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ICH. Aufzeichnungen aus meinem Menschenleben

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
303 Seiten
Deutsch
Reclam Verlagerschienen am27.08.2021Deutsche Erstausgabe
'Letzten Endes bin ich eine ausdrücklich vernünftige Frau. Nur dass Vieles, worauf ich in meinem Inneren stoße, knirscht, unerklärlich ist und nicht zusammenpasst. Ich bin so verlassen, als hätte ich keinen menschlichen Platz auf dieser Erde. Meine Tage sind so still, als lebte nur ich auf der Welt.' - MARY MACLANE Mary MacLane wünschte sich mit 19 Jahren nichts sehnlicher, als die Enge ihrer Heimatstadt in der amerikanischen Provinz zu verlassen. Mit 36 Jahren kehrt sie nun nach Montana zurück; eine turbulente und glamouröse Zeit in den Künstlerkreisen an der Ostküste liegt hinter ihr. Die Stadt hat sich nicht verändert, und doch ist nichts mehr wie zuvor. MacLane wendet sich wieder der Form des Tagebuchs zu und scheint darin ihr jüngeres, naiveres Ich direkt anzusprechen. Immer wieder parodiert sie sich selbst mit melancholischer Ironie und legt eine so unbestechliche wie unterhaltsame Bestandsaufnahme vor. Wie in ihrem Debüt widmet sich die 36-Jährige dem eigenen Ich, das sie gerade deshalb virtuos zu feiern weiß, weil sie sich darüber keine Illusionen macht. - Ein Buch über die Herausforderung des Menschen, in der Einsamkeit 'Ich' zu sagen und 'Ich' zu sein.

Mary MacLane (1881-1929) wuchs in einer Bergarbeiterstadt in Montana (USA) auf. Mit ihrem ersten Buch wurde sie 1902 schlagartig berühmt, es folgten der Roman Meine Freundin Annabel Lee (1903) und weitere autobiographische Texte. MacLanes bohemehafter Lebensstil und ihre Bisexualität sorgten immer wieder für Skandale. Sie starb im Alter von 48 Jahren in Chicago. Mirko Bonné, geb. 1965, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Hamburg. Er verfasste mehrere Romane, Gedichtbände und übersetzte u. a. Werke von Emily Dickinson, Joseph Conrad und Robert Louis Stevenson ins Deutsche. Die Prosaautorin und Lyrikerin Ulrike Draesner, geb. 1962, wurde u. a. mit dem Joachim-Ringelnatz-Preis und dem Nicolas-Born-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

Klappentext'Letzten Endes bin ich eine ausdrücklich vernünftige Frau. Nur dass Vieles, worauf ich in meinem Inneren stoße, knirscht, unerklärlich ist und nicht zusammenpasst. Ich bin so verlassen, als hätte ich keinen menschlichen Platz auf dieser Erde. Meine Tage sind so still, als lebte nur ich auf der Welt.' - MARY MACLANE Mary MacLane wünschte sich mit 19 Jahren nichts sehnlicher, als die Enge ihrer Heimatstadt in der amerikanischen Provinz zu verlassen. Mit 36 Jahren kehrt sie nun nach Montana zurück; eine turbulente und glamouröse Zeit in den Künstlerkreisen an der Ostküste liegt hinter ihr. Die Stadt hat sich nicht verändert, und doch ist nichts mehr wie zuvor. MacLane wendet sich wieder der Form des Tagebuchs zu und scheint darin ihr jüngeres, naiveres Ich direkt anzusprechen. Immer wieder parodiert sie sich selbst mit melancholischer Ironie und legt eine so unbestechliche wie unterhaltsame Bestandsaufnahme vor. Wie in ihrem Debüt widmet sich die 36-Jährige dem eigenen Ich, das sie gerade deshalb virtuos zu feiern weiß, weil sie sich darüber keine Illusionen macht. - Ein Buch über die Herausforderung des Menschen, in der Einsamkeit 'Ich' zu sagen und 'Ich' zu sein.

Mary MacLane (1881-1929) wuchs in einer Bergarbeiterstadt in Montana (USA) auf. Mit ihrem ersten Buch wurde sie 1902 schlagartig berühmt, es folgten der Roman Meine Freundin Annabel Lee (1903) und weitere autobiographische Texte. MacLanes bohemehafter Lebensstil und ihre Bisexualität sorgten immer wieder für Skandale. Sie starb im Alter von 48 Jahren in Chicago. Mirko Bonné, geb. 1965, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Hamburg. Er verfasste mehrere Romane, Gedichtbände und übersetzte u. a. Werke von Emily Dickinson, Joseph Conrad und Robert Louis Stevenson ins Deutsche. Die Prosaautorin und Lyrikerin Ulrike Draesner, geb. 1962, wurde u. a. mit dem Joachim-Ringelnatz-Preis und dem Nicolas-Born-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783159619170
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum27.08.2021
AuflageDeutsche Erstausgabe
Seiten303 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1530 Kbytes
Artikel-Nr.7843943
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
Feuerkasten Marke Eigenbau
Teils unvermeidbar, teils aus freien Stücken
Verdrehte Moral
Mein-Alltag und morgen
Rechnerisch eine blinde Wand
Mein Adretter Blauer Stuhl
Ein verlorener Mensch
Eine fadenscheinige Verdammnis
Ein Ich-Gefängnis
Ein Leichentuch
Die Straße nach Dover
Die Harfe mit Verschlissenen Saiten
Ein überaus windiger Samstag
Eine einigermaßen eigenständige Person
Aufrichtigkeit und Verzweiflung
Nicht der Tod
Ein menschliches Vorrecht
Die gnadenlose Schönheit
Meine Schuhe
Eine unheimliche Eigenschaft
Eine Teufeliade
Wie Meine Tage Verfliegen
Beim Blut toter Amerikaner
Um mich auszudrücken
Fiese spitzenbesetzte Valentinsgrüße
Süße blutige Schweißtröpfchen
Instinkt - ein "Urgesetz"
Lose Zweier
Stricken oder Stroh flechten
Eine Straße lebenslanger Einsamkeit
Ihre Stimmen
Meine Flüche
An Gott, zu Händen der Pfeifenden Winde
Ein einsatzbereites Diaphragma
Lots Frau
Im Widerhall meiner Schritte
Aufs Bequemste lasterhaft
Mein schwarzes Kleid und mein stilles Zimmer
Ihre kleinen Schuhe
Der Toten Schlaf
Flüchtig irre
Zum Ausgleich schenkt mir Gott
Die Seltsame Tapferkeit
Unmittelbar Unter Meiner Haut
Gottes freundlich gestimmte Laune
Ein faszinierendes Geschöpf
Keine Resonanz
Missmutige Mittwoche
Die bewusste Analytikerin
Auge, wenn ich Zahn meine
Eine wilde Stute
Der Dunst
Eine vom Kreidestrich
Wohltuende Verwirrung
Ein tödliches Pathos
Die Halskette
Hinterlistiges Verwirren und In-die-Quere-Kommen
Nicht ganz voilà-tout
Eine verdammte Spinne
Herumstreifen und -lungern und -laborieren
Eintausend Küsse
Ein Flattermotten-Wunsch
Ein zwanzig Zoll breiter Spalt
Eine zutiefst köstliche Vorstellung
Ein Kurpfuscherinnenmantel
Eine vertraut heftige Verwicklung
Ein dunkles, helles, heftiges Feuer
Später Nachmittag
Ein uraltes Hexen-Licht
Das Graupurpur
Eine unterteilte Zelle
Futter und Feuer
Der Saum aus Nebel-und-Silber
Eine Richtige Gestalt und Größe
Eiswasser, ätzende Säure und menschlicher Atem
Rhythmus
Ein Gebet-Gefühl

Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
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Leseprobe

Mein-Alltag und morgen


Morgen


Unbeteiligt lebe ich in diesem Spitzkegel-Butte4 und spiele nach außen die Rolle der Familientochter ohne Aufgaben.

Dieses Butte ist ein Ort, der nicht zu mir passt.

Keinen einzigen Menschen habe ich hier zum Freund, niemand entspricht mir. Und Die Natur hätte mich nicht mal in einer ihrer verblüffendsten Launen in die Rolle der Familientochter gesteckt. Drei Dinge haben mich in den letzten vier Jahren hier festgehalten: der Umstand, dass nichts von außerhalb nach mir verlangte; ein von der Familie ausgeübter Druck, fein wie eine kleine Nadelspitze, die einen sticht, kaum bewegt man sich; und dass es derzeit der Weg des geringsten Widerstandes ist, hierzubleiben.

So sind Frauen: Sie gehen den Weg des geringsten körperlichen Widerstandes, außer ein gewaltsamer Grund - wie Liebe oder Hass oder Eifersucht oder ein Baby oder verletzter Stolz oder die Sporen des Ehrgeizes - zwingt sie zu einer gewaltsamen Tat. Ich bin ihm in diesen Jahren äußerlich ruhig, innerlich wütend gefolgt - wütend auf eine matte Art, die mich fertigmacht.

Die Jahre, die Unterwerfung und die Wut setzen sich zu einer Stimmung zusammen, die mich einschließt, antreibt, verdammt und erhebt.

Sie ist voller Kraft, diese Stimmung, obwohl ich selbst nicht kräftig bin.

Diese Stimmung ist dieses Buch. -

Ich lebe ohne Moral. Ohne Moral, weil mein Leben auf tödliche Weise vergeblich ist. Alle die Gewebe meines Körpers, meiner Seele, meines Geistes und Herzens liegen brach, sie zerfallen, nutzen sich Minute um Minute ab, Stunde um Stunde, Tag um Tag: Nichts davon kehrt zu mir oder zu meinem Leben noch zu etwas Menschlichem oder Göttlichem zurück.

So kommt es, dass ich mich vor meinem Leben und mir selbst grause.

Ich weiß nicht so recht, warum.

Aber es würde sich ehrlicher anfühlen, eine unermüdliche Taschendiebin oder eine eifrige Dirne zu sein.

So vergeht Mein-Alltag: Morgens wache ich auf und liege lustlos ein paar Minuten mit schweren Lidern herum. Mein Blick fällt auf einen Riegel aus vergoldet blauem Morgenlicht, das sich blass zu dem einen Fenster hereindrückt, und auf ein Sonnendreieck aus schmelzendem Gold, das sich durch das andere Fenster auf der roten Ziegelwand unseres Nachbarhauses zeigt. Also sage ich »schon wieder ein Tag«, schiebe die Zudecke mit einem Fuß beiseite und schlüpfe aus meinem schmalen Bett, hinein in die blauen Pantoffeln, heraus aus einem dünnen Nachthemd und hinein in einen Frisier- oder Bademantel. Ich glätte ein zerzaustes Haar und drehe es ein, fasse es zusammen und stecke es mit ein paar Bernsteinnadeln hoch. Und ich trete in ein achtungsgebietendes, grüngraues Badezimmer, lasse Wasser einlaufen und setze mich hinein. Ich plansche in kurzlebigem, flüchtigem Seifenschaum, stelle mich unter einen plötzlichen, heldenhaft eisigen Wasserguss und trockne mich mit einem die Haut geißelnden Handtuch ab. Dann kehre ich in das blau-weiße Schlafzimmer zurück und ziehe mich an, dünne Frauenunterwäsche und ein Kleid wie für eine Nonne.

Ich schaue in meinen Spiegel. An manchen Tagen bin ich ein feingliedriges, hübsches Mädchen. An anderen Tagen eine vollkommen unscheinbare Frau.

Körperliche Anziehungskraft ist ein Ergebnis der Chemie des Gehirns.

Ich sage zu Mir im Spiegel: »Da sind ich-und-du ja wieder, Mary MacLane, und ein weiteres zehrendes vernichtendes Morgen.

 

Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,

Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag.«5

 

Dieser Morgen-Gedanke hat etwas beklemmend Dekadentes. Und Tag für Tag kommt der Morgen-Gedanke aus meinem Morgenspiegel gekrochen.

Ich verweile ein wenig bei ihm, bis meine grauen Augen, meine Lippen, meine Zähne und meine Stirn genug davon haben und ihm nichts mehr abgewinnen können.

Mit einem Ruck befördere ich die flache Muschel meines Haarschopfs auf die eine Seite der Stirn und wende mich ab. Tür und Fenster reiße ich weiter auf, damit ein paar Windstöße hindurchfegen. Und ich gehe hinunter. Es ist halb zehn oder halb elf. Ich trete in die saubere, leere Küche mit der tickenden Uhr und bereite mein Frühstück zu. Diese Aufgabe ist auf hungrige Weise erfreulich und angenehm. Ich mache ein fast schon britisches Frühstück mit Tee und Orangenmarmelade und kleinen Vierecken von Toast und rosa-braunen Streifen Schinkenspeck und zwei herrlichen Eiern. Bis zu dem Augenblick, in dem ich die Eier aufschlage, gleicht der Morgen auf uralte Weise jedem anderen Morgen. Aber Eier sind Mal um Mal, obwohl ich sie seit gut fünfundzwanzig Jahren jeden Tag esse, faszinierend neu.

Sie sind köstlich in meinem Frühstück. Ebenso wie die Toasteckchen, die Speckstreifen, der Tee und die Marmelade. Wenn ich mit ihnen fertig bin, lege ich meine Serviette neben meine Tasse, zünde eine Zigarette an, ziehe ein- oder zweimal an ihr und werde mir in aller Zufriedenheit dessen bewusst, dass mein Gehirn sich zusammen mit dem Frühstück in einen süßen Ruhezustand begeben hat. Solange mein Gehirn sich in meinem Kopf befindet, analysiert es mir noch das letzte Quäntchen Seele aus dem Körper, den Glanz aus den grauen Augen, die Würze aus dem Leben, den menschlichen Geschmack von der Zunge. Dieser Nach-Frühstücks-Augenblick ist der einzige friedliche Augenblick, der mir an meinem Tag und in meinem Leben vergönnt ist.

Nachdem ich die Zigarette geraucht und Teile der Zeitung gelesen habe, beweise ich, wie durch und durch bürgerlich ich bin, indem ich daran denke, mein Frühstücksgeschirr zu waschen.

Genau, bürgerlich, von der Seele bis in die Zehenspitze. Man sieht mir das aufs Erste nicht an - Geschmack und Ehrgeiz flitzen ja nur in verstümmelter Form und in weiten Kreisen um einen Menschen herum. Aber die Neigung, das Geschirr abzuspülen, nachdem man es zum Frühstück verwendet hat, fühlt sich eindeutig und angenehm bürgerlich an. Was nicht heißt, dass ich immer abwasche, aber immer denke ich daran und bin geneigt, es zu tun.

An einem Sommertag sitze ich mittags auf der vorderen Veranda im Schatten und schaue in die Weite nach Süden auf die blauen Highlands mit ihren ewigen Schneegipfeln: oder nach Osten auf die nahe, hoch aufragende, großartig grimme Wand der ausgedörrten Rockies, die unser Spitzkegel-Butte von New York trennt, von London - von den Schlössern Spaniens - den Pyramiden - von der Insel Lesbos: oder nach Südwesten über Hausdächer hinweg auf ein paar Ausläufer des Gebirges, über denen ein Feenschleier hängt, für den man einen Klumpen Gold und eine Aprikose miteinander verschmolzen und dünn ausgestrichen hat.

Ruhelos kehre ich ins Haus zurück und gehe in mein Zimmer. Ich bringe es in Ordnung - reine, reine makellose Ordnung. Ein ausgeprägter Teil von mir stammt von einem mutwilligen Geschöpf ab - einer Mänade,6 einer geistigen Amazone, einem weiblichen Kobold. Aber er hat eine Gegenspielerin - die Charakterzüge einer Jungfer aus Neu-England, der man mit Stahl bestimmte, grausam ordentliche Gewohnheiten angenietet hat. Ein loser Faden auf meinem blauen Teppich tut weh, tut mir weh, bis ich ihn aufhebe. Staub in meinem Zimmer fügt mir einen nervösen Schmerz zu, eine erbärmliche bohrende Betrübnis-aller-Sinne, bis ich ihn entfernt habe. Und mein züchtig aussehendes Bett - nachdem ich seine genoppte Matratze umgedreht und es gemacht habe - glatt und weiß und frisch und weich -, wie würde jede Faser in mir sich winden, falls jemand es wagte, sich daraufzusetzen. Doch niemand setzt sich darauf. Und ich für meinen Part würde eher einen Teil meines Körpers an einen Soldaten vom Balkan verkaufen, für vier Groschen, als auch nur eine Fingerspitze in seine Vollkommenheit zu drücken: so und nicht anders sehen meine Gefühle dazu nun einmal aus. Mein Bett muss vollkommen bleiben bis zu dem Augenblick, in dem ich nachts hineinschlüpfe, um unter Traumwelten zu schweben.

Unter Umständen drücke ich mir dann einen weichen schwarzen Hut auf die Haare, streife Handschuhe über und trete für einen längeren Spaziergang hinaus auf die grau gepflasterten Straßen. Vielleicht ist es auch ein schwülheißer Tag. Dann breche ich nicht auf, sondern bleibe in dem blau-weißen Zimmer und flicke ein Stück zerrissener Wäsche, ein Taschentuch, einen Seidenstrumpf oder einen Unterrock. Oder ich greife zu einem Buch und grabe etwas Griechisches aus - Homer oder ein Fragment der Sappho -, das ist zwar recht mühselig, aber ich freue mich darüber, dass ich es überhaupt schaffe: was man in der Schule als Letztes lernte, vergisst man als Erstes wieder. Oder ich lese einen englischen oder französischen Philosophen, etwas Tolstoi in Übersetzung, ein Stück aus einem Roman von Balzac oder ein paar Passagen aus Romanen von Dickens, mit denen ich seit langem vertraut bin und die ich wirklich liebe, wegen der erholsamen Falschheit ihrer Gefühle und des stechenden, appetitanregenden Charmes ihrer Schurken.

Und in der Zwischenzeit denke ich nach und denke nach.

Dann ist es Zeit für das Abendessen, mitunter ziehe ich mir mein anderes nonnenhaftes Kleid an, nasche lustlos vom Essen und unterhalte mich mit der kleinen Familie, die sich versammelt hat, in der Tonlage und im Stil lebenslanger Unaufrichtigkeit. Im Familienkreiszustand muss ich mein wahres Selbst seit meinem zweiten Geburtstag hinter hundert schwarzen Schleiern verstecken. Der Versuch, es etwa jetzt beim familiären Abendessen zu zeigen, der einzigen Zeit, zu der alle...
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Autor

Mary MacLane (1881-1929) wuchs in einer Bergarbeiterstadt in Montana (USA) auf. Mit ihrem ersten Buch wurde sie 1902 schlagartig berühmt, es folgten der Roman Meine Freundin Annabel Lee (1903) und weitere autobiographische Texte. MacLanes bohemehafter Lebensstil und ihre Bisexualität sorgten immer wieder für Skandale. Sie starb im Alter von 48 Jahren in Chicago. Mirko Bonné, geb. 1965, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Hamburg. Er verfasste mehrere Romane, Gedichtbände und übersetzte u. a. Werke von Emily Dickinson, Joseph Conrad und Robert Louis Stevenson ins Deutsche. Die Prosaautorin und Lyrikerin Ulrike Draesner, geb. 1962, wurde u. a. mit dem Joachim-Ringelnatz-Preis und dem Nicolas-Born-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.