Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Gewittertiere

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
336 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am02.08.2021Auflage
Colin und ihr Bruder Hannes wachsen in einer kleinstädtischen Reihenhaussiedlung auf, aber von Idylle kann keine Rede sein. Als nach dem Mauerfall die Angst vor Zuwanderung aus dem Osten geschürt wird, beginnt ihr Vater einen Bunker im eigenen Garten zu graben, und bringt damit auch den letzten familiären Zusammenhalt ins Wanken. Ein Leben lang werden die Geschwister ihren Platz jenseits privater und gesellschaftlicher Machtgefüge suchen - in einem Land, in dem rechtsextreme Gewalt längst zum Alltag gehört. Und während Colin in ihrer Liebe zu Eda Erlösung sucht, bekommt Hannes selbst eine Macht, der er sich nicht immer entziehen kann. Bildhaft und präzise, schonungslos und zärtlich erzählt Svealena Kutschke in ihrem neuen Roman von Figuren am Rande der Gesellschaft, von der Suche nach der Möglichkeit einer Beziehung - und trifft dabei den gegenwartspolitischen Kern unserer Zeit.

Svealena Kutschke studierte Kulturwissenschaften und lebt als Autorin in Berlin. Für ihre literarischen Arbeiten und bisher drei veröffentlichten Romane erhielt sie verschiedene Auszeichnungen und Förderungen, darunter den Open Mike der Literaturwerkstatt Berlin, das Berliner Senatsstipendium und den Förderpreis des Schiller-Gedächtnispreises 2019. Ihr Stück zu unseren füßen, das gold, aus dem boden verschwunden zählt zu den Gewinnertexten der Autorentheatertage 2019 und wurde am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. 2022 erhielt sie den Hebbel-Preis der Friedrich-Hebbel-Stiftung in Kiel.
mehr

Produkt

KlappentextColin und ihr Bruder Hannes wachsen in einer kleinstädtischen Reihenhaussiedlung auf, aber von Idylle kann keine Rede sein. Als nach dem Mauerfall die Angst vor Zuwanderung aus dem Osten geschürt wird, beginnt ihr Vater einen Bunker im eigenen Garten zu graben, und bringt damit auch den letzten familiären Zusammenhalt ins Wanken. Ein Leben lang werden die Geschwister ihren Platz jenseits privater und gesellschaftlicher Machtgefüge suchen - in einem Land, in dem rechtsextreme Gewalt längst zum Alltag gehört. Und während Colin in ihrer Liebe zu Eda Erlösung sucht, bekommt Hannes selbst eine Macht, der er sich nicht immer entziehen kann. Bildhaft und präzise, schonungslos und zärtlich erzählt Svealena Kutschke in ihrem neuen Roman von Figuren am Rande der Gesellschaft, von der Suche nach der Möglichkeit einer Beziehung - und trifft dabei den gegenwartspolitischen Kern unserer Zeit.

Svealena Kutschke studierte Kulturwissenschaften und lebt als Autorin in Berlin. Für ihre literarischen Arbeiten und bisher drei veröffentlichten Romane erhielt sie verschiedene Auszeichnungen und Förderungen, darunter den Open Mike der Literaturwerkstatt Berlin, das Berliner Senatsstipendium und den Förderpreis des Schiller-Gedächtnispreises 2019. Ihr Stück zu unseren füßen, das gold, aus dem boden verschwunden zählt zu den Gewinnertexten der Autorentheatertage 2019 und wurde am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt. 2022 erhielt sie den Hebbel-Preis der Friedrich-Hebbel-Stiftung in Kiel.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843725903
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum02.08.2021
AuflageAuflage
Seiten336 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3018 Kbytes
Artikel-Nr.5725545
Rubriken
Genre9201
Verwandte Artikel

Inhalt/Kritik

Leseprobe

 

Nora schaute auf die Uhr, die an der Wand über dem Küchentisch hing, 7 Uhr 17, am Küchenfenster gingen schon die ersten Kinder vorbei, dabei fuhr der Bus erst in zwölf Minuten. Sie schnitt Apfel- und Möhrenstücke und füllte sie in kleine Plastikbeutel, schlug Brote in Alufolie ein, dazu zwei Trinkpäckchen und verstaute alles in den zwei Schulranzen, die im Flur bereitstanden.

Auf dem Küchentisch die Reste des Frühstücks, eine halbherzig gelesene Zeitung, in der Tasche ihres Bademantels das Buch, das sie gerade angefangen hatte. Sie hatte es heute probeweise beim Frühstück aufgeschlagen, als Martin in der Zeitung blätterte, die Blicke der Familie daraufhin so ratlos, dass sie es direkt wieder in den weiten Taschen des Bademantels verschwinden ließ. Sie hörte, wie Martin sich im Flur Jacke und Schuhe anzog, dann stand er in der Küchentür, die Hosenbeine mit silbernen Fahrradklammern zusammengefasst, er lächelte leicht gehetzt, wartete, dass sie zu ihm kam, um ihn zu verabschieden. Seit sie ihn einmal angefahren hatte, als er mit schlammverschmierten Schuhen über den frisch gewischten Küchenboden geeilt war, betrat er selbst mit trockenen Schuhen keinen der Räume mehr. Aus dem oberen Stockwerk die Stimme von Colin, die Hannes ermahnte, nicht das Wasser laufen zu lassen, während er sich die Zähne putzte, dann trottete sie in ihrer langsamen, fast schwerfälligen Art die Treppe hinunter, zog wortlos Jacke und Schuhe an, setzte ihren Ranzen auf und wartete auf Hannes.

Colin und Hannes, die letzten in der Prozession der Kinder, die über die Kreidebilder auf dem Plattenweg liefen. Blaue und rote Scout-Ranzen, manche neu und glänzend, andere mit sich ausbreitenden Flecken ausgelaufener Filzstifte und Fettflecken von Salamibroten. Dazwischen Teenager, die Rucksäcke und lederne Schultertaschen trugen.

Die Reihenhaussiedlung, in der die Beckers wohnten, dehnte sich nah am Wald, durch den sich ein verschlammter Fluss schlängelte. Sie war der letzte Ausläufer der Stadt, dahinter begann die gezähmte, behäbige Flora des deutschen Nordens, geforstete Fichtenwälder, Weizen- und Maisfelder, ein paar Wiesen mit verstreuten Findlingen, jeder einzelne mit einer Gravur versehen; was man nicht beackern, ernten, roden oder fällen konnte, musste man zumindest beschriften.

Die Siedlung lag an der Endhaltestelle, der Busfahrer stand auf der Straße und trank Kaffee aus einer Thermoskanne, während sich der Bus mit Kindern füllte, dazu ein paar Rentnerinnen mit gehäkelten Einkaufsnetzen, welche die neue Linie nutzten, um die zwei Kilometer zu Martin Beckers Lebensmittel- und Haushaltswarenladen, den er die Beckerei getauft hatte, nicht zu Fuß zurücklegen zu müssen.

Nora schloss die Haustür, ging in die Küche und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, dann setzte sie sich im Bademantel auf die Terrasse hinter dem Haus, ließ ihren Blick über den kleinen Garten wandern und rauchte eine Zigarette. Aus den Nachbarhäusern drang schon das Summen der Staubsauger herüber, das Brummen der Spülmaschinen und Waschmaschinen, in den Gärten wurden die Wäschespinnen aufgespannt, die Blumen, der Rhabarber, die Radieschen und die Petersilie gegossen und das Unkraut gejätet. Es wurden Bartstoppeln aus Waschbecken gewischt, Brotkrümel vom Frühstückstisch und die feuchten Fußabdrücke der Kinder vom Badezimmerboden. Nora holte ihr Buch hervor und schlug es auf. Sie gehörte noch zu der Generation von Frauen, die Frotteebettwäsche aus einem ganz speziellen Grund zu schätzen wusste: weil man sie nicht mangeln musste. Zum Einzug ins Reihenhaus hatte sie, neben dem schweren alten Jahrhundertwendeleinen, auch eine Mangel von ihrer Mutter bekommen. Paula Bode hatte extra zwei junge Männer angeheuert, die das Monstrum aus ihrem Keller zerrten, die Treppe hochwuchteten, in einem gemieteten Kleinlaster 80 Kilometer in die Siedlung fuhren und es in das winzige Reihenhaus schleppten, wo es sich im Flur so verkeilte, dass es die Tapete zerfetzte. Jahrelang hatte Nora einmal in der Woche im Waschkeller gestanden und unter heftigem Zischen und beeindruckender Dampfentwicklung zähneknirschend das Leinen durch die Mangel gezogen, während Colin fasziniert neben ihr stand und jedes einzelne gottverdammte Mal, bevor sie den glühend heißen Deckel über der Rolle zuklappte, aufschrie: »Mama! Finger!«

Nora Becker konnte nicht sagen, ob das aufschießende Bedürfnis, die Finger zwischen Mangelrolle und Heizplatte zu stecken, durch die Angst ihrer Tochter überhaupt erst entstanden war. Die einzige wirkliche Rebellion gegen die eigene Mutter, die Nora kannte, war die Autoaggression; das vielleicht schwierigste Erbe, das sie ihren Kindern vermachte.

Wie bei jedem Frühstück hatte Martin auch heute gefragt, was es zum Mittagessen geben würde, und Nora, die morgens nichts hinunterbekam außer einem schwarzen Kaffee, hatte, wie jeden Morgen, das leichte Würgen, das sie bei dem Gedanken an eine fleischlastige Hauptmahlzeit befiel, unterdrückt und »Auflauf« gesagt, weil das viele Optionen bot. Es machte sie traurig und gleichzeitig wütend, mit welch zärtlicher Vorfreude ihr Mann diese Frage stellte und wie enthusiastisch er sich ihrer Fürsorge überließ. Vor allem aber: wie anspruchslos er war. Nora war keine gute Köchin, Martin aber lobte noch das schlichteste ihrer Gerichte, was ihr, wenn sie gerade eine Dose Corned Beef, eine Dose Erbsen und ein paar Spirelli in eine Auflaufform geschichtet und mit Gouda bestreut hatte, kein gutes Gefühl gab. Ob Bratwürstchen mit aus Pulver aufgekochter Jägersoße und Kartoffelpüree aus der Tüte oder Salzkartoffeln mit Erbsengemüse aus der Konserve und fertigen Frikadellen von Aldi - Martin lobte jedes Essen nach dem ersten Bissen. Immer mal wieder nahm sie sich vor, vernünftig zu kochen, kaufte Zeitschriften mit Rezepten, aber schon die strahlenden Hochglanzgesichter der Frauen, die mit makelloser Frisur ihre sorgsam angerichteten Teller präsentierten, machten Nora so aggressiv, dass sie lieber Unkraut jäten ging, in einem Furor, dem auch die eine oder andere Tulpe zum Opfer fiel.

Nora sammelte gerade verstreute Socken zusammen, als sie das Heft mit den Matheaufgaben unter Colins Schreibtisch fand. Sie überlegte nur kurz, ob es wichtig war, ihrer Tochter das Heft in die Schule zu bringen. Sie fühlte sich nicht schuldig, dass sie es nicht tat. Sie fühlte sich schuldig, mit welcher Geschwindigkeit sie entschied, dass die Zahlen, die sorgsam in die kleinen Karos gemalt waren, den Aufwand nicht lohnten. Ihre Tochter war Klassenbeste, der Lehrer würde ihr das Fehlen der Aufgaben verzeihen, und was die Kinder heute heiße Tränen kostete, war ihnen übermorgen schon wieder entfallen. Nora konnte sich kaum an ihre Kindheit erinnern, und was sie erinnerte, hätte sie gern vergessen. Deswegen fiel es ihr manchmal schwer, die Emotionen ihrer Sprösslinge mit der gebotenen Dringlichkeit zu betrachten. Kinder waren widerstandsfähig, das wusste sie aus eigener Erfahrung. Nicht alles zu erinnern sei ein Segen, hatte Paula Bode immer gesagt, und wenn Nora auch mit ihrer Mutter in kaum etwas übereinstimmte: In diesem Punkt musste sie ihr recht geben.

Einmal, Colin war etwa sechs Jahre alt, war Nora im Wald einem Exhibitionisten begegnet. Der Mann hatte sich plötzlich aus dem Schatten der Bäume gelöst, den Mantel geöffnet, darunter sein erigierter Penis, und bevor Nora überhaupt begriff, was sie sah, hatte sie schon die Stimme ihrer Mutter im Kopf: »Was gehst du auch im Wald spazieren. Da muss ja was passieren.« Und Nora blieb stehen, unfähig, sich der Situation zu entziehen, starrte diesen Mann an, dessen Grinsen immer mehr Macht bekam. Nach einer Weile war der Mann zurück in den Schatten geglitten und hatte der Dunkelheit des Waldes jede Unschuld genommen. Nora stand reglos auf dem schmalen Pfad, und der Wald, der immer ihr Rückzugsort gewesen war, ihr immer Sicherheit gegeben hatte, schien plötzlich unübersichtlich und voller Gefahren zu sein. Dann Colins dünne Stimme: »Mama, du musst keine Angst haben.« Als wäre ihre Tochter erst in diesem Moment an ihrer Seite aufgetaucht. Auf dem Kopf das orangefarbene Erstklässlerkopftuch, das sie stolz auch am Nachmittag trug, hatte sie reglos neben ihr ausgeharrt, schließlich tröstend an ihrer Hand gezupft. Nora hatte den Druck der Kinderhand erwidert, dann waren sie beide der nahen Siedlung zugeeilt, während die Schatten des Waldes sich hinter ihnen schlossen. Colin hatte nie ein Wort über den Vorfall verloren, Nora war überzeugt, dass sie ihn vergessen hatte. In Nora Beckers Erinnerung war es ein Erlebnis, das ihr widerfahren war, nicht ihrer Tochter. Und deshalb fiel ihr auch nicht auf, dass sie ihrer sechsjährigen Tochter nicht nur keinen Schutz geboten, sondern dass, umgekehrt, Colin sie beschützt und getröstet hatte.

Nora Becker war schon einunddreißig Jahre alt, als sie mit Hannes schwanger geworden war. Als der Teststreifen ihre Vermutung bestätigte, lief sie in die Küche, um sich zur Beruhigung ein paar Pumpernickel-Käsespieße mit Weintrauben zu machen. An jenem Abend bettete Martin seinen Kopf in ihren Schoß und weinte vor Glück. Martins Tränen waren eine Reaktion, die Nora genauso wenig schätzte wie die...
mehr

Autor

Svealena Kutschke studierte Kulturwissenschaften und lebt als Autorin in Berlin. Für ihre literarischen Arbeiten und bisher drei veröffentlichten Romane erhielt sie verschiedene Auszeichnungen und Förderungen, darunter den Open Mike der Literaturwerkstatt Berlin, das Berliner Senatsstipendium und den Förderpreis des Schiller-Gedächtnispreises 2019. Ihr Stück zu unseren füßen, das gold, aus dem boden verschwunden zählt zu den Gewinnertexten der Autorentheatertage 2019 und wurde am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt.