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Haus der Kindheit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am18.08.2021
Die Fotografie eines Hauses in einer österreichischen Kleinstadt hatte die Mutter von Max so sehr geliebt, daß sie diese in jeder neuen Wohnung in New York aufstellte, in jeder weiteren, immer ärmlicher werdenden Station ihres Exils. Zurück wollte sie jedoch nie. Daß ihre Schwester den Nazis nicht entkommen konnte, hat sie für immer von ihrem Zuhause abgeschnitten. Und auch Max zieht nichts zurück in die alte Heimat seiner Eltern: Er hat in New York Erfolg als Restaurator, und er führt ein ungebundenes Leben. Dennoch bleibt in ihm eine heimliche Sehnsucht nach Europa wach. Knapp dreißig Jahre nach Kriegsende reist er zurück nach Österreich, findet dort allerdings nicht das in den Träumen seiner Mutter immer verlockender gewordene Haus, sondern trifft auf Beamte, die, unempfindlich gegenüber seiner jüdischen Familiengeschichte, ihn danach fragen, mit welchem Recht er die Rückgabe seines Besitzes überhaupt fordere. Bis ans Herz ernüchtert bricht Max seinen ersten Aufenthalt ab und kommt erst Jahre später wieder zurück.
Rätselhaft für ihn selber ist die Sehnsucht nach dem Ort, an dem seine Mutter für wenige Jahre glücklich war, und auch bei seinem zweiten Aufenthalt findet er keine Erklärung für dieses Gefühl. Dafür trifft er einige Menschen wie Spitzer, den alten Vorsteher der kleinen jüdischen Gemeinde, und eine Frau, die ihn einst sehr geliebt hat. Und er stößt auf eine unsichtbare Stadt, die verborgene Geschichte der Juden, aber in allen diesen Vergangenheiten kann er auf Dauer nicht leben.
Anna Mitgutsch hat einen Roman über Suchen und Finden geschrieben, eine im höchsten Maß aktuelle Geschichte der Liebe zu einer Heimat, die nur noch in der Erinnerung betreten werden kann.

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextDie Fotografie eines Hauses in einer österreichischen Kleinstadt hatte die Mutter von Max so sehr geliebt, daß sie diese in jeder neuen Wohnung in New York aufstellte, in jeder weiteren, immer ärmlicher werdenden Station ihres Exils. Zurück wollte sie jedoch nie. Daß ihre Schwester den Nazis nicht entkommen konnte, hat sie für immer von ihrem Zuhause abgeschnitten. Und auch Max zieht nichts zurück in die alte Heimat seiner Eltern: Er hat in New York Erfolg als Restaurator, und er führt ein ungebundenes Leben. Dennoch bleibt in ihm eine heimliche Sehnsucht nach Europa wach. Knapp dreißig Jahre nach Kriegsende reist er zurück nach Österreich, findet dort allerdings nicht das in den Träumen seiner Mutter immer verlockender gewordene Haus, sondern trifft auf Beamte, die, unempfindlich gegenüber seiner jüdischen Familiengeschichte, ihn danach fragen, mit welchem Recht er die Rückgabe seines Besitzes überhaupt fordere. Bis ans Herz ernüchtert bricht Max seinen ersten Aufenthalt ab und kommt erst Jahre später wieder zurück.
Rätselhaft für ihn selber ist die Sehnsucht nach dem Ort, an dem seine Mutter für wenige Jahre glücklich war, und auch bei seinem zweiten Aufenthalt findet er keine Erklärung für dieses Gefühl. Dafür trifft er einige Menschen wie Spitzer, den alten Vorsteher der kleinen jüdischen Gemeinde, und eine Frau, die ihn einst sehr geliebt hat. Und er stößt auf eine unsichtbare Stadt, die verborgene Geschichte der Juden, aber in allen diesen Vergangenheiten kann er auf Dauer nicht leben.
Anna Mitgutsch hat einen Roman über Suchen und Finden geschrieben, eine im höchsten Maß aktuelle Geschichte der Liebe zu einer Heimat, die nur noch in der Erinnerung betreten werden kann.

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641260125
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum18.08.2021
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2107 Kbytes
Artikel-Nr.6071006
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


2

ALS MAX zum ersten Mal seit seiner Emigration wieder nach H. zurückkam, war er zweiundzwanzig und trug die Uniform eines Corporal der US-Armee. Im Herbst 1945 war H. eine von Bomben zerstörte Stadt wie viele andere, die er gesehen hatte. Die Kriegswunden, die Armut und der feindselige Trotz der Besiegten bedrückten ihn. In den Straßen gab es kaum zivile Autos, nur Militärfahrzeuge und abgemagerte Gestalten auf Fahrrädern und mit Handwagen. Er betrachtete ihre grauen müden Gesichter mit Neugier und auch mit Abneigung. Die Brücke war nicht dieselbe wie in seiner frühen Kindheit, aber wie damals war sie eine Grenze: diesmal die Zonengrenze zum russischen Sektor. Er wohnte in einem von der amerikanischen Militärregierung requirierten Hotel im Stadtzentrum. Das Haus daneben war zur Hälfte eingestürzt, man konnte die Muster der zerfetzten Tapete sehen. Das Straßenpflaster war aufgerissen. Aber selbst die unversehrt gebliebenen Häuser und Straßen strahlten dieselbe graue Müdigkeit aus wie die Gesichter der Passanten.

Es war ein diesiger Herbsttag, als er mit der Adresse seines Elternhauses in der Uniformtasche den Berg hinaufstieg. Die Häuserzeile unten am Hang, wo der Eingang zum Luftschutzstollen gewesen war, schien unbewohnt: vom Luftdruck geplatzte Fensterscheiben, die Dächer abgebrannt, nur die verkohlten Dachstühle hockten noch auf den Mauern. Die herabgefallenen Trümmer waren bereits von den Straßen fortgeräumt.

Oben auf dem Berg waren die Häuser unversehrt geblieben. Das Rascheln der braunen Herbstblätter auf dem Kopfsteinpflaster vertiefte die Stille des Villenviertels. Alles schien so friedlich und unberührt, als hätte es hier keinen Krieg gegeben.

Das Haus erkannte er sofort: die niedrige efeuüberwachsene Mauer, die die Straßenböschung stützte, die hohen Steinstufen, die Erker, die wuchtige Haustür. Die Bäume, die rund um das Haus wuchsen, waren vor seiner Geburt, als das Haus noch im Bau stand, gepflanzt worden. Jetzt waren sie in die Höhe gewachsen und legten eine melancholische Düsternis um das Haus, breiteten feuchte Schatten über die bemoosten Steinplatten, und ihre dicken Äste berührten und verfingen sich ineinander im Kampf ums Sonnenlicht. Die Blätter des Ahorns und die feinen Lärchennadeln glühten in ihren Herbstfarben.

Das Pflanzen der jungen Bäume damals musste eine hoffnungsvolle Zeremonie des jungen Paares gewesen sein. Es gab ein Foto: Mira und Saul, ein wenig älter als Max jetzt war, vielleicht Mitte Zwanzig, beide in sportlich heller Kleidung, halten einen dünnen Setzling über eine flache Grube, wie zur Demonstration, bevor sein Wurzelballen in die Grube versenkt und vergraben werden würde. Das Bäumchen besaß eine einzige Astgabelung und einen Stamm, dünner als Miras Handgelenk. Nun waren über zehn Meter hohe Bäume daraus geworden, und keiner der beiden hatte ihr Wachsen miterlebt. Nur Fremde freuten sich an ihren Herbstfarben.

Vor dem Haus standen ein alter Tretroller, ein Brett mit einer Lenkstange und zwei Gummirädern, rot angestrichen, und ein hellblauer Kinderwagen aus Holz mit den gleichen Rädern wie der Roller. Eine junge, füllige Frau bearbeitete mit einem Teppichklopfer einen Flickenteppich über einer Stange, die den Zugang zur Terrasse versperrte.

Ob sie hier wohne, fragte er und wusste, dass es eine ganz und gar überflüssige Frage war.

Sie schaute ihn feindselig an und schwieg. Er war in Uniform, ein amerikanischer Soldat, sein fehlerfreies Deutsch rief nicht die geringste Spur freundlichen Erstaunens hervor.

Im Frühjahr 1938 hatte Sophie an ihre Schwester in New York geschrieben: Albert ist verhaftet worden. Wenn wir wegmüssen, hinterlege ich einen Reserveschlüssel bei den Nachbarn.

Die Kalischs haben hier gewohnt, sagte Max und schaute sie forschend, fragend an.

Sie machte ein beleidigtes Gesicht, ließ von ihrem Teppich ab und lief an ihm vorbei, schnell und geduckt, als werde sie verfolgt. Er hörte, wie sie den Schlüssel zweimal im Schloss umdrehte. Er klopfte, wartete lange und stellte sich vor, wie sie, nur durch das schwere Holz der Haustür von ihm getrennt, auf der anderen Seite vorsichtig und flach atmete. So standen sie sich lange Minuten unsichtbar gegenüber, in einer Nähe, die Feindseligkeit erzeugen musste.

Dann ging Max um das Haus herum. Ein herbstlich verwilderter Garten verwischte den Übergang zum Hang mit seinem hohen rosa und lila blühenden Unkraut. Die Sonne bohrte Löcher in die zerfetzten Wolken, die rasch über den Himmel zogen, und holte aus dem Fluss im Talgrund ein freudloses, bleiernes Licht.

Er versuchte durch ein Fenster einen Blick in die Räume im Parterre zu werfen. Seiner Erinnerung nach musste hier die Küche sein. Aber ein dicht geraffter Spitzenvorhang versperrte ihm die Sicht.

Er blieb noch eine Weile, schlich wie ein Dieb ums Haus, genoss es, sich die Furcht der jungen Frau im Innern vorzustellen, überlegte, wie er sich Zugang verschaffen konnte, und ließ es sein. Er wusste, dass er in ein, zwei Tagen wieder wegfahren musste, er rechnete mit seiner baldigen Entlassung, er wollte nach New York zurückkehren und sein Leben wiederaufnehmen, das der Krieg unterbrochen hatte. Das Haus musste warten, es war ihm gewiss, zuerst wollte er mit Mira reden, die Rechtslage prüfen. Er war jung, er hatte Zeit.

Aber als er nach seiner Rückkehr der Mutter von dem Haus erzählte, von dem verwilderten Garten und den hohen Bäumen, zeigte sie keine Freude, keine Begeisterung, er spürte nur ihren stummen Widerwillen. Dreimal hatte sie ihrer Schwester ein Affidavit geschickt, zuerst im Sommer 1938 nach Wien, dann nach Prag. Aber Sophie hatte die Nerven verloren und war, als der Krieg sie einholte, nach Budapest zu Verwandten geflohen. Dort nützte ihr auch kein Affidavit mehr. Seit ein Überlebender, der die Familie gekannt hatte, Mira von Sophies Deportation erzählte, ahnte sie, dass auch die anderen, ihr Schwager Albert, ihr Vater, tot waren, dass keiner ihrer Verwandten mehr am Leben war. Zur Trauer kam der Schmerz angesichts der Vermeidbarkeit der Katastrophe und Miras Selbstbezichtigungen. Hatte Sophie ihr nicht zur Last fallen wollen? Hatte sie ihr so wenig vertraut? Hatte sie keines der Affidavits bekommen? Hatte sie, Mira, irgendetwas zu tun versäumt? Nie würde sie es wissen, nie sich die letzten Monate von Sophies Leben vorstellen können. Max schonte sie und schwieg. Als er davon sprach, das Haus wieder in ihren Besitz zu bringen, zeigte sie kein Interesse. Wozu? Nie würde sie ihren Fuß wieder auf den Boden der Stadt H. setzen, erklärte sie. Als jemand, der ihren Vater im Ghetto von Lódz gekannt hatte, sie aufsuchen wollte, weigerte sie sich, mit ihm zu reden. Er ist tot, sagte sie, was muss ich sonst noch erfahren, ist das nicht schon genug?

Nie wieder hörte Max sie das Haus in H. erwähnen oder von früher reden. Sie ließ sich durch keine Erinnerung mehr trösten - alles, was einmal Hoffnung und Trost gespendet hatte, verwandelte sich in Schmerz. Von einem Tag zum andern hörte sie auf, deutsch zu sprechen. Sie lebte, auch wenn es nichts mehr gab, was sie auf Englisch nicht hätte sagen können, in einer unerreichbaren Sprachlosigkeit, in einer desorientierten Leere, trotz der paar alten Freundschaften, die sie noch pflegte.

Mira war wieder nach Brooklyn gezogen, in eine Wohnung ganz in der Nähe ihrer Synagoge und ihrer Freundin Faye. Saul hatte sie ihr vermittelt. Im Alter waren sie sich wieder nähergekommen, und es verband sie eine vorsichtige Freundschaft. Er rief sie regelmäßig an, erkundigte sich, ob sie etwas brauche, wie es ihr ginge. Macht euch um mich keine Sorgen, sagte sie, ich habe alles, was ich brauche, es geht mir gut. Aber Max schien es, als kämen die Erleichterungen in ihrem Leben zu spät, und die Verstörung sei nicht mehr rückgängig zu machen. Er war der Einzige, der jeden Schabbat mit ihr verbrachte und zu den Feiertagen mit ihr in die Synagoge ging. Er sprach den Segen über Wein und Challa und aß gehorsam ihr Schabbes-Dinner, die unveränderliche Abfolge traditioneller Speisen: Hühnersuppe mit Mazzeknödeln, Fisch und Strudel. Sie hatte es gern, wenn er über Nacht blieb. Sein Bett im Kabinett war immer frisch bezogen. Er wusste, sie lag in ihrem Bett wach und lauschte glücklich seinen Geräuschen in der sonst so stillen Wohnung: den Spätabendnachrichten, dem Rücken des Fauteuils, der ihm im Weg stand, wenn er noch in die Küche ging, um im Kühlschrank nach etwas Leckerem zu suchen, das Plätschern des Wassers in der Dusche und das Surren des Rasierapparats. Dann blieb er einen Augenblick vor der Tür stehen. Good night, Mom, flüsterte er, und es klang noch immer unnatürlich in seinen Ohren, wenn sie durch die geschlossene Tür: Night, night, sleep well, antwortete. Er sehnte sich danach, dass sie wie früher in seiner Kindheit sagen würde: Schlaf gut, mein Schatz.

Er konnte nur noch in ihrem Akzent der verlorenen Intimität der Sprache, die nur ihnen gehört hatte, nachhorchen. Dieser vertraute Klang hatte ihn wohl auch an Eva verwirrt und angezogen. Als Siebzehnjähriger, vor dem Krieg, war er oft in die Emigrantencafés in Manhattan gegangen, um das weiche, melodische Deutsch der Flüchtlinge zu hören und in der Illusion zu schwelgen, einer von ihnen zu sein. Im Eclair am Broadway hatte er eine Melange getrunken und sich nach Wien versetzt geglaubt. Es war das Wien aus den Erzählungen seiner Mutter, in das ihn seine Phantasie entrückte. Vor dieser Kulisse sah er sich als eleganten Dandy, als Flaneur.

Im Eclair lernte er Eva kennen, sie saß allein an einem Tisch und rauchte und ließ die Tür nicht aus...

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Autor

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.