Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Zeitenwende in der Weltpolitik

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
Herder Verlag GmbHerschienen am10.11.20211. Auflage
Alles, was für uns lange verlässlich und sicher erschien, ändert sich in rasantem Tempo: Die USA fühlen sich nicht mehr allein für unsere Sicherheit verantwortlich. Die europäische Einigung ist nicht mehr selbstverständlich. Wir erleben wieder eine Spirale des nuklearen Wettrüstens. Sigmar Gabriel beschreibt das Dilemma, vor dem wir stehen. Für ihn ist klar: Die jetzt anstehenden Entscheidungen sind jenseits der politischen Routine. Europas Einigung und seine internationale Bedeutung hängen zentral von der Frage ab, wie sich Deutschland verhält. Europa hat wieder eine »deutsche Frage«, die Sigmar Gabriel beantwortet.

Sigmar Gabriel, geboren 1959, bis November 2019 Mitglied des Deutschen Bundestages, ist einer der prägendsten deutschen Politiker der letzten Jahrzehnte; von 1999 bis 2003 war er niedersächsischer Ministerpräsident, er bekleidete danach das Amt des Bundesumweltministers (2005 - 2009), des Bundeswirtschaftsministers (2013 - 2017) sowie des Bundesaußenministers (2017 - 2018); von 2013 bis 2018 war er Vizekanzler und von 2009 bis 2017 zugleich Vorsitzender der SPD. Seit Juni 2020 steht er der Atlantik-Brücke vor, die das Ziel hat, die transatlantische Zusammenarbeit zu vertiefen.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextAlles, was für uns lange verlässlich und sicher erschien, ändert sich in rasantem Tempo: Die USA fühlen sich nicht mehr allein für unsere Sicherheit verantwortlich. Die europäische Einigung ist nicht mehr selbstverständlich. Wir erleben wieder eine Spirale des nuklearen Wettrüstens. Sigmar Gabriel beschreibt das Dilemma, vor dem wir stehen. Für ihn ist klar: Die jetzt anstehenden Entscheidungen sind jenseits der politischen Routine. Europas Einigung und seine internationale Bedeutung hängen zentral von der Frage ab, wie sich Deutschland verhält. Europa hat wieder eine »deutsche Frage«, die Sigmar Gabriel beantwortet.

Sigmar Gabriel, geboren 1959, bis November 2019 Mitglied des Deutschen Bundestages, ist einer der prägendsten deutschen Politiker der letzten Jahrzehnte; von 1999 bis 2003 war er niedersächsischer Ministerpräsident, er bekleidete danach das Amt des Bundesumweltministers (2005 - 2009), des Bundeswirtschaftsministers (2013 - 2017) sowie des Bundesaußenministers (2017 - 2018); von 2013 bis 2018 war er Vizekanzler und von 2009 bis 2017 zugleich Vorsitzender der SPD. Seit Juni 2020 steht er der Atlantik-Brücke vor, die das Ziel hat, die transatlantische Zusammenarbeit zu vertiefen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783451825866
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum10.11.2021
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1142 Kbytes
Artikel-Nr.5731019
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


2.

Die Rückkehr der deutschen Frage
Deutschland, ein Sehnsuchtsort

In Deutschland leben mehr als 80 Millionen Menschen. Es ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von 3,26 Billionen Euro vor Großbritannien mit 2,32 Billionen Euro die mit Abstand größte Volkswirtschaft Europas und nach den USA, China und Japan die viertstärkste Wirtschaftsnation der Welt. Wir gelten als einer der Motoren der Weltwirtschaft und als »Zugmaschine« Europas. Und auch der deutsche Anteil am Weltsozialprodukt ist mit 3,47 Prozent angesichts unseres weltweiten Bevölkerungsanteils von 1,1 Prozent durchaus bemerkenswert. International ist unser Land als friedliebend und demokratisch geachtet und bei vielen anderen Nationen sogar überaus beliebt.

Kein Wunder also, dass Deutschland zu einem Sehnsuchtsort geworden ist. Ein Ort, wie es die Vereinigten Staaten von Amerika an der Schwelle zum 19. und später zum 20. Jahrhundert waren. Für unser Land schafft die millionenfache Zuwanderung der letzten Jahre Herausforderungen und Probleme, die uns noch lange beschäftigen werden. Denn so verständlich die Hoffnung vieler Menschen ist, hier bei uns ein besseres Leben für sich und für ihre Kinder aufbauen zu können, so klar muss auch sein, dass wir nicht alle aufnehmen können. Uns fehlen, geografisch gesehen, die Weiten Amerikas und wohl auch die Mentalität dieses Landes, das jeden einlud, dort the pursuit of happiness, das Streben nach einem glücklichen Leben, für sich zu finden.

Und doch ist es wirklich ein Wunder, dass Deutschland, vor etwas mehr als einer Generation noch ein furchterregender Ort, der im Rest der Welt Angst und Schrecken verbreitete, heute dieser Sehnsuchtsort geworden ist. »Wir wollen ein Land der guten Nachbarn sein, im Innern und nach außen.« Dieses Credo, das der erste sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt 1969 in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag ausgab, ist Realität geworden.1

In meiner persönlichen Erinnerung war dies keineswegs immer selbstverständlich. Meine Kindheit verbrachte ich in einem Viertel meiner Heimatstadt Goslar, das für Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten neu gebaut worden war. Ich wuchs mitten unter Schlesiern, Ostpreußen und auch Balten auf, die als frühere Angehörige der Waffen-SS nicht mehr in die nunmehr von der Sowjetunion besetzte Heimat zurückkehren konnten. Am Ortseingang hing ein großes Plakat mit einer Deutschlandkarte in den Grenzen von 1937. Die Farben Schwarz, Rot und Gold standen für Westdeutschland, die »Ostzone« und die von Russland und Polen annektierten ehemaligen deutschen Ostgebiete. Darunter der Schriftzug: »Dreigeteilt? Niemals!«

Etwas weniger farbig, aber mit den gleichen Grenzmarkierungen waren die Landkarten für unseren Erdkundeunterricht bis zur 10. Klasse der Realschule ausgestattet. Die DDR wurde als »SBZ« - Sowjetische Besatzungszone - bezeichnet, Ostpreußen und Schlesien als »derzeit unter russischer beziehungsweise polnischer Verwaltung«. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, wie sie erst viele Jahre später unter Willy Brandt und dann völkerrechtlich abschließend unter Helmut Kohl 1990 erfolgte, galt als »Landesverrat«. Auch mein aus dem Riesengebirge in Schlesien stammender Vater diffamierte die Polen nur als »Polacken«, und für meine Großmutter war Frankreich der »Erbfeind«.

Viele Jahre später holten mich diese Kindheitserinnerungen ein. Ich war inzwischen Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und traf auf Herbert Hupka, damals bereits Ehrenvorsitzender der Landsmannschaft der Schlesier. Hupka war für viele Sozialdemokraten in Deutschland lange Jahre der Inbegriff eines »Revanchisten«. 1972 kehrte er als Bundestagsabgeordneter der SPD den Rücken, wechselte zur CDU und wollte helfen, Willy Brandt als Kanzler wegen dessen Ostpolitik zu stürzen.

Die schlesische Landsmannschaft bat im Jahr 2000 darum, ihre Treffen wieder in Hannover abhalten zu können. 1990 waren sie nach der Wahl von Gerhard Schröder als Ministerpräsident von Niedersachsen nach Nürnberg ausgewichen, weil der damals neu ernannte Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Jürgen Trittin, der Landsmannschaft die Zuschüsse gestrichen hatte. Die Begründung für die Einstellung der Zuschüsse hatten jahrelange rechtsradikale Ausfälle auf den Schlesiertreffen und entsprechende Artikel im Verbandsorgan Der Schlesier geliefert. Ich stellte der Landsmannschaft eine erneute finanzielle Förderung für den Fall in Aussicht, dass sie derartige rechtsextreme Propaganda unterlasse. Die Vertreter der Schlesier versprachen hoch und heilig, diese Zeiten seien endgültig vorbei. Nur am Rande sei bemerkt, dass die Schlesier am Ende leider doch nicht nach Hannover zurückkehrten. Vermutlich zahlten die Bayern einfach besser als wir Niedersachsen.

Als ich im weiteren Verlauf des Gesprächs mit Hupka über meine Besuche auf früheren Schlesiertreffen in meiner Kindheit erzählte und berichtete, dass ich dort sogar in einem Akkordeonorchester musiziert hätte, fragte mich Herbert Hupka vorsichtig, ob ich denn einen Walter Gabriel kennen würde. »So könnte man es ausdrücken«, antwortete ich, denn der sei mein Vater. Die schockierten Blicke der Vertreter der Landsmannschaft werde ich nie vergessen. Denn dieser Walter Gabriel war ihnen natürlich gut bekannt: als Autor rechtsradikaler und revanchistischer Propaganda in der Zeitung Der Schlesier und in deren Beilage Die Bergwacht. Ein Sozi mit einem Nazi zum Vater!

Die Deutsche Frage beschäftigte bis 1990 viele als Teil ihrer Familiengeschichte und der politischen Realität. Keineswegs musste das wie bei meinem Vater enden. Bemerkenswert war etwa die Haltung in der Familie meiner Mutter: Auch sie waren Flüchtlinge aus dem katholischen Ostpreußen. Vor allem die Frauen hatten auf der Flucht Fürchterliches erlebt, und manche waren davon für ihr Leben gezeichnet. Doch sosehr sie sich auch der verlorenen Heimat verbunden fühlte, so wenig spielten dort revanchistische Ideen eine Rolle. Im Gegenteil: Ich sehe meine Mutter und ihre Schwestern noch vor mir, wie sie Anfang der 1980er-Jahre Carepakete für die in ihrer alten Heimat lebenden Polen packten, die sie bei einer ihrer späteren Reisen dort kennengelernt hatten und die unter dem kommunistischen Regime jetzt in großer Not lebten. Vielleicht erinnerte sich meine Mutter daran, wie wenig die Bauern im kleinen Dorf in Ottbergen nahe Hildesheim nach 1945 bereit gewesen waren, der zwangseinquartierten Flüchtlingsfamilie aus der Nähe von Königsberg beim Überleben zu helfen. Hätte es im benachbarten Kloster nicht einen Mönch aus der Heimatstadt der Familie meiner Mutter gegeben, der sie ab und zu mit Nahrungsmitteln versorgte, ihre Lebensumstände wären noch dramatischer gewesen.

Aus diesem in sich zerrissenen und orientierungslosen Deutschland entstand erst die westdeutsche und dann die gesamtdeutsche Bundesrepublik. Ein friedliebendes und wohlhabendes Land. Es war die Frucht harter Arbeit vieler Millionen Frauen und Männer, unter ihnen auch die Vertriebenen, ohne deren Leistungswillen und Kraft unser Land diesen Aufstieg nicht geschafft hätte. Nicht zu vergessen diejenigen, die aus anderen Ländern zu uns kamen, die wir viel zu lange zu »Gastarbeitern« erklärten und die sich auch selbst viel zu lange so sahen.

Dieses neue Deutschland in der Mitte Europas konnte entstehen, weil unsere Nachbarn bereit waren, mit uns einen neuen Anfang zu wagen. Sie waren nämlich mit einer anderen »Deutschen Frage« beschäftigt: der friedlichen Einbindung Deutschlands in Europa. In Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Italien waren es mutige Politikerinnen und Politiker, die nur wenige Jahre nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges ausgerechnet uns Deutsche einluden, an den Tisch zivilisierter Völker zurückzukehren. Es dürfte für die Menschen in diesen Ländern nicht gerade populär gewesen sein, ausgerechnet auf die Deutschen zuzugehen, die doch erst wenige Jahre zuvor brandschatzend und mordend durch ihre Heimatstaaten gezogen waren.

Nicht zuletzt haben wir den Vereinigten Staaten von Amerika zu danken. Der Aufbauplan für Europa, der berühmte Marshall-Plan des früheren Generals George C. Marshall, war durchaus kein karitativer Akt, sondern eine weitsichtige strategische Leistung, um den alten Kontinent nicht abermals in reaktionäre und nationalistische Zeiten zurückfallen zu lassen. Nicht noch ein drittes Mal innerhalb eines Jahrhunderts wollten die Amerikaner ihre Söhne und Töchter in einen Krieg nach Europa entsenden müssen. Deshalb musste Deutschland eingebunden und ein erneuter deutscher Sonderweg verhindert werden.

Dem früheren US-Präsidenten Donald Trump habe ich einmal empfohlen, den »Marshall-Raum« im Weißen Haus zu besuchen. Dort hätte er sich davon überzeugen können, dass Europa keine antiamerikanische konspirative Vereinigung ist, wie er gelegentlich behauptete, sondern einer amerikanischen Idee folgt. Gleich hinter der Tür dieses Raumes kann man an der Wand die kurze Rede George Marshalls lesen, die großer strategischer Weitsicht folgt. Für George C. Marshall war ein geeintes Europa keine Gefahr, sondern ein Interesse der Vereinigten Staaten.

Für mich ist das europäische Projekt heute auch deshalb noch ein Wunder, weil es mit der Europäischen Union gelungen ist, in nur etwas mehr als einer Generation aus erbitterten Feinden erst Partner und dann sogar Freunde werden zu lassen. Meine Großmutter und mein Vater hätten sich nicht vorstellen können, dass Frankreich eines Tages unser wichtigster Verbündeter...

mehr