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Tempowahn

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
232 Seiten
Deutsch
Promedia Verlagerschienen am01.04.2021
Mit dem Begriff 'Tempowahn' verbindet man vordergründig Autorennen. Oder man assoziiert damit neue SUV-Modelle und Sportwagen mit 300 und mehr PS. Auch kommen einem die deutschen Autobahnen in den Sinn, auf denen über weite Strecken 'Tempofreiheit' herrscht. Der Verkehrsforscher Winfried Wolf findet beim Thema der Beschleunigung noch ganz andere, erstaunliche Zusammenhänge. Solche zwischen Tempowahn und Demokratieabbau, zwischen Geschwindigkeits­fetischismus und Faschismus, zwischen PS-Hochrüstung und Männlichkeitswahn oder zwischen Entschleunigung und Urbanität. Wolf besuchte für seine Recherche die Automessen der Gegenwart. Entgegen allen Bekundungen ist dort für die Hersteller die Geschwindigkeit der neuen Modelle noch immer das wesentlichste Verkaufsargument - der SUV-Boom hält unverändert an. Nach dem aktuellen Befund dringt Wolf ein in die Geschichte der Mobilität als ständig beschleunigte Bewegung von Menschen, wobei diese - von der Eisenbahn über das Automobil bis zum Flugzeug - nicht mit einem Mehr an Kommunikation einherging. Die schlimmste politische Ausformung fand der Geschwindigkeitsfetischismus im Faschismus: Henry Ford, ein begeisterter Anhänger der Nazis, Benito Mussolini und Adolf Hitler setzten auf Temporausch und Autorennen zur Durchsetzung ihrer - durchaus unterschiedlichen - Ziele. Doch auch in den heutigen Gesellschaften ortet der Autor eine fatale Verbindung zwischen Beschleunigung und autoritären Denkmustern. Männer rasten schon immer gerne in den Tod. Winfried Wolf weiß von einer Reihe von Prominenten zu berichten, denen überhöhtes Tempo ein frühes Ende setzte: Vom NS-Helden Bernd Rosemeyer über den Schauspieler James Dean und den Formel-1-Fahrer Jochen Rindt bis zum FPÖ-Führer Jörg Haider. Der Tempowahn ist auch für die Allgemeinheit äußerst schädlich: Rasende Autos und Betonorgien führen zu Stadtzerstörung und Verlust an Urbanität. Tempowahn und Geschwindigkeitsfetischismus, so konstatiert Wolf, müssen endlich der Entschleunigung und der Demokratie weichen.

Winfried Wolf, geboren 1949 in Horb am Neckar, studierte Politikwissenschaften in Freiburg und Berlin und promovierte in Hannover. Von 1994 bis 2002 war er Mitglied des deutschen Bundestags. Er ist Chefredakteur von 'Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie' und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Im Promedia Verlag sind von ihm u.a. erschienen: 'Verkehr. Umwelt. Klima. Die Globalisierung des Tempowahns' (2. Auflage 2009) und 'Mit dem Elektroauto in die Sackgasse' (aktualisierte Neuauflage 2020).
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Produkt

KlappentextMit dem Begriff 'Tempowahn' verbindet man vordergründig Autorennen. Oder man assoziiert damit neue SUV-Modelle und Sportwagen mit 300 und mehr PS. Auch kommen einem die deutschen Autobahnen in den Sinn, auf denen über weite Strecken 'Tempofreiheit' herrscht. Der Verkehrsforscher Winfried Wolf findet beim Thema der Beschleunigung noch ganz andere, erstaunliche Zusammenhänge. Solche zwischen Tempowahn und Demokratieabbau, zwischen Geschwindigkeits­fetischismus und Faschismus, zwischen PS-Hochrüstung und Männlichkeitswahn oder zwischen Entschleunigung und Urbanität. Wolf besuchte für seine Recherche die Automessen der Gegenwart. Entgegen allen Bekundungen ist dort für die Hersteller die Geschwindigkeit der neuen Modelle noch immer das wesentlichste Verkaufsargument - der SUV-Boom hält unverändert an. Nach dem aktuellen Befund dringt Wolf ein in die Geschichte der Mobilität als ständig beschleunigte Bewegung von Menschen, wobei diese - von der Eisenbahn über das Automobil bis zum Flugzeug - nicht mit einem Mehr an Kommunikation einherging. Die schlimmste politische Ausformung fand der Geschwindigkeitsfetischismus im Faschismus: Henry Ford, ein begeisterter Anhänger der Nazis, Benito Mussolini und Adolf Hitler setzten auf Temporausch und Autorennen zur Durchsetzung ihrer - durchaus unterschiedlichen - Ziele. Doch auch in den heutigen Gesellschaften ortet der Autor eine fatale Verbindung zwischen Beschleunigung und autoritären Denkmustern. Männer rasten schon immer gerne in den Tod. Winfried Wolf weiß von einer Reihe von Prominenten zu berichten, denen überhöhtes Tempo ein frühes Ende setzte: Vom NS-Helden Bernd Rosemeyer über den Schauspieler James Dean und den Formel-1-Fahrer Jochen Rindt bis zum FPÖ-Führer Jörg Haider. Der Tempowahn ist auch für die Allgemeinheit äußerst schädlich: Rasende Autos und Betonorgien führen zu Stadtzerstörung und Verlust an Urbanität. Tempowahn und Geschwindigkeitsfetischismus, so konstatiert Wolf, müssen endlich der Entschleunigung und der Demokratie weichen.

Winfried Wolf, geboren 1949 in Horb am Neckar, studierte Politikwissenschaften in Freiburg und Berlin und promovierte in Hannover. Von 1994 bis 2002 war er Mitglied des deutschen Bundestags. Er ist Chefredakteur von 'Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie' und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Im Promedia Verlag sind von ihm u.a. erschienen: 'Verkehr. Umwelt. Klima. Die Globalisierung des Tempowahns' (2. Auflage 2009) und 'Mit dem Elektroauto in die Sackgasse' (aktualisierte Neuauflage 2020).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783853718858
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum01.04.2021
Seiten232 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2393 Kbytes
Artikel-Nr.5725886
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Kapitel 1: Der Mensch. Die Zeit. Die Uhr

Zu Beginn des anschließenden Winters jedoch kam ein Weib, das in der Stunde der schlimmsten Hitze Wäsche im Fluss wusch, höchst aufgeregt und laut zeternd durch die Hauptstraße gerannt. »Da kommt was Unheimliches«, stieß sie mühsam hervor, »so was wie eine Küche, die ein Dorf hinterdrein schleppt.«

In diesem Augenblick erzitterte das Dorf von weithin hallenden Pfiffen und ungeahntem Zischen. [â¦] Als sie sich von dem betäubenden Pfeifen und Keuchen erholt hatten, liefen alle Einwohner auf die Gassen hinaus und sahen gebannt den blumengeschmückten Zug, der zum ersten Mal mit acht Monaten Verspätung eintraf. Der unschuldige gelbe Zug, der so viele [â¦] Verhängnisse und Sehnsüchte nach Macondo bringen sollte.

Gabriel Garcia Márquez - Hundert Jahre Einsamkeit, 19671

»Weißt du, dass einst Zigeuner zusammen mit Melquíades hierher kamen, um euch das Eis zu zeigen?« - »Natürlich! Das erzählt García Márquez in seinem Roman Hundert Jahre Einsamkeit « - »Was hältst du davon, was die Zigeuner dieses Mal mitgebracht haben?« - »Wundervoll! Der Traum von García Márquez ist endlich Wirklichkeit geworden.«

Ramon Chao, Ein Zug aus Eis und Feuer, 19942

Wenn ich Ende der 1950er-Jahre nach der Schule - zunächst der Volkschule in Weißenau und dem Humanistischen Gymnasium in Ravensburg, jeweils in Oberschwaben - mit meinen Freunden in den nahe gelegenen Wald zum Spielen ging, pflegte meine Mutter zu sagen, wir müssten zum »Gebetläuten« nach Hause kommen.3 An den Sonntagen gab es eine halbe Stunde vor Beginn des Hochamtes ein eher schlichtes Gebimmel, das in die Kirche rief. Besonders pünktlich war dieses Geläut nicht; um es in Gang zu setzen, musste der Messner jeweils einen guten Kilometer per Fahrrad zur Kirche radeln und dort eigenhändig an einem dicken Hanfseil ziehen, um den Klöppel in Schwung zu bringen - und bei feierlichen Anlässen sogar die große Hosianna-Glocke bewegen. Allerdings gab es bereits eine große Uhr auf dem 45 Meter hohen Turm der Barockkirche. Diese war weithin sichtbar. Man konnte sie auch von zwei der Klassenzimmer der Volksschule aus gut erkennen; wer ausreichend Mut und gute Noten hatte, konnte gegebenenfalls den Lehrer ermahnen, wenn er am Ende der Unterrichtsstunde die Zeit allzu sehr überzog. Es gab ein Zeitgefühl; doch das war eher vage, die Erinnerung an die Zeit erfolgte sporadisch und auf höchst praktischem Weg. Wir waren noch weit entfernt von der Allgegenwart der Zeit im Zeitalter von Handy, DB-Navigator und »getaktetem« Terminkalender.

Jahrtausendelang lebten die Menschen ohne Zeit oder zumindest ohne ein genaueres Zeitgefühl. Ja, es gab schon immer enorm unterschiedliche Zeitgefühle. Wer auf jemanden oder auf ein Ereignis wartet, vermeint, die Zeit bliebe stehen und die Sekunden würden tropfen. Wer ein freudiges Ereignis erlebt, für den vergeht die Zeit »wie im Fluge«. Eine exakte Zeit - ein spezifisches Zeitmaß - lässt sich aus eigener Geisteskraft oder eigenem Empfinden kaum definieren. Studien zeigen: Menschen können die Aufgabe, ohne Uhr nach exakt einer Stunde einen Knopf zu drücken, nicht erfüllen. Ein jeder und eine jede wählt dabei - mit enormen Abweichungen - einen anderen Zeitpunkt.

Das gesellschaftliche Leben erforderte jahrtausendelang kein genaues Zeitmaß. Und somit gab es keine sprachliche Ausformung für »Zeit« - beziehungsweise der Zeitbegriff wurde in anderer Weise ausgelegt. Das »panta rhei (ÏάνÏα ῥεá¿) - alles fließt« des Heraklit setzt den Zeitfluss mit dem Bett eines Stromes gleich. Dabei ging es ihm nicht in erster Linie um Zeit. Schon gar nicht um konkrete Zeitpunkte. Im Gegenteil: Hektik und Tempo sind dem Bild vom Flussbett fremd. Inzwischen ist vom Zeitstrahl die Rede. Im alten Ägypten soll es kein Wort gegeben haben, das so abstrakt und umfassend ist wie unser Begriff Zeit - wohl aber viele Worte, die sich auf die Zeit von etwas und für etwas beziehen und so viel wie »Augenblick«, »Moment« bedeuten und damit »auf einen bestimmten Zeitpunkt eines Ereignisses [â¦] hinweisen, an dem sich dieses am charakteristischsten entfaltet.« Es habe, so Erhard Oeser, eine »grundlegende Spaltung des Zeitbegriffs« gegeben: »Die alten Ägypter hatten zwar schon das Bewusstsein von einer das eigene subjektive Zeiterleben und die eigene Lebenszeit übersteigenden Zeit. Aber diese Zeit fiel bei ihnen mit der ewigen Zeitfülle zusammen, außerhalb derer nicht gedacht werden kann und die mythologisch durch den Uruboros , das Symbol der sich in den Schwanz beißenden Schlange, dargestellt wurde.«4

Es waren staatsähnliche Strukturen, der Handel, Transport und Verkehr und nicht zuletzt Kriege, die ein möglichst genaues Zeitmaß und eine höchstmögliche Geschwindigkeit diktierten. Die Übermittlung eines wichtigen Ereignisses konnte kriegsentscheidend sein. Deswegen war die Geschwindigkeit von Boten - und die gesicherte Übertragung - von strategischer Wichtigkeit. Im Jahr 490 vor Christus galt es den Sieg Athens über die Perser in der Schlacht von Marathon im knapp 40 Kilometer entfernten Athen zu vermelden. Ein Bote soll die Strecke ohne anzuhalten in voller Kampfausrüstung zurückgelegt und in Athen den Sieg verkündet haben, um dann tot zusammenzubrechen. Es dürfte sich um eine Legende handeln. Gesichert ist die Erkenntnis, dass es im antiken Griechenland ein System laufender Boten gab, die in einem relativ festen Zeitmaß Nachrichten überbrachten. Die 240 Kilometer weite Entfernung Athen-Sparta soll ein solcher Hemerodromos in einem Tag zurückgelegt haben.

Tausend Jahre später wird in der »Memminger Chronik« über eine systematisierte Nachrichtenübertragung auf Basis von Taxi schen Posten wie folgt berichtet: »1490 [â¦] In diesem Jahr fiengen die Posten an bestellet zu werden/ auß Befelch Maximiliani I. deß Königs von Oesterreich biß in die Niderland/ und biß nacher Rom. Es lag allweg 5 Meil wegs ein Post von der anderen. Einer war zu Kempten/ einer zu Bleß 3 Stund unter Memmingen/ einer an der Bruck zu Elchingen/ und also fortan/ einer musste alle Stund eine Meil/ das ist zwei Stund weit reiten/ oder es ward ihm am Lohn abgezogen/ und mussten sie reiten Tag und Nacht. Also kam offt in 5 Tagen ein Brieff von hier biß nacher Rom.«5

Die übliche Tagesleistung dieser Taxi schen Posten lag im Inland bei 120 Kilometern. Auf europäischer Ebene musste das Habsburger Reich in ein Zeitmaß gebracht werden. Dabei wurde die Leistung bewusst niedriger angesetzt, um ein realistisches Maß als Dauerzustand aufrechterhalten zu können und damit ein festes Zeitmaß zu erreichen. In einem 1505 geschlossenen Vertrag zwischen Philipp und Franz von Taxis wurden die folgenden Zeitmaße vereinbart: Brüssel-Paris 44 Stunden im Sommer und 54 Stunden im Winter; Brüssel-Innsbruck fünfeinhalb Tage bzw. sechseinhalb Tage; Brüssel-Granada 15 beziehungsweise 18 Tage.

Die Fähigkeit, aus Zeitgewinn, Zeitkontrolle und einem Briefmonopol ein Geschäft zu machen, verschaffte der Adelsfamilie der Thurn und Taxis einen enormen Reichtum, weswegen der Milliardär Albert von Thurn und Taxis heute zu den hundert reichsten Deutschen zählt. Und während sich die Thurn-und-Taxis-Pferde-Posten mit Tempo 20 Stundenkilometern bewegten, bevorzugt seine Durchlaucht heute die zehn- bis fünfzehnfache Geschwindigkeit: Der Mann fährt Autorennen. Immerhin auf dafür vorgesehenen und für den öffentlichen Verkehr nicht geöffneten Bahnen. Seine Mutter, die Fürstin Gloria von Thurn und Taxis: »Es macht schon wahnsinnig viel Spaß auch mal sehr schnell, mit Tempo 300, über die Autobahn zu fahren. [â¦] Man kann hin und wieder nachts schon mal versuchen, die magische Grenze zu knacken. [â¦] Der Blick klebt dabei auf der Straße. Das ist natürlich schon ein Erlebnis.«6

Doch zurück in entschleunigtere Zeiten und zum Läuten der Glocken. Dies war im gesamten Mittelalter und bis in die Zeit der Indus­triellen Revolution hinein das übliche Zeitmaß. Andernorts - so in den Tuchdistrikten und in den Gebieten mit Töpferei in England - wurde das Horn eingesetzt, um frühmorgens die Leute zu wecken. Zwar gab es erste mechanische Uhren bereits im 14. Jahrhundert; es handelte sich jedoch in der Regel um Turmuhren, die im öffentlichen Raum die Zeit verkündeten. Mitte des 17. Jahrhunderts verbreiteten sich die Standuhr und erste Taschenuhren. Genauigkeit in der Zeitmessung war noch kaum ein Thema - auch weil nicht im gesellschaftlichen und Arbeitsleben notwendig. Es war dann nicht zufällig die Schifffahrt, in der mechanische Zeitmesser mit präzisem Uhrwerk zum Einsatz gelangten. John Harison, ein Uhrmacher und ehemaliger Schreiner aus Barton-on-Humber (Lincolnshire), perfektionierte 1730 eine Schiffsuhr, von der er sagte, diese »dahin gebracht (zu haben), dass sie genauer geht, als man sich vorstellen kann, wenn man an die große Zahl von Sekunden denkt, die ein Monat hat, und während deren sie um nicht mehr als eine Sekunde abweicht. [â¦] Ich bin mir sicher, dass ich es noch auf die Genauigkeit von 2 oder 3 Sekunden pro Jahr bringen kann.«7

Im ausgehenden 17. Jahrhundert und das gesamte 18. Jahrhundert hindurch...

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Autor

Winfried Wolf, geboren 1949 in Horb am Neckar, studierte Politikwissenschaften in Freiburg und Berlin und promovierte in Hannover. Von 1994 bis 2002 war er Mitglied des deutschen Bundestags. Er ist Chefredakteur von "Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie" und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Im Promedia Verlag sind von ihm u.a. erschienen: "Verkehr. Umwelt. Klima. Die Globalisierung des Tempowahns" (2. Auflage 2009) und "Mit dem Elektroauto in die Sackgasse" (aktualisierte Neuauflage 2020).