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Pflegeprotokolle

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Verbrecher Verlagerschienen am28.10.20211. Auflage
Wie geht es der Pflege, wie den Care-Berufen? Wie ging es den Menschen vor der Pandemie, wie währenddessen? Wie kamen sie in ihren Beruf und was haben sie dort erlebt? In Protokollen fängt Frédéric Valin die unterschiedlichen Lebensläufe, Motive und Erfahrungen jener Menschen ein, die sich kümmern: Altenpfleger:innen, Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen, Hospizmitarbeiter:innen, Geflüchtetenhelfer:innen. Dabei entsteht ein aufschlussreiches, sehr persönliches und berührendes Bild jener Berufe; von den Aufgaben, Herausforderungen und Belastungen. Geschichten aus jenen Bereichen, vor denen die Gesellschaft allzu oft die Augen verschließt.

Frédéric Valin, geboren 1982 in Wangen im Allgäu, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Dort studierte er Deutsche Literatur und Romanistik, bevor er begann, als Pflegekraft, Autor und Kulturveranstalter seinen Unterhalt zu verdienen. Im Verbrecher Verlag erschienen: 'Pflegeprotokolle', 'Zidane schweigt. Die Àquipe Tricolore, der Aufstieg des Front National und die Spaltung der französischen Gesellschaft', Essay, und die Erzählungsbände 'In kleinen Städten' und 'Randgruppenmitglied'.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextWie geht es der Pflege, wie den Care-Berufen? Wie ging es den Menschen vor der Pandemie, wie währenddessen? Wie kamen sie in ihren Beruf und was haben sie dort erlebt? In Protokollen fängt Frédéric Valin die unterschiedlichen Lebensläufe, Motive und Erfahrungen jener Menschen ein, die sich kümmern: Altenpfleger:innen, Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen, Hospizmitarbeiter:innen, Geflüchtetenhelfer:innen. Dabei entsteht ein aufschlussreiches, sehr persönliches und berührendes Bild jener Berufe; von den Aufgaben, Herausforderungen und Belastungen. Geschichten aus jenen Bereichen, vor denen die Gesellschaft allzu oft die Augen verschließt.

Frédéric Valin, geboren 1982 in Wangen im Allgäu, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Dort studierte er Deutsche Literatur und Romanistik, bevor er begann, als Pflegekraft, Autor und Kulturveranstalter seinen Unterhalt zu verdienen. Im Verbrecher Verlag erschienen: 'Pflegeprotokolle', 'Zidane schweigt. Die Àquipe Tricolore, der Aufstieg des Front National und die Spaltung der französischen Gesellschaft', Essay, und die Erzählungsbände 'In kleinen Städten' und 'Randgruppenmitglied'.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783957325105
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum28.10.2021
Auflage1. Auflage
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse390 Kbytes
Artikel-Nr.8237103
Rubriken
Genre9201
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Inhalt/Kritik

Leseprobe

LUDWIG

Ludwig ist pädagogische Fachkraft, er hat einen Bachelor in Erziehungswissenschaften. Er arbeitet in einer stationären Wohneinrichtung mit psychiatrischem Schwerpunkt.

Ich bin jetzt Mitte 30, hab Erziehungswissenschaften studiert. Da gab es einen starken Fokus auf Betriebsarbeit, Coaching von Mitarbeitern, Diversity-Management in Unternehmen und all so ein Quatsch. Ich habe mich aber dazu entschlossen, das trotzdem fertig zu machen.

Nebenbei hab ich schon in Werkstätten für Behinderte gearbeitet. Wenn die Mitarbeiter dort Feierabend hatten, war ich für eine Art Freizeitprogramm zuständig. Dann hab ich wen kennengelernt, der in einem Heim in Bayern arbeitet, wo ich jetzt auch bin, 30 Stunden die Woche. Ich bin da inzwischen seit ungefähr fünfeinhalb Jahren.

Ich wohne so 30 Kilometer entfernt in der Stadt, das ist ganz praktisch, weil ich eine gute Trennung habe von Freizeit und Beruf, durch diese räumliche Distanz. Bei anderen Kollegen, die hier in der Beratungsstelle arbeiten zum Beispiel, die gehen einkaufen und treffen dabei sozusagen ihre Arbeit. Das wäre mir zu anstrengend.

Unsere Einrichtung ist im Zweiten Weltkrieg gebaut worden, wahrscheinlich als Landverschickungswohnheim. Es ist nicht so ganz klar, was die da gemacht haben, da ist viel Schweigen. Nach dem Krieg hat ein Träger das Haus bekommen und ein Kinderheim draus gemacht, später wurden dort vorwiegend ältere Menschen mit psychischen Erkrankungen untergebracht. Am Anfang war das recht klassisch: Feldarbeit, den Bauern aus dem Dorf helfen bei der Selbstversorgung. Das ging ungefähr bis vor zehn Jahren. Es war ein kleines Haus mit 20 Leuten, die hier betreut wurden, und wie man so hört, wurde ein striktes Regiment geführt. Irgendwann wurde das kleine Haus abgerissen und eine größere Einrichtung mit 32 Betten in einem Wohnheim und 20 Betten in der Pflegegruppe hingestellt. Das ist kein großer Klotz, sondern einigermaßen clever gebaut.

Die Bewohner und Bewohnerinnen dort leben in Wohngruppen, mit bis zu acht Menschen. Eine der Gruppen ist geschlossen, das heißt die Leute sind faktisch eingesperrt. Ich habe einen Schlüssel und kann sie rauslassen.

Diejenigen, die dort wohnen, sind größtenteils Menschen, die wenig Geld haben. Der Wohnkomfort ist gering, es gibt Gemeinschaftstoiletten, jede Gruppe hat ein Doppelzimmer. Finde ich uncool, Leute in einem Doppelzimmer wohnen zu lassen. Bei manchen ist es glücklich, wir haben Geschwister, die wohnen gern zusammen, aber das ist die Ausnahme.

Es gibt teilweise Bewohner, die sind hier seit Jahrzehnten, eine wohnt hier schon seit 40 Jahren. Ich würde sagen, ein Drittel lebt schon seit zehn bis 20 Jahren da, zwei Drittel der Leute sind neu dazugekommen. Das Heim ist verschrien als Endstation. Beispielsweise - eine Bekannte von mir arbeitet in einem Bezirkskrankenhaus und meinte mal über einen Patienten: »Vielleicht könnte man den da in dem Heim unterbringen.« Und da meinte der Sozialarbeiter mit langjähriger Erfahrung: »So weit ist es noch nicht.« Bei uns sind also größtenteils Menschen, die langjährige Psychiatrieerfahrung haben, dadurch teilweise stark traumatisiert sind. Eine der Bewohnerinnen hat über 150 Aufenthalte in der Psychiatrie hinter sich. Die erzählt richtig üble Geschichten »von früher«. Wenn man Stress gemacht hat in den 90ern, war das noch so: Heizkörper, Handschellen, fertig. Es gibt auch einen, der kommt aus einem anderen Wohnheim, der ist dort rausgeflogen. Die hatten eine Kammer, in die sie eingesperrt wurden, die nannten das ganz nett »Panikraum«.

Bei vielen merkt man, was mit den Leuten gemacht wurde in früherer Zeit bei Not- und Problemlagen: ans Bett fesseln, in die Kammer sperren, nicht adäquat reagieren und Hilfe bringen, sondern Polizei, Handschellen, Psychiatrie. Das ist oft nicht schön abgelaufen, auch weil die Leute hier oft multimorbid sind, also eine geistige Behinderung oder eine Intelligenzminderung haben mit einer psychischen Erkrankung gemischt.

Das Alter geht von Ende 30 bis fast 80 Jahre. Es wird ein Gesamtplanverfahren gemacht, die Leute gelten irgendwann als behindert, halt vorwiegend aufgrund der chronischen psychischen Erkrankung, die ihnen angedichtet wird. Ich finde das schwierig. Wenn ein Hausarzt die Überweisung für die Psychiatrische ausschreibt, steht bei 30 Prozent einfach Schizophrenie drauf. Und wenn man die dann sieht, merkt man halt: Okay, das hat auf jeden Fall individuell ganz andere Auswirkungen für die Einzelnen. Die Diagnose hilft den Betroffenen nicht immer.

Die Leute sind auch einfach sehr unterschiedlich. Jemand, der ganz viele böse Stimmen gehört hat in seinem Leben, sich deswegen in den Kopf geschossen und überlebt hat und jetzt Folgeerscheinungen hat. Oder ein anderer, der einfach sehr, sehr viele verschiedene Drogen genommen hat und jetzt beim Duschen nicht mehr die Reihenfolge von Wasser, Shampoo, Wasser, Handtuch, Kleidung hinbekommt. Es sind sehr unterschiedliche Krankheitsbilder. Bei den allermeisten ist es so, dass sie sehr lange in der Psychiatrie waren. Dann gelten die irgendwann als austherapiert.

Bei uns gibts schon einen subtilen Arbeitszwang. Was tun zu müssen, schwingt immer mit. Ungefähr ein Viertel der Menschen hier geht in eine Werkstatt, einer hat einen Außenarbeitsplatz bei einer richtigen Firma. Die anderen können in die Holzwerkstatt gehen, da wird gebastelt und so, und es gibt einen zweiten Raum, da gibt es ein Arbeitsangebot einer Elektrofirma. Da heißt es: »Hier sind 300 grüne Lampen, 300 rote und 300 gelbe, und jetzt macht ihr 10 grüne, 10 gelbe und 10 rote in eine Tüte und dann tackert ihr die zu, dann immer 100 Stück in einen Karton, und dann wird der Karton zugemacht, und immer zehn Kartons mit hundert Stück in einen größeren Karton. Und dann schickt ihr uns das zurück.« Da wird schon so eine Art Arbeitsleben simuliert, aber auf sehr reduzierter Ebene. Also: eine Dreiviertelstunde Arbeit, dann eine halbe Stunde Pause, und nochmal eine Dreiviertelstunde Arbeit und danach gibts Mittag.

Teilweise helfen die Leute im hauswirtschaftlichen Bereich und putzen oder gießen im Garten die Rosen oder mähen den Rasen. Aber es gibt Leute, bei denen halt gesagt wird: »Der ist jetzt 68 Jahre alt. Er hat sein Leben lang als Koch gearbeitet, jetzt ist er sehr depressiv, und wenn er gerade nicht arbeiten kann, kann er nicht arbeiten. Wenn er jeden Mittag den Essenswagen vom anderen Ende der Einrichtung holt, dann ist schon viel gemacht und es ist cool, dass er es macht. Und dann schaun wir mal, ob er noch ein bisschen mehr machen will.« Aber er wird glücklicherweise nicht mehr gezwungen Elektroteile zu sortieren, zum Beispiel.

Es wurde auch schon versucht, Leute bei der Gemeinde unterzubringen. Aber das Klientel ist größtenteils zu schwach, als dass man sagen könnte: »Du läufst mit den Mitarbeitern vom Bauhof mit und streichst die Bushaltestelle im Ort.« Das wäre nur mit einem Aufwand möglich, den sich die Gesellschaft nicht leisten kann beziehungsweise will. Es gibt einfach zu wenig Betreuungspersonal und Wille und Geld und Möglichkeiten, geeignete Arbeitsplätze zu schaffen. Wenn die Leute hier sind mit Mitte 50, ist es utopisch, wieder auf den Ersten Arbeitsmarkt nach jahrelanger Abwesenheit zu gelangen. Teilweise sind die Menschen auch stark hospitalisiert, da wieder in ein Leben in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, ist sehr schwer.

Das Ziel ist immer, die Bewohner wieder zurück in die Gesellschaft einzugliedern. Das ist bei allen Maßnahmen so, wenn man noch nicht in der Pflege ist. Man muss den gleichen Integrations-Fragebogen ausfüllen, ob die Person jetzt 80 Jahre alt ist oder Ende 30. Im Endeffekt, wenn die Heimaufsicht vom Landratsamt vorbeikommt, machen die uns kaum Stress, obwohl in den letzten zehn Jahren wenig Leute von dem Wohnheim weg in offenere Wohnformen gewechselt sind. Das wäre eigentlich der gedachte Weg. Aber ich hab vor zwei Jahren mal gekuckt, da gab es in diesem Regierungsbezirk keine Strukturen für Antragstellende. Größtenteils ist dieses Angebot in dieser Region nicht angekommen, zumindest nicht für dieses Klientel. Und so wird es auch wenig von staatlichen Stellen oder Wohlfahrtsorganisationen angeboten.

Was es tatsächlich noch gibt, ist Wohnen in Gastfamilien, aber das ist den meisten Leuten unangenehm. Es gelingt nur in sehr seltenen Fällen, jemanden rauszuvermitteln.

Wir sind eine stationäre Wohnform, bei uns sind 24 Stunden am Tag betreuende Menschen da und wach. Und wenn Leute mitten in der Nacht kommen und sagen: »Ich habe Angst, dass die Polizei kommt und mich verhaftet, dass ich hier rausgeschmissen werde, dass ich ins Krankenhaus muss«, dann ist wer da, um sie zu beruhigen.

Eigentlich sollen wir vermitteln. Aber potenziell läuft es genau andersherum. Die Leute schaffen es in anderen Bereichen nicht mehr, kommen zu uns und haben dann eine Art Sicherheit, dass sie in diesem Wohnheim bleiben können. Dass sie nicht mehr rausfliegen und sich ihren Lebensmittelpunkt aufbauen können.

Leute mit Geld sind eher nicht im Wohnheim, weil das sehr stark auf diese staatlichen Hilfen zentriert...
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Autor

Frédéric Valin, geboren 1982 in Wangen im Allgäu, lebt seit einigen Jahren in Berlin. Dort studierte er Deutsche Literatur und Romanistik, bevor er begann, als Pflegekraft, Autor und Kulturveranstalter seinen Unterhalt zu verdienen.

Im Verbrecher Verlag erschienen: "Pflegeprotokolle", "Zidane schweigt. Die Àquipe Tricolore, der Aufstieg des Front National und die Spaltung der französischen Gesellschaft", Essay, und die Erzählungsbände "In kleinen Städten" und "Randgruppenmitglied".

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt