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Ein Moment der Unachtsamkeit

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
560 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am09.05.2022
Besondere Autor*innen, besondere Geschichten: btb SELECTION - Ausgezeichnet. Ungewöhnlich. Erstklassig.
Cora Salme ist leidenschaftliche Fotografin und träumt davon, dies zu ihrem Beruf zu machen. Aber eine freiberufliche Existenz ist unsicher. Und so tritt sie in die Marketingabteilung einer Pariser Versicherungsgesellschaft ein. Alles geht für eine Weile gut. Als sie nach der Geburt ihrer Tochter jedoch wieder ins Unternehmen zurückkehrt, weht dort ein eisiger Wind. Auf den Fluren ist von Umstrukturierung und Kostenoptimierung die Rede, das Management wird immer aggressiver, der Druck auf Cora wächst. Ständig hat sie das Gefühl zu versagen - bei der Arbeit und Zuhause. Bringt sie sich wirklich nicht genug im Job ein? Vernachlässigt sie Mann und Kind? Cora fühlt sich immer mehr in die Enge getrieben. Und begeht an einem heißen Junitag, am Rande des Burnouts, einen unverzeihlichen Fehler.

Vincent Message, 1983 in Paris geboren, gilt als eine der interessantesten literarischen Stimmen Frankreichs. Für seine ersten beiden Romane »Les Veilleurs« und »Défaite des maîtres et possesseurs« wurde er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Für sein jüngstes Buch »Ein Moment der Unachtsamkeit« wird er sogar mit Balzac und Zola verglichen. Im Zentrum von Vincent Messages literarischem Schaffen steht die Frage nach dem sozialen Ungleichgewicht unserer Gesellschaft und dem unerbittlichen Druck auf den Einzelnen. Nach längeren Aufenthalten in Berlin und New York lebt er wieder in Paris und unterrichtet Literaturwissenschaft an der Universität Paris VIII.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextBesondere Autor*innen, besondere Geschichten: btb SELECTION - Ausgezeichnet. Ungewöhnlich. Erstklassig.
Cora Salme ist leidenschaftliche Fotografin und träumt davon, dies zu ihrem Beruf zu machen. Aber eine freiberufliche Existenz ist unsicher. Und so tritt sie in die Marketingabteilung einer Pariser Versicherungsgesellschaft ein. Alles geht für eine Weile gut. Als sie nach der Geburt ihrer Tochter jedoch wieder ins Unternehmen zurückkehrt, weht dort ein eisiger Wind. Auf den Fluren ist von Umstrukturierung und Kostenoptimierung die Rede, das Management wird immer aggressiver, der Druck auf Cora wächst. Ständig hat sie das Gefühl zu versagen - bei der Arbeit und Zuhause. Bringt sie sich wirklich nicht genug im Job ein? Vernachlässigt sie Mann und Kind? Cora fühlt sich immer mehr in die Enge getrieben. Und begeht an einem heißen Junitag, am Rande des Burnouts, einen unverzeihlichen Fehler.

Vincent Message, 1983 in Paris geboren, gilt als eine der interessantesten literarischen Stimmen Frankreichs. Für seine ersten beiden Romane »Les Veilleurs« und »Défaite des maîtres et possesseurs« wurde er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Für sein jüngstes Buch »Ein Moment der Unachtsamkeit« wird er sogar mit Balzac und Zola verglichen. Im Zentrum von Vincent Messages literarischem Schaffen steht die Frage nach dem sozialen Ungleichgewicht unserer Gesellschaft und dem unerbittlichen Druck auf den Einzelnen. Nach längeren Aufenthalten in Berlin und New York lebt er wieder in Paris und unterrichtet Literaturwissenschaft an der Universität Paris VIII.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641260286
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum09.05.2022
Seiten560 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1648 Kbytes
Artikel-Nr.8381051
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



I
Personen im Tunnel

Seit zwei- oder dreihunderttausend Jahren spazierte unsere Spezies schon über den Erdball, als Cora Salme eines Morgens um Punkt halb acht die blau-weiß gekachelten Gänge der Pariser Métro mit völlig neuen Augen sah. Sie trug ihre eleganteste Jacke und schlenderte in einer Leinenhose und Ballerinas den Bahnsteig entlang, im Zickzack zwischen wartenden Schatten hindurch, die genau wie sie dem Herbst noch trotzen wollten. Sie betrachtete die ebenso gekachelten Bänke entlang der Wände, den dicken Bauch des Gewölbes, sein funkelndes Schuppenkleid oben über den gefährlichen Gleisen und fand das alles recht schön. Beinahe ihr ganzes Leben hatte sie in Paris verbracht und war die Métro derart gewohnt, dass sie sie gar nicht mehr wahrnahm. Erst nach dem Sommer, als die heitere Frau, die während der Ferien aus ihr geworden war, plötzlich an ihren üblichen Platz zurückmusste, fielen ihr diese Dinge wieder auf. Diesmal hatte sie sich dank Elternzeit noch länger aus dem ewigen Arbeitstrott ausklinken können. Sie vergaß bisweilen sogar, welcher Wochentag es war, und ließ die Leute zu sich kommen, statt zu ihnen hinzuhetzen. Vielleicht sollte sie diesen vergänglichen Augenblick nutzen und die Welt in sich aufnehmen. Das war schlauer, als sich ständig zu sagen, dass der Wiedereinstieg nach so langer Zeit hart werden würde.

Da standen überall Leute um sie herum. Positionierten sich so auf dem Bahnsteig, dass sie möglichst schnell würden einsteigen können. Sie waren aufgestanden, hatten geduscht oder sich wenigstens kurz gewaschen, hatten gefrühstückt oder zumindest einen Tee oder Kaffee hinuntergestürzt und sich mit noch schläfrig-fahrigen Bewegungen vor dem Spiegel ausreichend zurechtgemacht, um unter Leute gehen zu können. Sie hatten Kleider ausgesucht, die sie dickhäutiger aussehen ließen, als sie sich in Wahrheit fühlten. Und so standen sie am Bahnsteig aufgereiht, richteten den Blick in den Tunnel, aus dem der Zug kommen würde, oder ließen ihre Netzhaut die auf der gegenüberliegenden Seite gezeigten Bilder aufnehmen, Herbstjacken, Urlaubsangebote in der Nebensaison für kinderlose Paare, Schulranzen, die nicht nur robust, sondern auch kostengünstig und ausreichend modisch waren, um den sozialen Frieden nicht zu gefährden. Fast alle befanden sie sich auf dem Weg zur Arbeit, nachdem das Verlangen, sich nützlich zu machen und an ihren Projekten weiterzuarbeiten, beziehungsweise die hartnäckige Not, irgendwie das Überleben sichern zu müssen, sie aus dem Bett geholt hatte. Seltsam, dass Cora sich daran gewöhnt hatte, das alles banal zu finden.

Beim Einsteigen sagte sie sich, dass auch sie nun wieder arbeite, dass auch sie wieder an Bord sei. Im selben Kahn, zurück in der Mannschaft. »Das neue Leben«, murmelte sie, »das neue Leben beginnt.« Im Gedränge wunderte sie sich, dass ihr Körper so dünn und wendig war. Immer wieder hielt sie sich reflexhaft eine Hand fünfzehn Zentimeter vor den Bauch, dorthin, wo vor drei Monaten die Haut gespannt hatte und unglaublich empfindlich gewesen war; vor diesen Bauch, der wieder verschwunden war, gerade als sie ihn als einen Teil ihrer selbst anerkannt hatte. Erstaunt darüber, dass Manon nicht mehr darin ist, fragte sie sich in einem Anflug von Panik, wo bloß das Kind nun sei, bevor ihr die Realität wieder bewusst wurde: Manon schlief in ihrem Bettchen, behütet vom Krokodil und von der Katzenspieluhr, die ihr in ihrem unruhigen Schlaf beide möglichst nahe sein mussten; oder sie war mit Pierre irgendwo unterwegs, oder bei den Großeltern, oder bei ihrer Tagesmutter Silué, wie es ab heute Normalität sein würde, nachdem Cora Silué in der letzten Woche die Betreuung schrittweise überantwortet hatte, zunächst besorgt und eifersüchtig, nach einigen Tagen aber in dem ruhigen Wissen, dass - wenngleich Manon ihr fehlte - die beiden ein gutes Team waren. Ungeachtet ihrer eigenen rasanten Fortschritte in der Säuglingspflege hatte sie fasziniert beobachtet, wie Silué die Kleine mit sicheren, einfachen Bewegungen mit Wasser besprenkelte, wie sie die Betrübnis aus ihrem Gesicht weichen und das zahnlose Lächeln wieder erstrahlen ließ, wie sie auch noch die letzte Falte des kleinen zarten Körpers reinigte, wie sie sie mit wenigen Handbewegungen abtrocknete oder ihre Fäustchen öffnete, um die Nägel zu schneiden und zu verhindern, dass sie sich - ihre neueste Spezialität - mit ihren winzigen Krallen selbst zusetzte.

Da stand Cora mit ausgestrecktem Arm, hielt sich an der Metallstange fest, spürte die zunehmende Schwere ihrer Beine und schaute nach einem freien Sitzplatz. Sie fragte sich, ob sie wohl ihren Status als kürzlich noch Schwangere geltend machen könne, aber ihr Bauch war schon wieder recht flach und sie wäre in Verlegenheit gekommen, hätte sie weitere Beweise liefern sollen, was man bestimmt von ihr verlangt hätte. Fraglos hätten sich, wenn sie nur säße, die Kreislaufprobleme schnell erledigt, doch wären andere Probleme aufgetreten. Man sieht es nicht, hätte sie den Leuten gern gesagt, aber wissen Sie, in meinem Körper geht immer noch alles drunter und drüber. Nach drei Monaten hat der Schmerz am Steißbein nachgelassen, aber ich wollte auch keinen Kaiserschnitt, deshalb bereue ich nichts - nur wenn es wieder wehtut, ist es schrecklich, das können Sie mir glauben. Im Weiteren hätte sie ihnen hinter vorgehaltener Hand anvertraut, sie hoffe, dass alles sich wieder einrenke, dass das Gewebe sich beruhige und auch die Libido zurückkehre, denn der Sex fühle sich anders an als zuvor.

Zu Beginn der Schwangerschaft hatte sie es nicht gewagt, auf ihren Zustand hinzuweisen, teils aus Sorge, dass man sie für eine Lügnerin hielte, teils weil sie sich sehr überwinden musste, Unbekannte anzusprechen, umso mehr, da es ja darum ging, diese um einen Gefallen zu bitten. In den folgenden Monaten war sie je nach Stimmungslage verärgert, belustigt, verblüfft darüber, wie viele Fahrgäste vorgaben, ihren Bauch nicht zu sehen. Erst ganz am Ende, als sie für die anderen wie für sich selbst schon unerträglich viel Platz in Anspruch nahm und von einer Jury aus einzig und allein Pierre Esterel mit Spitznamen wie Big Belly und Weißer Wal betitelt worden war, standen einige Leute von sich aus auf - Frauen, weil sie sich daran erinnerten oder sich ausmalten, wie es sein musste, und Männer, um in ihrem Blick etwas Anerkennung oder die Bestätigung aufblinken zu sehen, dass sie ein guter Kerl waren, einer, mit dem eine Frau, hätte sie sich nicht aus Schwäche anderweitig gebunden, am liebsten sofort in die Kiste gesprungen wäre. Im Austausch mit ihrer Mutter und ihren Freundinnen, der sich, ob sie wollte oder nicht, in ihrem Kopf weiterspann, sagte Cora sich manchmal, dass es gar nicht schlecht sei, als Frau im Paris des 21. Jahrhunderts zu leben, da es in der Menschheitsgeschichte wenige Orte und Zeiten gegeben habe, wo die Frauen über so große Entscheidungsfreiheit verfügten, auch wenn sie täglich und in jeder Faser ihres Körpers spürte, dass das Frausein weiterhin sehr beschwerlich und aufreibend war, und sich in dunklen Stunden leicht einreden konnte, dass sie mit allem scheitern werde.

Am Morgen war die Métro bekannt für düstere Mienen und eine vom Rattern des Zugs rhythmisierte Stille, die nur durch die automatisierten Ansagen unterbrochen wurde. Im Normalbetrieb fühlte Cora sich jedoch keineswegs in feindlicher Umgebung. Unter ihren schützenden Kopfhörern, wo die Musik eine schwer einzuschätzende Wirkung tat, vertieft in ein Buch oder den Strom ihrer Gedanken, schoben die Mitpassagiere eine Anstrengung auf, der sie sich nicht mehr lange würden entziehen können. In wenigen Minuten würden sie reden, lächeln, überzeugen, effizient sein müssen. Genötigt, das soziale Tier zu geben - schlimmer noch, den Homo oeconomicus. Es wäre unvernünftig gewesen, vorab Energie zu vergeuden, indem man eine Unterhaltung mit Unbekannten riskierte, die sich garantiert als lästig oder absonderlich herausstellten. Im Übrigen hielt das die Mitreisenden mitnichten vom Kommunizieren ab, also davon, die unendlichen Gespräche mit ihren Nächsten in andauernder Tipperei weiterzuführen: Der Sitznachbar, den Cora im Viererabteil zu ihrer Rechten hatte, versuchte beispielsweise, die Wogen eines morgendlichen Streits zu glätten - vergiss, was ich gesagt habe, so denke ich nicht, wirklich nicht -, um sich dann innerlich ausgeglichen anderen Aufgaben widmen zu können.

Cora schlug ihre Zeitung auf. Und vergewisserte sich unter Seitenrascheln - wobei die Druckerschwärze auf ihre Finger abfärbte -, ob darin die vorgeschriebene Verhältnismäßigkeit zwischen der Vielzahl beunruhigender und der Handvoll hoffnungsvoller Meldungen gewahrt wurde. Die Welt, behauptete der Leitartikel ohne Umschweife, ja, die Welt werde immer komplexer. Insbesondere Frankreich steuere auf eine schwere strukturelle Krise zu, man möge doch endlich aufwachen. Trotz seiner Kürze listete der Artikel eine ganze Reihe von Niedergangssymptomen und spezifisch französischen Missständen auf. Cora blickte sich immer wieder um, ihr Puls hatte sich beschleunigt. Sie wusste nie so recht, was von solchen Texten, die alte Zeiten glorifizierten und das Gras auf der anderen Seite des Atlantiks, des Ärmelkanals oder des Rheins als stets grüner beschrieben, zu halten war. Und sie fragte sich, ob die Selbstsicherheit, mit der die Kommentatoren ihre Voraussagen trafen, womöglich aus der Gewissheit erwuchs, dass ihre Aussagen von vor zehn Jahren längst vergessen waren und ihre aktuellen Prognosen in zehn Jahren auch nicht mehr gelesen würden, genauso, wie sie gewiss sein konnten, dass ihre Artikel wohl kaum in die Hände von Lesern in ärmeren...

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Autor

Vincent Message, 1983 in Paris geboren, gilt als eine der interessantesten literarischen Stimmen Frankreichs. Für seine ersten beiden Romane »Les Veilleurs« und »Défaite des maîtres et possesseurs« wurde er mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Für sein jüngstes Buch »Ein Moment der Unachtsamkeit« wird er sogar mit Balzac und Zola verglichen. Im Zentrum von Vincent Messages literarischem Schaffen steht die Frage nach dem sozialen Ungleichgewicht unserer Gesellschaft und dem unerbittlichen Druck auf den Einzelnen. Nach längeren Aufenthalten in Berlin und New York lebt er wieder in Paris und unterrichtet Literaturwissenschaft an der Universität Paris VIII.