicht?

Wie viele Wochen war ich im Kinderkrankenhaus in Quarantäne, als ich mit drei Jahren Hirnhautentzündung hatte? Ich erinnere mich daran, wie ihr durch eine Glasscheibe auf mich blicktet, aber nicht zu mir kommen durftet. Ich glaube, ich war verzweifelt. Ist in diesem Moment mein Urvertrauen zerbrochen?

Warum, Papa, hast du mich in Norwegen einfach vom Steg in die Nordsee geschmissen? Weil ich so genervt habe? Das Wasser war eiskalt, mir blieb die Luft weg. Du hast gelacht und bist weggegangen. Und ich war unglaublich zornig. Bis zum Abend habe ich mich in einem niedrigen Gebüsch neben unserem Wohnwagen versteckt, ich hatte eigentlich geplant, dort für immer zu bleiben, als Strafe für dich und Mama, das habt ihr jetzt davon, euer Sohn ist bei einer erzieherischen Maßnahme ertrunken! Pah! Irgendwann hat der Hunger meine Wut beschwichtigt. Da hatte ich bereits vergessen, worum es eigentlich gegangen war. Im Nachhinein vermute ich, dass dein Handeln gerechtfertigt war. Die Streitereien zwischen meinem Bruder und mir müssen unerträglich gewesen sein.

Familien sind Schutzräume und Kampfzonen zugleich. Ich weiß gar nicht genau, was in einer normalen Familie überwiegt, das Schöne oder das Schreckliche. All die Liebe und all der Hass geboren aus der Kollision von Freiheit und Sicherheit.

Immer wieder muss man das Verschwinden und den Verlust eines nahen Menschen erneut realisieren. Das Gehirn braucht lange, bis es das als Selbstverständlichkeit akzeptieren kann. Die sich täglich schmerzhaft wiederholende Erkenntnis der von nun an ewigen Abwesenheit einer geliebten Person ist wie ein scharfer kleiner Eisdolch, der sich einem permanent aufs Neue ins Herz rammt. Dann tauchen Bilder wieder...
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