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Die Überlebenskünstler

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
600 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am29.11.2021Auflage
Ein aufschlussreiches Porträt des Lebens in Putins Russland  Kaum ein Land hat in den letzten 30 Jahren so viele Veränderungen erlebt wie Russland. Wie gehen die Menschen damit um? Joshua Yaffa porträtiert in diesem vielfältigen Streifzug durch das zeitgenössische Russland einige der bemerkenswertesten Persönlichkeiten des Landes - von Politikern und Unternehmern bis hin zu Künstlern und Historikern. Sie alle haben ihre Identitäten und Karrieren im Schatten des Systems Putin aufgebaut. Im Zwiespalt zwischen ihren eigenen Ambitionen und den allumfassenden Ansprüchen des Staates balanciert jeder von ihnen auf einem schmalen Grat von Kompromissen.   Yaffa liefert eindringliche Erkenntnisse über die wahre Natur des modernen Autoritarismus, indem er zeigt, wie die Bürger ihr Leben nach den Anforderungen eines launischen und oft repressiven Staates richten - oft aus freien Stücken, aber auch unter Androhung von Gewalt.  

Joshua Yaffa lebt hauptsächlich in Moskau, wo er als Korrespondent für den New Yorker arbeitet. Er schreibt außerdem für den Economist, das New York Times Magazine, den National Geographic, die Bloomberg Businessweek, New Republic und Foreign Affairs. Für seine journalistische Arbeit in Russland wurde Yaffa zum Fellow des Think-Tank New America ernannt, erhielt den Berlin-Preis der American Academy und war Finalist für den Livingston Award. Als Gastwissenschaftler unterrichtete er mehrere Jahre an der Journalistenschule am Harriman Institute der Columbia University, seiner Alma Mater. Yaffa stammt ursprünglich aus San Diego, Kalifornien.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR20,99

Produkt

KlappentextEin aufschlussreiches Porträt des Lebens in Putins Russland  Kaum ein Land hat in den letzten 30 Jahren so viele Veränderungen erlebt wie Russland. Wie gehen die Menschen damit um? Joshua Yaffa porträtiert in diesem vielfältigen Streifzug durch das zeitgenössische Russland einige der bemerkenswertesten Persönlichkeiten des Landes - von Politikern und Unternehmern bis hin zu Künstlern und Historikern. Sie alle haben ihre Identitäten und Karrieren im Schatten des Systems Putin aufgebaut. Im Zwiespalt zwischen ihren eigenen Ambitionen und den allumfassenden Ansprüchen des Staates balanciert jeder von ihnen auf einem schmalen Grat von Kompromissen.   Yaffa liefert eindringliche Erkenntnisse über die wahre Natur des modernen Autoritarismus, indem er zeigt, wie die Bürger ihr Leben nach den Anforderungen eines launischen und oft repressiven Staates richten - oft aus freien Stücken, aber auch unter Androhung von Gewalt.  

Joshua Yaffa lebt hauptsächlich in Moskau, wo er als Korrespondent für den New Yorker arbeitet. Er schreibt außerdem für den Economist, das New York Times Magazine, den National Geographic, die Bloomberg Businessweek, New Republic und Foreign Affairs. Für seine journalistische Arbeit in Russland wurde Yaffa zum Fellow des Think-Tank New America ernannt, erhielt den Berlin-Preis der American Academy und war Finalist für den Livingston Award. Als Gastwissenschaftler unterrichtete er mehrere Jahre an der Journalistenschule am Harriman Institute der Columbia University, seiner Alma Mater. Yaffa stammt ursprünglich aus San Diego, Kalifornien.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843725798
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum29.11.2021
AuflageAuflage
Seiten600 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3622 Kbytes
Artikel-Nr.7637859
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Prolog - Der verschlagene Mensch

Im Winter 1987 bot sich Juri Lewada eine einzigartige Chance. Der Wissenschaftler - damals siebenundfünfzig, mit freundlichem Gesicht und spärlichem weißem Haar - war lange Zeit in die Peripherie des akademischen Betriebs verbannt gewesen, weil er sich mit Soziologie befasste. Diese Disziplin war von der sowjetischen Führung jahrzehntelang als bürgerliche Pseudowissenschaft abgetan worden. Der offiziellen Doktrin zufolge erklärten das Klassenmodell von Karl Marx und sein Begriff des historischen Materialismus alles Wesentliche, was es über die Gesellschaft zu wissen gibt. Doch Mitte der Achtzigerjahre stieg Michail Gorbatschow zum Staats- und Parteichef der Sowjetunion auf. Seine Politik der Perestroika, so das russische Wort für »Umbau«, zielte vor allem auf die sowjetische Wirtschaft, aber sie brachte auch eine politische und gesellschaftliche Öffnung mit sich, die Lewada und der kleinen Schar seiner Mitstreiter zugutekam.

Lewada galt als ehrlich und aufrichtig. Mit seinem wachen Geist stach er aus der Masse der farb- und geistlosen Kärrner hervor, die das Bild der akademischen Kreise im Land bestimmten. Ein Dissident war er nicht: Er bewegte sich im Rahmen des Systems, auch wenn er nie in dessen innerste Sphären vordrang. Von denen, die es dorthin schafften, unterschied er sich durch seinen elementaren Anstand und seine überragenden intellektuellen Fähigkeiten. Über Jahre hinweg hatte er nach der Arbeit in freien Seminarräumen wissenschaftlicher Institute regelmäßige Treffen mit einem Kreis gleichgesinnter Freunde und ehemaliger Studenten abgehalten. Sie hatten tabuisierte Fragen der soziologischen Theorie erörtert und die avantgardistischen Theateraufführungen und Dichtungen diskutiert, die in der Sowjetunion ab und an das Licht der Öffentlichkeit erblickten.

Doch jetzt sollte ihnen eine neu geschaffene Institution anvertraut werden: das Allunionszentrum für öffentliche Meinungsforschung, kurz WZIOM, das erste große Zentrum für Meinungsumfragen und Sozialforschung in der Geschichte des Landes. Gorbatschow und seine Unterstützer im Politbüro sahen, dass das sowjetische System ohne Reformen bald zusammenbrechen würde. Und es war ihnen auch klar, wie wenig sie über die Menschen wussten, die sie regierten. Deshalb galten unorthodoxe Denkansätze plötzlich als akzeptabel, und dies beförderte die Gründung des WZIOM, die ohnehin im Geist dieser von Umwälzungen geprägten Zeit lag. Lewada wurde zum Leiter der Abteilung für theoretische Forschungen ernannt. Er holte ein paar Kollegen zu sich, die in den 1960ern bei ihm promoviert hatten. In dem neuen Institut verfügte er über die Mittel und praktischen Instrumente, um seine Ideen zu überprüfen und einen realen, greifbaren Eindruck der Gesellschaft zu gewinnen. Er konnte endlich richtige Feldstudien durchführen.

Es war über zwanzig Jahre her, dass Lewada die Möglichkeit gehabt hatte, so öffentlich zu wirken. Damals, 1966, hatte die Sache kein gutes Ende genommen. Ein wohlgesinnter Kollege an der Staatlichen Universität Moskau hatte ihm als Mittdreißiger, der am Anfang seiner Professorenlaufbahn stand, angeboten, in einem Hörsaal der Hochschule Vorlesungen über Soziologie zu halten. Die Veranstaltung fand bald großen Anklang. Sie wurde von den Studierenden überbelegt und war bei der Moskauer Intelligenzija gefragt. Die Hörer drängten sich in den Gängen und Türen des Saals - sie »hingen an den Kronleuchtern«, wie es in Russland heißt. An Lewadas Vorlesungen war nichts offen Vorschriftswidriges oder Verbotenes: Er sprach einfach über die zentralen Grundsätze der Soziologie, einer Wissenschaft, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich, den USA und Deutschland als Reaktion auf die Probleme der Moderne entwickelt hatte. Ein heutiges Publikum würde sich schwertun, in seinen Vorträgen die scharfe Ausdrucksweise eines Dissidenten zu finden. Er vermied es ganz, über Politik zu sprechen, und konzentrierte sich auf die verschiedenen Theorien der Gesellschaftsformation und der Beziehung zwischen Individuen in sozialen Systemen. Er verfuhr sachlich. Er war direkt und professionell, und eben das war die Sensation.

Die Soziologie eröffnete Lewada den Zugang zu einer offenen und klaren Sprache, mit der er die sowjetische Gesellschaft ohne Rückgriff auf die diffuse offizielle Lehre erkunden konnte. »Es ist nicht leicht zu verstehen, aber seine einfache, menschliche, nicht durch Propaganda verstellte Sicht wirkte wie ein Schock«, sagt Alexei Lewinson, der in den Sechzigerjahren durch Lewada die Soziologie entdeckte. »Er nannte die Dinge beim Namen.« Nur wenige im Hörsaal hatten je zuvor jemanden so sprechen hören. »Ganz Moskau lief hin«, erinnert sich Lew Gudkow, damals auch einer von Lewadas vielversprechenden Studenten. Die Vorlesungen boten Lewada ein Forum, um mit der Erkundung dessen zu beginnen, was später zu seinem Lebensthema werden sollte: die Mentalität des Sowjetmenschen, seine Furchtsamkeit und Servilität gegenüber dem Staat - eine paternalistische Symbiose, die aus der Angst durch die Repressionserfahrungen und der Unfähigkeit resultierte, sich selbst als ein vom Staat unabhängiges Individuum zu begreifen.

Doch dann kam der August 1968. Sowjetische Panzer beendeten den Prager Frühling, jene kurze Phase der Öffnung und der Reformen in der Tschechoslowakei, die unter dem Leitbild eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«, stand, wie es der damalige KP-Chef Alexander Dubcek ausdrückte. Auf die Gewalt in den Straßen Prags folgte eine reaktionäre Kampagne in der sowjetischen Kultur und Wissenschaft. Künstlern und Intellektuellen wurden selbst kleinste Abweichungen von den offiziell anerkannten Dogmen des sowjetischen Denkens zum Vorwurf gemacht. Im folgenden Jahr, 1969, erhielt Lewada die Vorladung zu einer Anhörung an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU. Bei der stundenlangen Befragung hielten die Verhörenden ihm alle möglichen ideologischen Verfehlungen vor. Sie verwiesen auf eine Bemerkung, die er einmal gemacht hatte: In der modernen Gesellschaft sei das Individuum verschiedensten Formen gesellschaftlichen Drucks unterworfen - durch den Staat, die Massenkultur, den Markt und sogar durch Panzer. Lewada hatte das 1966 gesagt, bevor Panzer nach Prag gerollt waren. Doch das spielte keine Rolle. Es könne kein Zufall sein, befand man, das Bild sei zu aufwieglerisch. Während der Anhörung legte Lewada seine übliche Zurückhaltung an den Tag. Er bat weder um Gnade, noch griff er seine Peiniger offen an. Als er nach einiger Zeit merkte, dass es zwecklos war, sich zu verteidigen, schloss er einfach seine Aktentasche und setzte sich.

Das Urteil stand von vornherein fest, und die Anhörung erinnerte nicht zufällig an einen politischen Schauprozess. Noch im Jahrzehnt zuvor hatten viele Mitglieder dieses Disziplinarausschusses an den ideologischen Repressionen der Stalinzeit mitgewirkt. »Inzwischen waren ihnen Zähne und Krallen gezogen worden. Töten konnten sie nicht«, so Lewinson. »Aber für das, was sie Lewada vorwarfen, wäre man ein paar Jahrzehnte früher auf Nimmerwiedersehen im Lager verschwunden.« Stattdessen verlor Lewada nur seine Professur, und man wies ihm eine nicht öffentliche, praktisch anonyme Stelle an einem wissenschaftlichen Institut zu. Die Zeiten waren »vegetarisch« geworden, wie Anna Achmatowa, die Grande Dame der russischen Lyrik des 20. Jahrhunderts, es ausdrückte. Nicht der Gulag stand Lewada bevor, aber doch eine Art Exil - ähnlich wie Dubcek, der nach seiner Verhaftung am Ende des Prager Frühlings auf einen Posten bei der Forstverwaltung in der Slowakei abgeschoben wurde. Lewada war vom Mainstream der sowjetischen Wissenschaft abgeschnitten und durfte weder neue Arbeiten publizieren, noch durften andere Wissenschaftler ihn in ihren Artikeln zitieren. »Nur ich, ganz auf mich gestellt, so war das - ganz allein, sechzehn Jahre lang«, erinnerte er sich später.

Während dieser gesamten Zeit arbeitete Lewada zu Hause und in kleinen Gruppen mit Freunden und Kollegen daran, das Phänomen zu verstehen, das später den Namen Homo sovieticus erhielt: eine neue Spezies, die eine Folgeerscheinung des großen und furchtbaren sowjetischen Experiments war. Nach Lewada ist der Staat für diese Spezies »nicht nur eine historisch gewachsene gesellschaftliche Institution unter anderen [...], sondern eine Art Über-Institution vormodernen, paternalistischen Typs, [...] deren Funktionen und deren Aktivitätsbereich universal sind [...] und die in alle Winkel der menschlichen Existenz vordringt. Das Projekt des sowjetischen Sozialstaates ist per definitionem totalitär, weil es der Person keinerlei eigenen Raum lässt.« Ebenso wichtig wie die Abhängigkeit der Untertanen vom Staat sei ihre Dankbarkeit: »Die Fürsorge der Oberen muss von den Unteren gewürdigt werden.«

Viele Sowjetbürger reagierten - aus einem Rest Furcht, aber auch einer Kombination von Gewitztheit und Findigkeit heraus -, indem sie sich an den Staat anpassten. Dieser genoss vielleicht nicht ihr Vertrauen oder ihren Respekt, aber ebenso wenig konnten sie sich vorstellen, ihn zu bezwingen oder ohne ihn zu leben. Es begann als...
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Autor

Der US-Journalist Joshua Yaffa ist vor allem für seine Reportagen im New Yorker bekannt, arbeitet aber auch für die New York Times, das Wall Street Journal und den Economist. Er lebt und schreibt in Moskau. Für seine Texte über Russland hat er ein Stipendium des Pulitzer Center for Crisis Reporting bekommen.