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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Berlin Verlagerschienen am24.02.2022Auflage
Das Browser-Fenster zum Hof  Die junge Mutter Tiff schlägt sich mit schlecht bezahlten Online-Jobs für die Plattform Automa durch, da sie wegen einer Angststörung ihre Wohnung kaum verlassen kann. Ihre zermürbende Akkordarbeit wird als angebliche Überwachungsleistung einer KI teuer verkauft, weshalb sie zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Doch dann wird sie am Bildschirm Zeugin eines Verbrechens ... Ein visionärer Gegenwartsroman, der zwischen der Klaustrophobie der eigenen vier Wände und den Hanffeldern Kaliforniens spielt und von neuen Ausbeutungsverhältnissen und den Chancen virtueller Solidarität erzählt. »Dieses Buch ist ein Geniestreich. Vordergründig geht es um Kapitalismus, Digitalisierung und Angst, aber im Kern enthält es, was dabei oft vergessen wird: unsere Menschlichkeit. Berit Glanz erzählt wagemutig und klug von einem Gefühl, an dessen Existenz wir kaum noch glauben, obwohl es alles verändern kann. Es ist Hoffnung.« Mareike Fallwickl

Berit Glanz, 1982 in der Nähe von Kiel geboren, hat Theaterwissenschaft und Skandinavistik in München, Stockholm und Reykjavík studiert. Ihr Debüt »Pixeltänzer« (2019) war für den aspekte-Literatur-Preis nominiert und wurde mit dem Hebbel-Preis 2020 ausgezeichnet. Für ein Projekt zu KI erhielt sie die Bremer Netzresidenz 2020. Als Kulturjournalistin schreibt sie über Memes, digitale Literatur und andere Aspekte der Internetkultur. Auf Twitter findet man sie unter @beritmiriam. Außerdem ist sie Redaktionsmitglied des digitalen Feuilletons 54books. Seit dem Sommer 2021 lebt Berit Glanz mit ihrer Familie in Reykjavík. Mehr unter https://www.beritglanz.de/
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextDas Browser-Fenster zum Hof  Die junge Mutter Tiff schlägt sich mit schlecht bezahlten Online-Jobs für die Plattform Automa durch, da sie wegen einer Angststörung ihre Wohnung kaum verlassen kann. Ihre zermürbende Akkordarbeit wird als angebliche Überwachungsleistung einer KI teuer verkauft, weshalb sie zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Doch dann wird sie am Bildschirm Zeugin eines Verbrechens ... Ein visionärer Gegenwartsroman, der zwischen der Klaustrophobie der eigenen vier Wände und den Hanffeldern Kaliforniens spielt und von neuen Ausbeutungsverhältnissen und den Chancen virtueller Solidarität erzählt. »Dieses Buch ist ein Geniestreich. Vordergründig geht es um Kapitalismus, Digitalisierung und Angst, aber im Kern enthält es, was dabei oft vergessen wird: unsere Menschlichkeit. Berit Glanz erzählt wagemutig und klug von einem Gefühl, an dessen Existenz wir kaum noch glauben, obwohl es alles verändern kann. Es ist Hoffnung.« Mareike Fallwickl

Berit Glanz, 1982 in der Nähe von Kiel geboren, hat Theaterwissenschaft und Skandinavistik in München, Stockholm und Reykjavík studiert. Ihr Debüt »Pixeltänzer« (2019) war für den aspekte-Literatur-Preis nominiert und wurde mit dem Hebbel-Preis 2020 ausgezeichnet. Für ein Projekt zu KI erhielt sie die Bremer Netzresidenz 2020. Als Kulturjournalistin schreibt sie über Memes, digitale Literatur und andere Aspekte der Internetkultur. Auf Twitter findet man sie unter @beritmiriam. Außerdem ist sie Redaktionsmitglied des digitalen Feuilletons 54books. Seit dem Sommer 2021 lebt Berit Glanz mit ihrer Familie in Reykjavík. Mehr unter https://www.beritglanz.de/
Details
Weitere ISBN/GTIN9783827080417
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum24.02.2022
AuflageAuflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse10348 Kbytes
Artikel-Nr.8126484
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Corvus corone

Es war niemand da, und es gab kaum Hilfe. Wenn sie abends die Wohnung aufräumte, kleine Holztiere zurück in die Spielzeugkiste legte, Duplosteine zusammenklaubte und unzählige frisch gewaschene Strumpfhosen und Lätzchen für die nächsten Breiexperimente faltete, dachte sie manchmal daran, wie es wäre, diese Arbeiten gemeinsam zu tun; danach auf dem Sofa zu liegen, erschöpft, aber glücklich über das gemeinsame Kind zu sprechen und all die kleinen Dinge, die jeden Tag geschahen. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt, einen Alltag zu leben, in dem die vielen Momente, die sie erstaunten oder stolz machten, von niemandem gespiegelt wurden. Wenn sie in den Abendstunden noch etwas Energie übrig hatte, schrieb sie manchmal einige der Dinge auf, die sie mit Leon tagsüber erlebt hatte, erste Wörter, lustige Erlebnisse, glückliche Minuten geteilt mit dem Notizheft. Vielleicht würde er sich in der Zukunft für diese Momente interessieren, vielleicht würde das Heft aber auch in irgendeiner Schublade liegen bleiben, voller unwichtiger Erinnerungen für einen Heranwachsenden.

Geldsorgen hatte sie immer wieder. Es war schwierig, die Jobs zu behalten, Schichten zuverlässig zu übernehmen, wenn die Winterkrankheiten kamen, alle anderen mit Kindern unter der Last ächzten und niemand ihr zur Seite springen konnte. Manchmal half ihr Monika Schwalbe aus dem ersten Stock. Frau Schwalbe war wegen chronischer Rückenschmerzen bereits in Rente und freute sich immer, Leon zu sehen. Doch ihre Wirbelsäule konnte viele Stunden mit dem Kind nicht aushalten; das ständige Bücken nach Dingen, hinauf und hinunter, auf dem Boden sitzen, das schwere Kleinkind auf die Wickelunterlage heben. Tiff sah, wie Frau Schwalbe sich den Rücken rieb, wenn sie wieder kurzfristig eingesprungen war, und jedes Mal packte sie das schlechte Gewissen.

Den Gedanken daran, die Ausbildung zur Radiologieassistentin abzuschließen, hatte sie rasch fallen gelassen. Wegen der Schwangerschaft durfte sie nicht arbeiten und hatte dann, überstürzt und hochschwanger, die Stadt gewechselt, weil sie das kleinstädtische Getuschel über die sitzen gelassene junge Mutter nicht mehr ertrug. In der großen Stadt war sie weitgehend allein, überfordert mit dem kleinen Kind, antriebslos vor Müdigkeit. Sie versuchte, Jobs zu finden, die sich mit dem Kind vereinbaren ließen, kellnerte in Cafés, ging Plasma spenden, arbeitete an der Kasse, aber die Jobs waren nie langfristig, das Geld blieb spürbar knapp.

Als sie die Anzeige sah, die vage Ankündigung eines zeitlich flexiblen, mit Mindestlohn bezahlten festen Schreibtischjobs, hatte sie sofort eine E-Mail geschickt. Bereits eine Woche später saß sie, gemeinsam mit zwölf anderen Bewerbern, in einem schlichten Besprechungszimmer eines großen Bürogebäudes. Gepolsterte Stühle, aufgestellt in Fünferreihen, von ihrem Platz in der letzten Reihe konnte sie die anderen beobachten. Gemeinsam hatten sie nur, dass keiner von ihnen sehr alt war, ansonsten ließen sich anhand der Kleidung und des Verhaltens keine besonderen Ähnlichkeiten feststellen. Eine junge Frau mit randloser Brille startete eine Folienpräsentation, mit der sie das Profil der ausgeschriebenen Stellen erklärte.

Die Firma arbeitete für große soziale Netzwerke. Um welche genau es sich handelte, wurde den Bewerberinnen und Bewerbern nicht mitgeteilt. Ihre Aufgabe würde sein, die tägliche nutzergenerierte Bilder- und Videoflut zu moderieren. In einem Großraumbüro würden sie auf ergonomischen Stühlen sitzen und im Akkord Bilder und Videos sichten, die von Nutzern als auffällig markiert worden waren. Anhand klarer Richtlinien, die in der Präsentation erklärt wurden, sollten sie dann die Bilder bewerten: Gewaltdarstellungen aussortieren, augenscheinlich kriminelle Aktivitäten mit einem besonderen Vermerk ausblenden und auch Nacktheit und Pornografie mit genauem Blick bewerten und bei Überschreitung der eng definierten Regeln sofort löschen, damit niemand mit dem Bild einer weiblichen Brustwarze oder eines Geschlechtsorgans konfrontiert würde.

In dem mehrstöckigen Haus arbeiteten mehr als sechshundert Menschen in eng getakteten Schichten, für jede Stunde Moderation wurden zehn Minuten Pause mit eingeplant. Diese Pausen sollten dringend ohne weiteren Blick auf private Smartphones oder Ähnliches verbracht werden, sagte die Frau mit der randlosen Brille und machte eine bedeutungsvolle Pause. Arbeitsschutz - ihr ernster Gesichtsausdruck das mimische Äquivalent eines Ausrufezeichens. Die Augen der Mitarbeiter müssten sich in dieser Zeit entspannen, um das ehrgeizige Ziel von mindestens zwanzig moderierten Bildern pro Minute zu erreichen. Die Zeiteinteilung war flexibel, sodass es Tiff möglich sein würde, keinen vollen Tag zu arbeiten, was sich besser mit den Betreuungszeiten von Leon vereinbaren ließ. Am Ende des Vortrags wurden alle Anwesenden darum gebeten, am Ausgang ihre Sprachkenntnisse mitzuteilen, da multilinguale Moderatoren für weitere Kontexte eingesetzt werden könnten. Für seltene und schwierige Sprachen gab es einen Bonus im Stundenlohn.

Bereits eine Woche später hatte Tiff mit der Arbeit begonnen. Ihr wurde ein Schreibtisch zugewiesen, der von den Sitzplätzen daneben durch Sichtschutzwände abgeteilt war, sodass sie nur den eigenen Bildschirm im Blick hatte, wenn sie nicht weit mit dem Stuhl auf der bodenschonenden Plastikunterlage zurückrollte. Sie wurde aufgefordert, nach jeder Schicht den Schreibtisch sauber zu hinterlassen, da der Platz ihr nur für diesen Slot zugewiesen und den Rest des Tages von anderen Moderatorinnen und Moderatoren genutzt werde. Links von ihr saß ein junger Mann, der ihr freundlich zunickte. Als sie sich ihm vorstellte, sagte er auf Englisch, dass er kein Deutsch spreche. Auf ihrer rechten Seite saß eine ältere Frau mit grauem Flechtzopf, die ihr fest die Hand drückte, sich kurz als Melanie vorstellte und dann wieder ihrem Bildschirm zuwandte.

Die junge Frau mit der randlosen Brille hatte Tiff am Eingang in Empfang genommen und wies sie jetzt in die Bedienung der Moderationsoberfläche ein. Rechts oben im Bildschirm befand sich ein Kreis, mit dem Fünfminutenintervalle gemessen wurden, in der Mitte des Kreises konnte man die Zahl moderierter Bilder ablesen. Fiel die Moderationsrate unter die Zielvorgabe, verfärbte sich der Kreis von grün zu orange zu rot, ein Zeichen für die Moderatoren, schneller zu arbeiten.

An jedem neuen Tag erhielten sie einen Plan für ihre Arbeitsstunden, in dem die Pausen exakt zugewiesen waren. In dieser Phase stellte sich der Zeitkreis automatisch grau, und ein Schlaf-Smiley erschien. Wenn man die Pause überzog, musste anschließend umso schneller gearbeitet werden, um den Verlust auszugleichen. Was die Konsequenz aus einer anhaltend langsamen Moderationstätigkeit sein würde, war in dem Einführungsgespräch nicht erklärt worden, aber Tiff konnte es sich ausmalen.

In der Einarbeitungswoche wurden den Neuankömmlingen nur einfache Bilder vorgelegt, die von Nutzern wegen Nacktheit oder Copyrightverletzung markiert worden waren. Tiff klickte sich durch reihenweise Fotografien von Brüsten, deren Nippel sich zu deutlich unter dünnem Stoff abzeichneten, von Frauen mit nacktem Oberkörper am Strand, Screenshots aus aktuellen Zeichentrickfilmen und Bilder von Markenprodukten in unerlaubten Kontexten. Sie markierte fleißig, ihr Moderationskreis blieb erfreulich grün. Manchmal hörte sie die Sitznachbarn hinter den Trennwänden Geräusche machen, ab und zu ein kurzes, scharfes Einatmen oder ein Ächzen. In den Pausen folgte sie den Regeln und schaute nicht auf ihr Smartphone. Stattdessen stand sie auf der gefliesten Dachterrasse des Bürogebäudes und sah über die Dächer der benachbarten Häuserblocks hinweg in die Ferne, um ihre Augen zu entspannen. Über einem Hochhaus kreisten immer wieder schwarz-graue Vögel, manche ließen sich an der Dachkante nieder, und sie hatte das Gefühl, dass die großen Tiere zu ihr herüberblickten.

Die Pausen waren so getaktet, dass auf jedem Bürostockwerk nur eine Handvoll Menschen zeitgleich von ihren Bildschirmen aufstanden, sich Kaffee nahmen und an die frische Luft auf die Dachterrasse gingen oder sich zum Rauchen auf den dafür zugewiesenen Balkon begaben. In der ersten Woche stellte Tiff fest, dass die Sprachenvielfalt unter den Angestellten so groß war, dass sie sich nicht mit jedem problemlos verständigen konnte. Einige ihrer Kollegen kamen aus der großen geldbedürftigen Ex-Pat-Community der Stadt,...
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Autor

Berit Glanz, 1982 geboren, hat Theaterwissenschaft und Skandinavistik in München, Stockholm und Reykjavík studiert. Seit 2010 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neue Skandinavische Literaturen des Instituts für Fennistik und Skandinavistik der Universität Greifswald. 2016 war sie Finalistin beim 24. open mike in Berlin. Im Herbst 2017 gewann sie sowohl den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern als auch den Publikumspreis des Wettbewerbs. Mit ihrem hochgelobten Debüt »Pixeltänzer« (2019) war sie Finalistin für den aspekte-Literatur-Preis und wurde mit dem Hebbel-Preis 2020 dafür ausgezeichnet. Für ein Projekt zu KI erhielt sie die Bremer Netzresidenz 2020. Auf Twitter findet man Berit Glanz unter @beritmiriam. Sie ist außerdem Redaktionsmitglied auf 54Books. Weitere Informationen finden sich unter beritglanz.de/.