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Die Gesichter des Ethan Shaw

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
280 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am30.08.2021Auflage
'Fabrice Humbert legt eine brillante Reflexion auf unsere Beziehungen zu Fiktionen und Erzählungen vor, die er auf meisterhafte Weise mit einer spannenden Krimihandlung verknüpft.' Le Monde Er war sein Retter gewesen, damals, als Adam Vollmann mit seiner Mutter von Washington, D.C. nach Colorado gezogen ist. Ethan Shaw war das Idol jedes Jungen und der Schwarm aller Mädchen auf der Highschool in Drysden und der Einzige, dem sich der jugendliche Adam freundschaftlich zugetan fühlte. Und dieser Ethan Shaw soll zu dem Mann geworden sein, der Adam nun von den Bildschirmen des New Yorker Times Square entgegenstarrt? Zu einem landesweit gesuchten Verbrecher? Adam will es nicht glauben und fährt zurück nach Drysden, um die Wahrheit herauszufinden. Aber was ist die Wahrheit in einer Welt, in der jede/r jederzeit alles sagen kann, in der es um Aufmerksamkeit um jeden Preis geht, um Quoten und Auflagen? Wie ist es möglich, zu der einen wahren Geschichte hinter all den Geschichten vorzudringen? Und wer schützt einen davor, auf der Suche nach der Wahrheit nicht selbst den Bezug zu ihr zu verlieren?

Fabrice Humbert ist ein preisgekrönter Autor, dem sein literarischer Durchbruch mit seinem Roman L'origine de la violence (2009) gelang, der ein großer Publikumserfolg in Frankreich wurde und als Film adaptiert wird. Die Gesichter des Ethan Shaw ist sein achter Roman. Humbert lebt in ... und unterrichtet Literatur an ..
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Produkt

Klappentext'Fabrice Humbert legt eine brillante Reflexion auf unsere Beziehungen zu Fiktionen und Erzählungen vor, die er auf meisterhafte Weise mit einer spannenden Krimihandlung verknüpft.' Le Monde Er war sein Retter gewesen, damals, als Adam Vollmann mit seiner Mutter von Washington, D.C. nach Colorado gezogen ist. Ethan Shaw war das Idol jedes Jungen und der Schwarm aller Mädchen auf der Highschool in Drysden und der Einzige, dem sich der jugendliche Adam freundschaftlich zugetan fühlte. Und dieser Ethan Shaw soll zu dem Mann geworden sein, der Adam nun von den Bildschirmen des New Yorker Times Square entgegenstarrt? Zu einem landesweit gesuchten Verbrecher? Adam will es nicht glauben und fährt zurück nach Drysden, um die Wahrheit herauszufinden. Aber was ist die Wahrheit in einer Welt, in der jede/r jederzeit alles sagen kann, in der es um Aufmerksamkeit um jeden Preis geht, um Quoten und Auflagen? Wie ist es möglich, zu der einen wahren Geschichte hinter all den Geschichten vorzudringen? Und wer schützt einen davor, auf der Suche nach der Wahrheit nicht selbst den Bezug zu ihr zu verlieren?

Fabrice Humbert ist ein preisgekrönter Autor, dem sein literarischer Durchbruch mit seinem Roman L'origine de la violence (2009) gelang, der ein großer Publikumserfolg in Frankreich wurde und als Film adaptiert wird. Die Gesichter des Ethan Shaw ist sein achter Roman. Humbert lebt in ... und unterrichtet Literatur an ..
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843725729
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum30.08.2021
AuflageAuflage
Seiten280 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3141 Kbytes
Artikel-Nr.5725577
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

An jenem Abend sah ich meinen Jugendfreund Ethan zum ersten Mal wieder, überlebensgroß, völlig verändert und unzählige Male vervielfacht, blickte er mir von den Bildschirmen am Times Square entgegen. Jeder auf dem Platz starrte verblüfft auf das Konterfei des gesuchten Mannes.

Aber für niemanden in dieser gaffenden Menge war die Überraschung wohl so groß wie für mich. Von allen Seiten strömten die Bilder auf mich ein, auf sämtlichen Screens, über die sonst Filme und Werbung liefen, flimmerte Ethans Gestalt in Jeans und schwarzem T-Shirt. Sein Gesicht wirkte reifer, seine Züge kantiger, aber er war es, keine Frage, aus jeder Perspektive, eine abscheuliche Strecke belastender Fotos. Ethan Shaw, gezeigt, benannt und verurteilt.

Das Aufblitzen der Bilder in der seltsamen Black Box des Times Square, diesem Ort des Trugs und der Illusion, erdrückte mich. Ich war überwältigt von Ethans Riesenhaftigkeit und von den Hunderten Menschen, die ihre Blicke auf ihn richteten, ohne etwas über ihn zu wissen. Was hatte er getan? Wie hatte er zu diesem Mann da werden können?

Ich kannte Ethan Shaw. Seit sehr langer Zeit. Und ich verstand nicht - sofern der Verstand in solchen Momenten überhaupt das Sagen hat -, was geschehen sein musste, dass er sich auf der Flucht befand, dass man ihn eines Verbrechens bezichtigte und vor einem ganzen Land an den Pranger stellte. Ethan war der Mann, der mich früher vor Schmach und Einsamkeit bewahrt hatte. Wenn man damals mit dem Finger auf ihn gezeigt hatte, dann gewiss nicht, weil er sich etwas zuschulden hatte kommen lassen, sondern weil alle ihn bewunderten.

Ethan Shaw. Der bekannteste Name an der Highschool von Drysden, Colorado. Der Kapitän des Footballteams. Der beste Tennisspieler des Bundesstaates in seiner Altersklasse. Ich war vierzehn, als ich ihn kennenlernte. Die Scheidung meiner Eltern hatte zur Folge gehabt, dass ich den wohlhabenden Vorort von Washington verlassen musste. Das kleine Städtchen Drysden, in das es meine Mutter und mich verschlug, empfing uns in seiner ganzen Banalität und Anonymität. Gleichförmige, hässliche Häuser, langweilige Vorgärten, einheitliche Straßenzüge. Ein paar Amtsgebäude (Polizei, Rathaus), Restaurants, drei Kinos, ein großes Einkaufszentrum. Zwei Highschools, darunter meine, die Franklin Highschool.

Ich werde niemals erfahren, warum die Wahl meiner Mutter auf Drysden gefallen war. Wahrscheinlich wollte sie sich von allem lossagen, was das Leben mit meinem Vater in Washington ausgemacht hatte. Meine Mutter war in Colorado aufgewachsen, allerdings war ihre Heimatstadt Boulder im Vergleich zu Drysden ein Ausbund an Schönheit und Kultur. Sie hatte eine Stelle als Verkaufsleiterin in einem EDV-Unternehmen gefunden, und nur zwei Tage später räumten wir unsere Sachen in die weißlichen Schränke eines in aller Eile gemieteten Hauses.

Nach zwei weiteren Tagen begann für mich - mitten im Winter - das Schuljahr in der neuen Umgebung.

Es war der 3. Dezember. Es war kalt. Ich hatte keine Lust, das Gebäude zu betreten, und drückte mich an der Treppe zum Eingang herum. In dem Moment, als die Schulglocke schrillte und ich mich widerwillig in Bewegung setzte, trat ein Autofahrer etwa fünfzig Meter vor der Schule voll auf die Bremse. Ein junger blonder Mann sprang aus dem Wagen und näherte sich mit schnellen Schritten. Die wenigen Nachzügler, die noch am Eingang standen, drehten sich zu ihm um. Es war Ethan Shaw, wie ich später erfahren sollte. Ich war fasziniert von seiner Schönheit, und gleichzeitig überfiel mich ein Gefühl von Scham.

Wenn ich heute an den armen vierzehnjährigen Adam zurückdenke, der angesichts der übernatürlichen Erscheinung eines sportlichen blonden Teenagers wie vom Donner gerührt auf der Treppe stehen blieb, scheint es mir, als wiederholte sich die Geschichte. Auch der erwachsene Adam erstarrte, als die Bilder am Times Square aufleuchteten, wie damals verschlug es ihm vor Erstaunen die Sprache beim Anblick des heldenhaften und zugleich bösen Ethan Shaw.

Der junge Ethan lief damals an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und verschwand im Innern des Schulgebäudes.

Es folgten weitere Begegnungen. Beim Footballmatch am 22. Januar. Ich hatte mir noch nie eine Partie angesehen, weder im Fernsehen noch auf dem Spielfeld. Es interessierte mich einfach nicht. Aber was in Washington niemanden gestört hatte, war in Drysden nicht möglich. Die ersten Wochen an der neuen Schule glichen einer langen Stille, kaum jemand wechselte ein Wort mit mir. Binnen weniger Tage hatte man mich begrüßt, begutachtet und mit gelangweilter Herablassung wieder fallen lassen. Eine frühe Einsicht in die Korruptheit zwischenmenschlicher Beziehungen, da auch der Umgang mit meinen Kameraden in Washington nicht unproblematisch gewesen war, ließ mich die Notwendigkeit meiner Anwesenheit bei dem hochheiligen Spiel vom 22. Januar spüren. Ich stand bereits im Abseits, ich konnte zum Feind werden, wenn ich mich absonderte.

Was für einen Nervenkitzel allein die Erwähnung des Ereignisses bei meinen Mitschülern hervorrief! Der verhasste Rivale, die Holy Names Academy aus Beckley, würde gegen die Mannschaft der Franklin Highschool antreten! Es ging um nichts weniger als die Ehre der Schule, der Stadt, des Landes. Die Begegnung sollte am Samstag stattfinden, und jeder hatte sich gut vorzubereiten, um die Franklin-Krieger würdig zu unterstützen. Ich merkte, wie sich ein Feuerring formierte, und mir war klar, dass jeder, der außerhalb dieses Rings stand, zum Feind erklärt werden würde. Ich sah keine Möglichkeit zum Rückzug. Solche Rudel widerten mich an, aber ich hatte nicht die Kraft, ihnen die Stirn zu bieten. Dahinter steckte keine Feigheit: nur eine realistische Einschätzung der Mehrheitsverhältnisse. Und war ich nicht seit Langem gezwungen, mich zu verstecken?

Also spielte Adam seine Rolle. Er hörte sich aufmerksam die Prognosen an, zeigte sich erfreut darüber, dass die Spitzenleute des Teams in Topform waren, nickte, wenn über die verschiedenen Spielstrategien gefachsimpelt wurde, und mischte sich am 22. Januar unters Publikum.

Aber was war an diesem Tag los mit dem armen Adam? Warum schlug sein Herz so schnell? Wieso war er mit solcher Begeisterung dabei, dass er genau wie die anderen herumbrüllte? War es das Animalische der Situation? Wahrscheinlich.

So viele junge Männer, so viel Rohheit, das Gegröle der Menge, die Sprints zum Tor, immer wieder gebremst durch Hindernisse, all das hatte etwas Erregendes, auch ich ließ mich davon mitreißen. Hinzu kam meine nicht ganz unschuldige Begeisterung für den Kapitän, der in eng anliegender Kampfuniform, einen Helm auf seinem blonden Kopf und mit Schulterschützern, die ihm eine breite Statur gaben, über das Feld rannte.

Im Grunde vergötterte ihn jeder. Seine Sprints sorgten für hoffnungsfrohen Jubel, und wenn er stürzte, ging ein entsetztes Raunen durch die Reihen. Er war der Kapitän dieser Mannschaft, ihr Aushängeschild, ihre Seele. Und vor allem war er das Wahrzeichen der Franklin Highschool, in ihm wollten wir uns alle wiedererkennen (und dieses Wir war an jenem Tag tatsächlich nicht nur eine Rolle, die ich spielte). Er war unser Stolz. Er repräsentierte uns. Waren wir schwach, ängstlich? Er sorgte dafür, dass wir über uns hinauswuchsen. Er verkörperte uns, in anderer Gestalt.

Ich feuerte ihn lautstark an bei seinem triumphalen Lauf. Wie die anderen schrie ich: »Ethan! Ethan!« Er sah nicht einmal mehr auf, so sehr war er an Beifall gewöhnt. Am Ende gewann unser Team das Match. Natürlich, denn wir hatten unseren Halbgott.

Wie erholt man sich von solchem Ruhm? Unter den Gründen, die zu Ethans Tragödie geführt haben mochten, kann ich den maßlos umschwärmten Jugendlichen nicht außer Betracht lassen. Er war Herr über eine Miniaturgesellschaft. Sein Name war in aller Munde. Sein Körper vollbrachte Heldentaten. Die Mädchen himmelten ihn an, die Jungen verehrten ihn. Die Masse fühlte sich auf primitive Weise zu ihm hingezogen, wie zu einem Führer. Derart gefeierte Teenager sind ein Schmelztiegel für die größten Erfolge und die härtesten Niederlagen.

In der Chronologie unserer Begegnungen ist auch der 20. Februar vermerkt. Das Datum steht nicht etwa für ein weiteres Ereignis, dem ich als Fan beiwohnte, sondern für den Tag, mit dem alles begann, an dem er mich ansprach. Es schneite. Seidenweiche Schneeflocken fielen sanft auf die Erde, wie in einem Märchen. Auf dem Weg zur Schule begleitete mich eine ungewohnte Ruhe, alles war wie in Watte gehüllt, Drysden zeigte sich mir von einer neuen Seite. In einer Unterrichtspause suchte ich mir eine stille Ecke in der Kantine, die um diese Uhrzeit leer war, und kramte ein Buch aus meiner Tasche.

In dem Moment schwang die Tür auf, und Ethan kam herein. Er steuerte geradewegs auf die Küche zu, bestimmt wollte er noch etwas zu essen abstauben, ihm konnte man nichts abschlagen. Doch dann entdeckte er mich, neugierig trat er näher.

»Was liest du?«

Ich deutete auf den Umschlag des Buchs: Der Tod des Iwan Iljitsch von Tolstoi, eine Erzählung aus der späten Schaffensperiode, als der Autor der Meinung war, der Westen sei auf dem falschen Weg...
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Autor

Fabrice Humbert ist ein preisgekrönter Autor, dem sein literarischer Durchbruch mit seinem Roman L'origine de la violence (2009) gelang, der ein großer Publikumserfolg in Frankreich wurde und als Film adaptiert wird. Die Gesichter des Ethan Shaw ist sein achter Roman. Humbert lebt in ... und unterrichtet Literatur an ..