Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Spitzweg

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am28.04.2022Auflage
Ein Kunstdiebstahl aus Liebe »Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht.« Als zufriedener Kunstbanause offenbart sich der Erzähler zu Beginn und berichtet davon, wie Carl, bewunderter Freund, ihn mit seiner Spitzweg-Begeisterung vom Gegenteil überzeugt. Als seine Passion so weit geht, dass er auch vor einem Verbrechen nicht zurückschreckt, wird die einstige Schülerfreundschaft auf ihre schwerste Probe gestellt. Eine dramatische Suche beginnt, bei der eine kluge Frau die Fährten legt. Eckhart Nickel erzählt wie in »Hysteria« die Geschichte einer Obsession: War darin von der Natur nur noch künstliche Reproduktion übrig, wird nun die Kunst zur zweiten Natur des Menschen. Eine raffinierte Kritik an der Bildvergötterung der sozial verwahrlosten Digitalgesellschaft und ihrer allmächtigen Instagrammatik.

Eckhart Nickel, geboren 1966 in Frankfurt/M., studierte Kunstgeschichte und Literatur in Heidelberg und New York. Er gehörte zum popliterarischen Quintett »Tristesse Royale« (1999) und debütierte 2000 mit dem Erzählband »Was ich davon halte«. Nickel leitete mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift »Der Freund« in Kathmandu. Heute schreibt er u.a. für die FAS, die SZ und die ZEIT. Bei Piper erschien u.a. die »Gebrauchsanweisung für Portugal« und die Reiseerzählungen »Von unterwegs« (2021). Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 wurde er für den Beginn von »Hysteria« mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet und war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. Im Jahr 2019 stand er auf der Shortlist des Franz-Hessel-Preises und erhielt den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg. 2022 wurde er von der Stadt Baden-Baden mit dem Baldreit-Stipendium ausgezeichnet. Sein hochgelobter neuer Roman »Spitzweg« (2022) schaffte es direkt auf Platz 1 der SWR Bestenliste Juli/August 2022 sowie auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
HörbuchCD-ROM
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextEin Kunstdiebstahl aus Liebe »Ich habe mir nie viel aus Kunst gemacht.« Als zufriedener Kunstbanause offenbart sich der Erzähler zu Beginn und berichtet davon, wie Carl, bewunderter Freund, ihn mit seiner Spitzweg-Begeisterung vom Gegenteil überzeugt. Als seine Passion so weit geht, dass er auch vor einem Verbrechen nicht zurückschreckt, wird die einstige Schülerfreundschaft auf ihre schwerste Probe gestellt. Eine dramatische Suche beginnt, bei der eine kluge Frau die Fährten legt. Eckhart Nickel erzählt wie in »Hysteria« die Geschichte einer Obsession: War darin von der Natur nur noch künstliche Reproduktion übrig, wird nun die Kunst zur zweiten Natur des Menschen. Eine raffinierte Kritik an der Bildvergötterung der sozial verwahrlosten Digitalgesellschaft und ihrer allmächtigen Instagrammatik.

Eckhart Nickel, geboren 1966 in Frankfurt/M., studierte Kunstgeschichte und Literatur in Heidelberg und New York. Er gehörte zum popliterarischen Quintett »Tristesse Royale« (1999) und debütierte 2000 mit dem Erzählband »Was ich davon halte«. Nickel leitete mit Christian Kracht die Literaturzeitschrift »Der Freund« in Kathmandu. Heute schreibt er u.a. für die FAS, die SZ und die ZEIT. Bei Piper erschien u.a. die »Gebrauchsanweisung für Portugal« und die Reiseerzählungen »Von unterwegs« (2021). Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017 wurde er für den Beginn von »Hysteria« mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet und war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. Im Jahr 2019 stand er auf der Shortlist des Franz-Hessel-Preises und erhielt den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg. 2022 wurde er von der Stadt Baden-Baden mit dem Baldreit-Stipendium ausgezeichnet. Sein hochgelobter neuer Roman »Spitzweg« (2022) schaffte es direkt auf Platz 1 der SWR Bestenliste Juli/August 2022 sowie auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492601559
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum28.04.2022
AuflageAuflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse7400 Kbytes
Artikel-Nr.8154396
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2

Blockzeichen

Wie etwas gemeint ist, darüber haben sich auch die klügsten Geister schon immer den Kopf zerbrochen. Jedes Mal, wenn ich einem Streit beiwohne, habe ich den Eindruck, dass alles Übel dieser Welt daher rührt, dass Menschen verschiedener Meinung sind. Aber damit nicht genug. Es kommt erschwerend hinzu, dass sie nicht einmal genau wissen, wie das, was ihr Gegenüber gesagt hat, tatsächlich gemeint war. Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich in den seltensten Fällen bei einem Streit wirklich sagen kann, dass ich verstanden hätte, worum es den Einzelnen geht. Da sie von vornherein zu wissen glauben, wie etwas zu deuten ist, hören sie gar nicht mehr richtig zu, sondern schreien nur noch ihren eigenen Standpunkt in die Welt hinaus, als gewönne er durch Lautstärke an Gewicht.

Weil ich nichts mehr verachte als die stumpfe, gedankenlose Aggression, wie sie mir in solchen Auseinandersetzungen begegnet, hatte ich es mir schon früh zur Angewohnheit gemacht, meine Meinung nicht nur in solchen vergifteten Momenten für mich zu behalten. Im zweiten Schritt fragte ich mich, ob nicht die logische Schlussfolgerung daraus sein müsste, vollends und von vornherein auf die Bildung einer Meinung zu verzichten. Nicht nur, weil damit viel Zeit und Mühsal zu sparen ist. Sondern auch und vor allem wegen der unübersehbaren äußerlichen Folgen: Selbst in der Regel ausgeglichene Gesichter, deren Wesenszug sonst von stoischer Schönheit geprägt ist, verzerren sich durch jene Wortgefechte in schlimmste Fratzen des Entsetzens.

In dieser Hinsicht, und um Frau Hügel dieses fatale Los zu ersparen, war es fast schon von Vorteil, dass niemand ihrer Meinung widersprach respektive danach fragte, wie sie es denn anders als beleidigend gemeint haben könnte. Sie sammelte sich vielmehr, schüttelte den Kopf und ging gemessenen Schrittes, als habe sie sich bereits innerlich damit abgefunden, ausgerechnet die beste Schülerin ihres Kurses nun endgültig verloren zu haben, zur Tür und schloss diese behutsam, fast lautlos.

Ich hielt schon viel zu lange den Atem an, weil ich befürchtete, sie würde sofort wieder zu Kirstens Platz gehen, um das Bild noch einmal in Augenschein zu nehmen. Mit jedem Meter zurück durch den Raum in Richtung Tafel aber wurde klarer, dass sie völlig absichtlich nicht mehr auf die Zeichnung an sich zu sprechen kam, sondern eine ganze Kulturtheorie darüber auszubreiten begann, was sie eigentlich gemeint haben wollte, als sie so frei von Kirstens »Mut zur Hässlichkeit« sprach.

»Ihr habt doch bestimmt in Französisch diesen berühmten Satz gehört, der unsere Vorstellungen von dem, was schön ist, sozusagen auf den Kopf gestellt hat und mit dem in meinen Augen die gesamte Moderne begann: Le beau est toujours bizarre. Nun war man immer sehr vorsichtig mit der Erklärung dessen, was Charles Baudelaire in seinem grandiosen Stück zur Weltausstellung 1855 in Paris mit dem Wort »bizarre« gemeint haben könnte. Dabei ist es vieles, aber nicht allein fremd oder seltsam wie die Welt auf einem Album von Der Plan. Man muss nicht einmal zur Etymologie greifen, die Abstammung ist so exzentrisch und kurios wie das Wort selbst. Wie in jedem guten Essay sollten Sie wenigstens den Absatz bis zum Ende lesen, da erklärt Baudelaire es nämlich überdeutlich, und zwar in Abgrenzung eines Begriffs, der genau das beschreibt, was ihm am meisten verhasst ist: das Banale. Und als Verkörperungen des Bizarren stehen dagegen der Geschmack und die Individualität - kurzum der Stil. Und was ist das Hässliche mehr als das vermeintliche Gegenteil des Schönen, obwohl dieses erst durch jenes entsteht, sogar ein elementarer Bestandteil dessen ist.«

So hatte sie es also gemeint, natürlich ohne es zu sagen. Und auch jetzt vermied sie bewusst, es als Kompliment auszusprechen, selbst im Nachhinein konnte sie anscheinend dieses Eingeständnis nicht machen. So war es also um die vermeintliche Stärke der gefürchteten Frau Hügel bestellt, dass sie gleich im ersten Moment der Unsicherheit, in dem wir sie je erlebten, auswich und vermied, die Dinge beim Namen zu nennen.

Wenn es eine Qualität gibt, durch die sich Lehrer auszeichnen sollten, dann doch gerade die größtmögliche Unmissverständlichkeit: klare Aussagen, deutliche Worte, genaue Beschreibungen darüber, was sicher belegt und verbrieft ist. Sie sollten uns das Gefühl vermitteln, es gäbe ein Wissen, das sich anzueignen wert ist, weil es unverrückbar und felsenfest dasteht und nur darauf wartet, von uns verstanden und auswendig gelernt zu werden. Wie hatte es der Direktor des Gymnasiums in seiner flammenden Ansprache damals eindringlich gesagt? »Wir sind die Tinte, die in euren Füllern fließt, und jeder Tropfen, der sein Ziel auf dem Papier erreicht, wird von euch aufgesaugt, als würdet ihr ganz Löschblatt sein.«

Gerade weil das Bild schief war, behielt ich es in Erinnerung. Wenn man versuchte, es sich vorzustellen, sah man sich vor ein schier unauflösbares Rätsel gestellt. Waren wir nun das Löschblatt, oder führten wir den Füller mit der Lehrertinte auf dem Papier und zeigten so, was wir aus alldem machen konnten, das uns die Lehrer zur Verfügung stellten? Und nahm nicht jedes Löschblatt normalerweise nur das auf, was zu viel an Tinte auf dem Papier gelandet war und verschmieren würde, falls man es ausnahmsweise einmal nicht benutzte? Ging es am Ende für uns allein darum, das Überflüssige aufzunehmen, weil alles andere nur Illusion war, die darüber nicht hinwegzutäuschen vermochte, dass alles Lernen letztlich umsonst war? Und das Wissen sich darin erschöpfte, eben dies zu erkennen?

Als ich das erste Mal das Wort Löschblatt im Schreibwarengeschäft hörte, stellte ich mir darunter ohnehin etwas ganz anderes vor. Ich sah sogleich, wie sich das Geschriebene auf dem Papier durch Auflegen des Löschblattes langsam aufzulösen begann. Nach dem allmählichen Verschwinden der Buchstaben, ein wunderbarer Vorgang, der wie ein rückwärts abgespulter Film aussah, entstand eine ursprüngliche Reinheit, die mir ein Gefühl größter Genugtuung verschaffte, das ich zuvor nur vom Auswendiglernen oder Üben kannte.

Die unerbittlichen Exerzitien, welche ich als Klavierschüler in Form der Fingerübungen absolvierte und die alle anderen am Musikunterricht unerträglich fanden, beruhigten mich dank ihrer Monotonie fast so nachhaltig wie das Memorieren von Vokabeln. Der Zauber lag aber nicht nur in der Wiederholung der Tonfolgen, sondern in der absoluten Sicherheit der Erfüllung einer klar gestellten Aufgabe. Anders als beim Selbstporträt für Frau Hügel verlangte am Klavier niemand von mir, zu improvisieren. Denn das werkgetreue Nachspielen der Noten duldete im Grunde keinerlei Abweichung.

Genau das war es, wonach ich mich wie nichts sonst sehnte, weil Jugend an sich schon Zwielicht genug war, mit seiner Grauzone des Ungefähren, dieser unendlichen Dämmerstunde aus Andeutungen und lebensverachtender Ironie. Wem half es, dass Frau Hügel an dem Tag, als Kirsten verschwand, dank ihres kryptischen Vortrags eigentlich genau so war wie wir: auch nur eine Person mehr, die nicht sagte, was sie meinte oder dachte, unergründlich wie ein Tier?

Tiere haben mir immer Angst eingejagt. Wer tief genug in die Augen eines Tieres sieht, kommt nicht umhin zu erkennen, dass da in der Dunkelheit etwas ist, das wir nie ganz verstehen werden. Es ist das Getriebene ihrer Existenz, das sich besonders in dem Moment zeigt, wenn sie selbst in Panik geraten. Verdrehen sich dann ihre Augäpfel vor Furcht ins Weiße, tritt der Wahnsinn zutage, der sie im Inneren umtreibt. Und alles an Vertrautheit, was sich nach Jahren des Zusammenlebens mit einem Haustier aufgebaut hat, fällt plötzlich zusammen und weicht einer namenlosen Furcht vor dem Unberechenbaren.

Erst bei einem Besuch im Zoo fand ich das eine Tier, das mir entsprechen würde. Ob es an der Ruhe lag, die es ausstrahlte, oder der Langsamkeit seiner Bewegungen, kann ich bis heute nicht genau sagen. Jedenfalls war es mir sogar möglich, die seltsam ausgetrocknet wirkende Haut des Rüssels zu streicheln, ohne vor seinen tastenden Berührungen zurückzuschrecken, mit denen es sich für meine zärtliche Zuwendung bedankte. Wie mir Vater später erklärte, war der Elefant nicht nur das größte unter den Säugetieren an Land, sondern hatte auch keine Feinde in der Tierwelt. Doch darauf setzte er ein raunendes Wort an...
mehr