Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Der Irrweg

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
272 Seiten
Deutsch
Residenz Verlagerschienen am13.04.2021
Mit 'Der Irrweg' ist Martin Lechner erneut ein abgründiges und lustvolles Verwirrspiel der Sonderklasse gelungen. Sprachgewaltig, komisch und ausdrucksstark erzählt Martin Lechner vom Schulabbrecher Lars, der seinen Zivildienst in den Werkstätten einer psychiatrischen Anstalt ableistet. Nur im 'Brockwinkel' findet Lars Zuflucht vor seiner Mutter, deren Übergriffe schlimmer sind als jeder tobende Patient. Hier begegnet Lars auch der Insassin Hanna, die ihn aus dem Nichts in die herrlichsten Handgreiflichkeiten verwickelt, deren Kompromisslosigkeit jedoch bald bedrohliche Ausmaße annimmt. Ist sie es, die das Auto des Werkstättenleiters abgefackelt hat? Und werden die Flammen ihrer Liebe bald auch den durchs Leben stolpernden Lars verbrennen? Und kann, wer auf dem Irrweg ist, je zurückfinden in ein geordnetes Leben?

Martin Lechner, geboren 1974, Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Seit 2005 zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften wie 'Bella triste', 'manuskripte' und 'Edit'. Martin Lechner lebt in Berlin. Sein gefeierter erster Roman 'Kleine Kassa' stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2014, sein Erzählband 'Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen' (2016) auf der Shortlist für den Clemens Brentano-Preis 2017. Die Arbeit an 'Der Irrweg' wurde mit einem Stipendium des Berliner Senats gefördert.
mehr

Produkt

KlappentextMit 'Der Irrweg' ist Martin Lechner erneut ein abgründiges und lustvolles Verwirrspiel der Sonderklasse gelungen. Sprachgewaltig, komisch und ausdrucksstark erzählt Martin Lechner vom Schulabbrecher Lars, der seinen Zivildienst in den Werkstätten einer psychiatrischen Anstalt ableistet. Nur im 'Brockwinkel' findet Lars Zuflucht vor seiner Mutter, deren Übergriffe schlimmer sind als jeder tobende Patient. Hier begegnet Lars auch der Insassin Hanna, die ihn aus dem Nichts in die herrlichsten Handgreiflichkeiten verwickelt, deren Kompromisslosigkeit jedoch bald bedrohliche Ausmaße annimmt. Ist sie es, die das Auto des Werkstättenleiters abgefackelt hat? Und werden die Flammen ihrer Liebe bald auch den durchs Leben stolpernden Lars verbrennen? Und kann, wer auf dem Irrweg ist, je zurückfinden in ein geordnetes Leben?

Martin Lechner, geboren 1974, Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Seit 2005 zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften wie 'Bella triste', 'manuskripte' und 'Edit'. Martin Lechner lebt in Berlin. Sein gefeierter erster Roman 'Kleine Kassa' stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2014, sein Erzählband 'Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen' (2016) auf der Shortlist für den Clemens Brentano-Preis 2017. Die Arbeit an 'Der Irrweg' wurde mit einem Stipendium des Berliner Senats gefördert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783701746422
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum13.04.2021
Seiten272 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse911 Kbytes
Artikel-Nr.5715651
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Beschäftigungsstätte

Lars, der sich vor zehn Monaten albernerweise für den Zivildienst in der Psychiatrischen Anstalt am Stadtrand von Linderstedt gemeldet hatte, betrat die Beschäftigungsstätte pünktlich um halb acht. Herr Lehm saß bereits in seinem engen, nach Achselschweiß und Ärger riechenden Kabuff, glücklicherweise, denn viele Wortwechsel zwischen dem Leiter der Arbeits- und Beschäftigungstherapie und dem ihm unterstellten Zivildienstleistenden endeten damit, dass Lars die Augenbrauen so weit herunterzog, dass der obere Teil seines Sichtfeldes, in den Lehms verbeult wirkender Kopf hineinragte, dunkel weggeblockt wurde. Das wirkte zwar, als hätte er die Kontrolle über sein Gesicht verloren, aber er konnte den Mann, der seinen Auftrag darin sah, den lädierten Seelen erneute Leistungsbereitschaft einzudrillen, nicht leiden. Da half es auch nichts, dass dieser ihm gleich am ersten Tag erzählt hatte, dass ihn seine Frau vor einem Jahr im Stich gelassen habe. Nach fünfundzwanzig solide absolvierten Ehejahren, wie er mit einem verlangsamten Kopfschütteln angefügt hatte, bei dem ihm vermutlich das ganze öde Eheelend im Zeitraffer durchs Bewusstsein gerattert war.

Lars hustete zur Begrüßung und bezog Posten in der Küche. Zunächst musste er das Wasser zehn Minuten lang laufen lassen. Über Nacht lagerte sich Blei in den Rohren ab. Polternd rauschte der Strahl ins Spülbecken und verströmte einen stechenden Metallgeruch. Als Nächstes kam der sogenannte Cofachtherapeut Rupp. Stumm steckte er den Kopf in die Küche, sonderte seinen morgendlichen Brummlaut ab und verfügte sich dann in sein Reich, das Kabuff am anderen Ende des Werkraums, so dass zwischen ihm, Rupp, und Lehm, seinem Vorgesetzten, die größte Distanz herrschte, die innerhalb des Hauses möglich war. Die Feindschaft der beiden Arbeitstherapeuten ging zurück ins Dunkel der Zeit vor dem Dienstbeginn von Lars. Leider hatte es nicht lange gedauert, in Wahrheit sogar bloß wenige Stunden, bis er zum Spielball der beiden Therapeuten geworden war. Stets gab der eine ihm Aufträge, die dem jeweils anderen missfielen. Beorderte ihn Lehm zu Botengängen durch das ganze Gelände, beispielsweise, um bei Bruns, dem Anstaltshausmeister, einen Schlüssel abzuholen, den man in Wahrheit gar nicht brauchte, weil man ihn in Wahrheit längst hatte, zur Sicherheit aber bitte ein zweites Mal haben und gleich nach Erhalt im Gewirr des Kabuffs wieder verbaseln wollte, so kommandierte Rupp ihn als Kommunikator an einen der Tische ab, vorzugsweise an den depressiven Mitteltisch, wo schweigend nach Abgas stinkende Gummis in Schellen gepresst wurden. Anstatt nun aber Lehm und Rupp gegeneinander auszuspielen, wie es vernünftig gewesen wäre, ließ sich Lars zwischen den beiden zerreiben wie ein Haferkeks, erledigte also den ihm von Lehm aufgetragenen Botengang im Galopp, um sich anschließend schnell einen Stuhl zu schnappen und an den Tisch zu schieben. Kaum hatte er versucht, die sechs leer vor sich hinlächelnden Düsterlinge aufzuheitern, zum Beispiel, indem er eine Schelle auf der Stirn balancierte, eine Kinderei, die das tischweite Schweigen zu Recht ins Bodenlose vertiefte, schickte Lehm ihn schon ins Hauptgebäude mit einer bereits schriftlich übermittelten und auch schon beantworteten, bloß noch auf den verschlungenen Wegen des anstaltsinternen Postsystems herumirrenden, überdies völlig überflüssigen Botschaft für den behandelnden Arzt eines Insassen. Die höchste Reibung erreichte der Kleinkrieg zwischen den beiden Therapeuten allerdings zur Mittagspause. Wollte nämlich Lehm den Kaffee leicht, um seinen dünnhäutigen Magen zu schonen, schimpfte Rupp über die wässrige Lorke und forderte ein Minimum von drei hoch gehäuften Löffeln pro Tasse, was wiederum zu einer säureartigen Teertunke führte, die Lehm den Magen bluten ließ. Bis Lars endlich darauf kam, statt einer einfach zwei wunschgerechte Kannen zu kochen, waren schon drei lächerliche Monate verstrichen.

Jetzt kam Gustav, ein kompakter, knapp einsfünfzig großer Kerl, dem, laut Lehms Diagnose, auf einer Baustelle die Sicherung durchgebrannt war. Er stellte sich breitbeinig in die Küchentür.

»Zivi«, begann er mit dunkel anschwellender Stimme, »ich hab die Pille ausgekotzt.«

»Zur Kenntnis genommen«, erwiderte Lars mit laut herausgeknacktem K. Er musste gleich zu Beginn Kernigkeit demonstrieren. Denn wenn Gustav das Medikament, das er zur Dämpfung seiner oft gefährlich ausgepegelten Stimmungszustände zum Frühstück serviert bekam, nicht intus hatte, dann sprach er ihn nicht, wie gewöhnlich, mit »Stift« an, dem bauhierarchisch niedrigsten Rang, der auch optisch gut passte, schließlich nahm sich Lars nicht nur im Vergleich zu Gustav, sondern auch zwischen den beiden Kartoffelsackgewichten Rupp und Lehm tatsächlich dünn aus wie ein Bleistift, sondern, wie eben, mit »Zivi«. Rupp und Lehm hingegen durften sich täglich der höchsten Baustellentitel erfreuen, die es gab, Vorarbeiter und Polier. Lars aber musste aufpassen. Wurde er Zivi genannt, war Gustav noch schlechter gelaunt als gewöhnlich, und schon gewöhnlich war er oft dermaßen katastrophal schlecht gelaunt, als wäre die Station 3 b, in der er nachts eingeschlossen wurde, eine Unterabteilung der Hölle. An diesen zornig ausgespuckten Zivitagen konnte es passieren, dass Lars auf den Wegen zwischen Lehm und Rupp den Stiefeltritten des mangelhaft betäubten Gustav ausweichen musste, der ihm, dem aus der Bauhierarchie ins Nichts gerutschten Wicht, zeigen zu müssen meinte, wer hier was zu sagen hatte und wer nicht. Schon jetzt, um sieben Uhr zweiundfünfzig, stand Gustav lauernd vor ihm da. Ohne den Blick zu senken, griff Lars hinterrücks nach einem Handtuch und drehte es zu einer Schlagwurst zusammen. Auch wenn er natürlich viel zu feige war, damit tatsächlich zuzuschlagen. Doch da kam schon Jana, die Teilzeitkraft, die bloß an zwei Tagen in der Woche auftauchte, sie legte Gustav eine ihrer warmen, weich gepolsterten Hände auf die Schulter, was ihn besänftigte und schließlich davonbrummen ließ.

»Gottchen, Lars, ich hab so keine Lust«, sie rollte die Augen nach oben, so dass kurz nur das feucht glänzende Weiß zu sehen war, das an gepellte, hart gekochte Eier erinnerte. Dann schlenkerte sie hinüber zu Lehms Kabuff. Lars ließ den linken Mundwinkel, den er zu einem halbherzigen Mitleidslächeln angehoben hatte, wieder absinken. Die Lippen zu öffnen und das Gebiss zu zeigen, vermied er, so gut es ging. Vor einigen Jahren nämlich hatten sich zwei überzählige Schneidezähne aus seinem oberen Zahnfleisch herausgebohrt, zwei wunderbar brutal wirkende Raubtierhauer, die er stets hinter der Jalousie seiner Oberlippe verbarg, aus Sorge, bei jedem Lächeln angeekelt ausgelacht zu werden. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen, sein Gesicht in jeden auf ihn niederprasselnden Spott zu strecken, um sich abzuhärten. Dafür, dass Jana ihm jedes Mal, wenn sie sich begegneten, ihre frisch geweißten Zähne zeigte und ihn dadurch nötigte, seine Lippen zwanghaft zusammenzudrücken, um die hässlichen Hauer nicht durch ein Reflexlächeln zu entblößen, hätte er sie zum Feierabend gern einmal die Treppe heruntergestoßen. Jetzt sah er ihr nach, wie sie mit ihren großen, runden Oberschenkeln, die so glatt waren wie die einer Comicfigur, zu Herrn Lehm ins Kabuff wackelte. Zur Begrüßung würde sie sich sicher wieder seufzend vorbeugen und ihre Euter im Ausschnitt schaukeln lassen, damit Herr Lehm sie den Rest ihrer ohnehin verboten kurzen Arbeitszeit in Ruhe nach Klamotten surfen ließ. Da kam Hagen reingeschlurft, zusammen mit Erika, die ihr mehlweißes, von Medikamenten verquollenes Gesicht kurz in die Küche streckte und zweimal »ßenk, ßenk« flüsterte.

»Geburtstag dauert noch«, meinte Lars.

»ßenk!«, sagte sie wieder.

»Geschenk gibt s später«, sagte er über die Schulter. Kaum dass sie fort war, trat Hagen auf ihn zu und erklärte, dass er, wenn er nicht augenblicklich einen Kaffee bekäme, leider sehr laut schreien müsste.

»Dich sollte man wegsperren«, kommentierte Gustav aus dem Werkraum, »dann würdest du sehen!«

»Aber wenn ich keinen Kaffee kriege«, begann Hagen wieder und holte tief Luft.

»Die schlagen dich!«, dröhnte Gustav aus dem Werkraum, »und zwar mit einem Gummischlauch!«

»Das dürfen die nicht!«, rief Hagen mit vor Dringlichkeit zitternder Stimme.

»Das machen die aber!«, schrie Gustav. Da drohte Lars, dass sie beide eine Woche lang kein Frühstück bekämen, wenn sie sich nicht augenblicklich an die Arbeit machen würden, und war froh, als seine in Wahrheit kaum durchzuhaltende Drohung Wirkung zeigte.

Trotz dieses kleinen Sieges lag die schiefe Stimmung ungut in der Luft und hatte gegen Mittag, als Lehm seinen Gang zur Poststelle machte und Rupp, der den ganzen Vormittag über nicht richtig aufgewacht war, bereits wegzudämmern begann, die...
mehr

Autor

Martin Lechner, geboren 1974, Studium der Philosophie und Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Seit 2005 zahlreiche Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften wie "Bella triste", "manuskripte" und "Edit". Martin Lechner lebt in Berlin. Sein gefeierter erster Roman "Kleine Kassa" stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2014, sein Erzählband "Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen" (2016) auf der Shortlist für den Clemens Brentano-Preis 2017. Die Arbeit an "Der Irrweg" wurde mit einem Stipendium des Berliner Senats gefördert.