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Die schweigsamen Affen der Dinge

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am10.03.20221. Auflage
Ein Roman über Klassenschranken, den Aufstieg durch Bildung, das Ruhrgebiet und die rettende Kraft des Lesens. Henning hat es geschafft - als Arbeiterkind im grauen Ruhrgebiet der 70er Jahre aufgewachsen, hat er sich früh für Literatur begeistert, erfolgreich studiert, ist nach Berlin gezogen und hat sich als Journalist und Literaturkenner in den Kreisen der Bohème und der Gebildeten einen Namen gemacht. Seine Herkunft bleibt ein Makel, den es zu überdecken gilt. Als sein Vater Walter an den Folgen einer Krebserkrankung stirbt, spürt Henning keine Trauer: Das Verhältnis der beiden war distanziert, der eigene Vater war für ihn ein Fremder ohne jegliche Ambitionen, die einengenden Grenzen der Arbeiterschicht und des Ruhrgebiets aufzubrechen. Auf der Beerdigung in Recklinghausen sieht Henning Jochen wieder, einen alten Jugendfreund des Vaters. Dieser erzählt ihm von der ersten weiten Reise der beiden: als Neunzehnjährige mit dem Moped durch Korsika. Walter schien damals ein anderer Mensch gewesen zu sein: lebenshungrig, voller Pläne und Träume. Statt seinen Aufsatz über Oskar Loerke zu Ende zu schreiben, beschließt Henning, diese Reise mit Jochen zu wiederholen, und muss feststellen, dass seine Vorstellung vom anspruchslosen, stumpfen Vater nicht ganz der Wahrheit entspricht ...

Hilmar Klute ist Streiflicht-Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Er hat einige Bücher veröffentlicht, darunter den zeitkritischen Essay Wir Ausgebrannten (2012). 2015 erschien bei Galiani seine »ebenso kluge wie gründliche und liebevolle« (FAZ) Ringelnatz-Biografie War einmal ein Bumerang. Sein literarischer Debütroman Was dann nachher so schön fliegt erschien 2018 und wurde von der Presse hochgelobt; 2020 folgte der Roman Oberkampf. Hilmar Klute lebt in Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
HörbuchCD-ROM
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextEin Roman über Klassenschranken, den Aufstieg durch Bildung, das Ruhrgebiet und die rettende Kraft des Lesens. Henning hat es geschafft - als Arbeiterkind im grauen Ruhrgebiet der 70er Jahre aufgewachsen, hat er sich früh für Literatur begeistert, erfolgreich studiert, ist nach Berlin gezogen und hat sich als Journalist und Literaturkenner in den Kreisen der Bohème und der Gebildeten einen Namen gemacht. Seine Herkunft bleibt ein Makel, den es zu überdecken gilt. Als sein Vater Walter an den Folgen einer Krebserkrankung stirbt, spürt Henning keine Trauer: Das Verhältnis der beiden war distanziert, der eigene Vater war für ihn ein Fremder ohne jegliche Ambitionen, die einengenden Grenzen der Arbeiterschicht und des Ruhrgebiets aufzubrechen. Auf der Beerdigung in Recklinghausen sieht Henning Jochen wieder, einen alten Jugendfreund des Vaters. Dieser erzählt ihm von der ersten weiten Reise der beiden: als Neunzehnjährige mit dem Moped durch Korsika. Walter schien damals ein anderer Mensch gewesen zu sein: lebenshungrig, voller Pläne und Träume. Statt seinen Aufsatz über Oskar Loerke zu Ende zu schreiben, beschließt Henning, diese Reise mit Jochen zu wiederholen, und muss feststellen, dass seine Vorstellung vom anspruchslosen, stumpfen Vater nicht ganz der Wahrheit entspricht ...

Hilmar Klute ist Streiflicht-Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Er hat einige Bücher veröffentlicht, darunter den zeitkritischen Essay Wir Ausgebrannten (2012). 2015 erschien bei Galiani seine »ebenso kluge wie gründliche und liebevolle« (FAZ) Ringelnatz-Biografie War einmal ein Bumerang. Sein literarischer Debütroman Was dann nachher so schön fliegt erschien 2018 und wurde von der Presse hochgelobt; 2020 folgte der Roman Oberkampf. Hilmar Klute lebt in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462304299
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum10.03.2022
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1644 Kbytes
Artikel-Nr.8382208
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis 2

In den vergangenen Monaten hatte sein Vater ihn immer wieder um Besuche gebeten. Beim ersten Mal war es allerdings Rita gewesen, die eines Nachmittags anrief und ihm mit tränenerstickter Stimme bedeutet hatte, dass es seinem Vater schlecht gehe und Henning ihn jetzt aufsuchen müsse, sofern er ihn noch einmal sehen wollte. Henning hatte bei diesem ersten dringlichen Anruf an die Geschichte ihrer beider Fremdheit gedacht; an die Sprachlosigkeit, die zwischen seinem Vater und ihm von Anbeginn geherrscht hatte. Oft war Henning bis zur Erschütterung verblüfft darüber, dass es nichts gab, was ihn mit seinem Vater in Einklang brachte. Wenn sein Vater anrief, alle drei Monate, dann wohl nur aus dem Gefühl heraus, zur Kontaktpflege in irgendeiner Weise verpflichtet zu sein; Henning stellte sich dann widerwillig auf ein Gespräch ein, das keines war. Es ging ums Wetter, um Kollegen und Bierkumpanen, mit denen Henning nichts verbinden konnte. Namen, die sein Vater nicht mit Charakteren belebte, hingefaselte Alltagsbanalitäten, deren Zumutbarkeit abzuwägen sein Vater nicht die geringste Mühe aufwendete. Sobald Henning von seinen Belangen erzählte, den Artikeln, die er für Zeitungen schrieb, den Vorträgen, die er gelegentlich zu kulturellen und gesellschaftlichen Themen halten durfte, hörte sein Vater zwar zu, stellte aber keine Fragen. Am Ende sagte er dann: »Bei mir gibt´s auch nichts Besonderes.« Henning hätte ebenso gut mit der Wand reden können.

»Ich werde mich morgen in den Zug setzen«, hatte er Rita an diesem Tag versprochen, und war am folgenden Morgen in die kleine westfälische Stadt gereist, wo Rita ihn vom Bahnhof abholte. Rita tat sich schwer mit dem Autofahren, weil sein Vater stets darauf bestanden hatte, selbst am Steuer zu sitzen. Er hatte Rita zur lebenslangen Beifahrerschaft verurteilt, dachte Henning, und nun, da er selbst nicht mehr Auto fahren konnte, musste sie sich mühsam mit der Karre abquälen. Aber Rita schlug sich tapfer durch den Verkehr, sie ließ sich von ungeduldigen Audifahrern anhupen, überwand ihre Furcht vor dem Kreisel und scherte schließlich erleichtert in die kleine Parkbucht vorm Haus ein.

»Heute geht es ihm erstaunlich gut, das hättest du nicht geglaubt, wenn du ihn gestern gesehen hättest«, sagte Rita, und es klang, als wollte sie sich für ihren Alarmismus am Tag zuvor entschuldigen. Die beiden wohnten seit beinahe zwanzig Jahren an einer stark befahrenen Straße am südlichen Stadtrand, in einem lieblos geklinkerten Mehrfamilienhaus mit einer Pizzeria im Erdgeschoss. Sie unterhielten ein herzliches Verhältnis zum Wirt, gingen einmal die Woche essen und seit Hennings Vater nur noch mit Mühen laufen konnte, brachte der Wirt ihnen sogar hin und wieder eine Mahlzeit in die Wohnung.

Als Henning das Wohnzimmer betrat, richtete sich sein Vater sofort auf, es kostete ihn Mühe, seinen Körper dergestalt zu drehen, dass er auf dem Sofa sitzen konnte. »Bleib doch liegen, Walter, was machst du denn?«, rief ihm Rita zu, so als sei sein Vater im Begriff, eine ungefährliche Position gegen eine hochriskante einzutauschen. Dabei hatte er sich nur hingesetzt. Henning umarmte ihn, das war eine Geste, die sie erst seit kurzem eingeführt hatten, vielleicht, weil sie spürten, dass sich eine natürliche Nähe zwischen ihnen nicht mehr einstellen würde. Das Umarmen war eine gelernte Technik, aus seiner Kindheit kannte er es nicht. Niemals hatten seine Eltern Freunde umarmt, nie hatte er diese Herzlichkeit bei seinen Großeltern sehen können. Man gab sich die Hand, das war die solide, zu keinem Gefühl verpflichtende Übereinkunft zwischen den Verwandten. Sein Vater benutzte jetzt einen Rollator für kurze Gänge zur Toilette oder in die Küche. Das rechte Bein war nicht mehr zu gebrauchen, der Tumor hatte sich direkt ins Kniegelenk gelegt, wie eine Wegfahrsperre, dachte Henning und musste plötzlich an eine dramatische Geschichte von früher denken, als seine Eltern mit ihm Sonntagsausflüge unternommen hatten, deren Freudlosigkeit ihm als einzig bemerkenswerte Erinnerung geblieben war. Auf der Fahrt nach Hause geschah etwas mit der Lenkung des Autos, sie schien nicht mehr zu greifen und das Lenkrad drehte sich wie bei einem Spielzeugauto ohne Widerstand. Seine Mutter begann, seinen Vater zu beschimpfen, wüst und ohne Maß, so wie immer, wenn die aus steter Unzufriedenheit und stillem Hass gebraute Suppe überkochte. Henning sah wieder die Schweißperlen auf der Stirn seines Vaters und er erinnerte sich, wie auch er, ein verzweifeltes, vom Hass der Eltern hin- und hergeschütteltes Kind, in das Gekeife eingestimmt und seinen Vater, der erfolglos am durchdrehenden Steuerrad hantierte, sogar als Schwein tituliert hatte.

Ob sein Vater sich an diese Szene von Zeit zu Zeit erinnerte? Oder hatte er alles, was damals geschehen war, alles, was er unternommen und vor allem unterlassen hatte, aus seinem Gedächtnis geräumt wie Sperrmüll?

Bevor er die Reise zu seinem Vater antrat, hatte ihn Annette eindringlich gebeten, mit ihm, dem Sterbenden, über früher zu reden. Henning war verstimmt über diesen Ratschlag, der aus dem Arsenal der Glücklichen stammte, die in klugen und liebevollen Elternhäusern aufgewachsen sind, in denen Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten als Geschenk oder jedenfalls als Ausweis von Lebendigkeit und Fortschritt begriffen werden. Bei ihnen war jeder Streit ein Vernichtungskrieg gewesen, ein Anlass zu grundsätzlicher Abrechnung und immer auch ein gefährlicher Anreiz zur Gewalt. Jedes Mal, wenn eine solche Verwüstung stattgefunden hatte, machte sich sein Vater aus dem Staub und trank sich mit seinen Kumpanen ins Gleichgewicht zurück.

Annette hatte natürlich recht, wenn sie sagte, hinterher sei es zu spät. Aber es war auch jetzt schon zu spät, es war immer zu spät gewesen, mit seinem Vater über das, was geschehen und nicht geschehen war, zu reden. Als Henning im Wohnzimmer stand, während sein Vater auf einem Bein am Rollator vorbei ins Bad hüpfte, kam ihm selbst dieses »Zu spät« falsch vor. Es war weder zu spät noch zu früh. Wann hatte es einen Zeitpunkt gegeben, da er mit ihm hätte reden können? Alles, was seinen Vater umgab, diente als Beweis für die komplette Ausweglosigkeit, irgendetwas zu klären. Das unfassbare Gemälde mit dem Hirsch auf der Waldlichtung, das über dem Sessel hing. Der schwere, imitierte Eichenschrank mit den groben Verzierungen. Die in goldene Rahmen geschobenen Bilder von Ritas Enkeln, ein Sonnenuntergangsfoto, das Rita und seinen Vater im Profil zeigte. Wer sich mit solchen Dingen umgab, auf den konnten die Phantome der Vergangenheit nicht zugreifen. Das Hirschgemälde war das Zertifikat dafür, dass es im Haus von Rita und Walter kein böses Gestern und kein mieses Heute gab. Rita und sein Vater hatten jeden Zweifel zugehängt und jeden Abgrund einfach zumöbliert. Sein Vater war aus dem Elend seiner ersten Ehe in die selige Behaglichkeit seiner zweiten Ehe geflohen. Was es daran auszusetzen gab? Nichts, dachte Henning, nichts natürlich.

»Was willst du essen?«, fragte Rita und reichte ihm die Speisekarte vom Italiener unten im Haus. Henning entschied sich für die Pizza mit vier Käsesorten, Quattro Formaggi. Rita und sein Vater verstanden nicht, warum Henning kein Fleisch essen wollte, sie beide würden jedenfalls das Schweineschnitzel mit Sauce bestellen.

Sein Vater saß im blauen Trainingsanzug am Tisch und erzählte, wie der Knubbel, so sagte er, immer dicker geworden sei. Vor drei Wochen sei der Schmerz unerträglich geworden, aber im Krankenhaus hatten sie ihm gesagt, er sei zu alt für die Chemo.

»Was ein Quatsch«, sagte sein Vater, und auch Rita fand, dass es Quatsch sei, was die Ärzte sagen. Man ist doch nie zu alt für irgendwas, nicht wahr? Manche fangen im Alter an, Bilder zu malen oder sich für Militärgeschichte zu interessieren. Es gibt Achtzigjährige, die Laufschuhe anziehen und zum Marathon aufbrechen. Warum sollte sich ein Mann von 78 Jahren nicht auch einer Chemo unterziehen?

»Was willst du jetzt machen?«, fragte Henning.

»Abwarten«, sagte sein Vater.

»Was abwarten?«

»Ja, ob das wieder kleiner wird.«

Henning verstand sofort, dass sein Vater seine Lage nicht begriffen hatte. Der Krebs hatte ihn beim Knie gepackt, ein böser Griff, der langsam zur Zange wurde. Ausgerechnet im Knie, dachte Henning, und erinnerte sich an die Zeiten, als sein Vater im Fußballverein Linksaußen gespielt hatte. Flink und verbissen hatte Henning ihn nach dem Ball jagen sehen. Die einzige Leidenschaft, die sein Vater unterhalten hatte. Jetzt saß ausgerechnet in seinem Bein ein faustgroßer Tumor, und sein Vater glaubte allen Ernstes, der werde schon irgendwann wieder verschwinden, weil etwas, das von selbst kommt, auch wieder von selbst geht. Er fuhr einmal die Woche in die Uniklinik Essen, in der Hoffnung, ein paar Bündel Strahlen könnten den Tumor zerlegen. Zuhause recherchierte er im Internet alles, was sich über seine Krankheit finden ließ. Was er an Erkenntnis gewann, waren vor allem Ernährungstipps. Rita sollte ihm Heidelbeeren kaufen, weil die den Krebs stoppen. Die schriftliche Diagnose hatte er als Lektüre stets griffbereit. »Kannste mal lesen«, sagte er zu Henning, so als habe er einen interessanten Artikel in einer Illustrierten aufbewahrt. Henning las fassungslos das Wort palliativ. Fassungslos, weil sein Vater offenbar die Bedeutung des Wortes nicht kannte. Unablässig hatte sein Vater diesen Zettel studiert, zwei Dutzend Mal musste er das Wort palliativ gelesen haben, ohne dass der heillose Schrecken wie Eiswasser durch ihn gerauscht war.

Der italienische Wirt brachte das Essen hoch, ein...
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