Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Ein Mann sein

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am12.04.20221. Auflage
Nicole Krauss' Storys beleuchten jene Momente im Leben von Frauen, in denen die Kräfte von Sex, Macht, Liebe und Gewalt kollidieren. Wenn wir Söhne und Liebhaber, Verführer, Freunde und Gatten zusammennehmen - wie viele Männer hält ein Frauenleben aus? Und was bedeutet es, als Mann und Frau gemeinsam zu leben - oder getrennt? «Ein Mann sein» erzählt von den Zumutungen des Zusammenseins, wenn etwa eine jüdische New Yorkerin von ihrem deutschen Geliebten hören muss, dass er, achtzig Jahre früher geboren, vielleicht ein überzeugter Nazi gewesen wäre. Wenn eine Frau in der Wohnung ihres verstorbenen Vaters einem Unbekannten begegnet, der plötzlich ihr Leben dominiert. Oder wenn die junge Internatsschülerin von der Beziehung ihrer Mitschülerin mit einem älteren reichen Mann erfährt. In allen zehn Storys, geografisch weit gespannt von der Schweiz bis nach Japan, von New York bis nach Tel Aviv, erforscht Nicole Krauss die unkartierten, vielleicht unkartierbaren Regionen zwischen den Geschlechtern.

Nicole Krauss ist die Autorin der Romane 'Waldes Dunkel', 'Das große Haus', 'Die Geschichte der Liebe' und 'Kommt ein Mann ins Zimmer'. Ihr Werk wurde u.a. im New Yorker, in The Atlantic, in Harper's Magazine, in Esquire und in The Best American Short Stories veröffentlicht, und ihre Bücher sind in 35 Sprachen übersetzt. 2020 war sie Writer in residence am Zuckerman Mind Brain Behavior Institute der Columbia University. Sie lebt in Brooklyn, New York.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextNicole Krauss' Storys beleuchten jene Momente im Leben von Frauen, in denen die Kräfte von Sex, Macht, Liebe und Gewalt kollidieren. Wenn wir Söhne und Liebhaber, Verführer, Freunde und Gatten zusammennehmen - wie viele Männer hält ein Frauenleben aus? Und was bedeutet es, als Mann und Frau gemeinsam zu leben - oder getrennt? «Ein Mann sein» erzählt von den Zumutungen des Zusammenseins, wenn etwa eine jüdische New Yorkerin von ihrem deutschen Geliebten hören muss, dass er, achtzig Jahre früher geboren, vielleicht ein überzeugter Nazi gewesen wäre. Wenn eine Frau in der Wohnung ihres verstorbenen Vaters einem Unbekannten begegnet, der plötzlich ihr Leben dominiert. Oder wenn die junge Internatsschülerin von der Beziehung ihrer Mitschülerin mit einem älteren reichen Mann erfährt. In allen zehn Storys, geografisch weit gespannt von der Schweiz bis nach Japan, von New York bis nach Tel Aviv, erforscht Nicole Krauss die unkartierten, vielleicht unkartierbaren Regionen zwischen den Geschlechtern.

Nicole Krauss ist die Autorin der Romane 'Waldes Dunkel', 'Das große Haus', 'Die Geschichte der Liebe' und 'Kommt ein Mann ins Zimmer'. Ihr Werk wurde u.a. im New Yorker, in The Atlantic, in Harper's Magazine, in Esquire und in The Best American Short Stories veröffentlicht, und ihre Bücher sind in 35 Sprachen übersetzt. 2020 war sie Writer in residence am Zuckerman Mind Brain Behavior Institute der Columbia University. Sie lebt in Brooklyn, New York.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644009448
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum12.04.2022
Auflage1. Auflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1762 Kbytes
Artikel-Nr.8454228
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Sussja auf dem Dach

Die Füße in die Teerpappe gestemmt, zweiundzwanzig Stockwerke über der 110th Street, seinen neugeborenen Enkelsohn wiegend - wie war er dort hinaufgelangt? Keine einfache Sache, wie sein Vater sagen würde. Einfachheit war nicht sein Erbe.

Um von vorne zu beginnen: Brodman war zwei Wochen lang tot gewesen, aber dann, leider, auf diese Welt zurückgekehrt, wo er fünfzig Jahre mit dem Versuch verbracht hatte, unnötige Bücher zu schreiben. Nach der Operation eines Darmtumors hatte es Komplikationen gegeben. An ein Beatmungsgerät angeschlossen, mit Beuteln für jede hinein- oder herauslaufende Flüssigkeit, lag sein Körper fünfzehn Tage lang auf einem fahrbaren Krankenbett und führte einen mittelalterlichen Krieg gegen eine doppelseitige Lungenentzündung. Zwei Wochen lang hing Brodman in der Schwebe, tot und doch nicht tot. Wie das Haus im Buch Levitikus war er vom Aussatz befallen: Sie schabten ihn sauber und nahmen ihn auseinander, Stein für Stein. Entweder würde es helfen oder nicht. Entweder wäre der Aussatz verschwunden, oder er hätte ihn schon ganz durchdrungen.

Während er auf das Urteil wartete, hatte er wilde Träume. Solche Halluzinationen! Vollgepumpt mit Medikamenten, bei steigender Temperatur, träumte er, der Anti-Herzl zu sein, von Küste zu Küste Vorträge vor so riesigen Menschenmengen zu halten, dass die Leute Simultanübertragungen von Simultanübertragungen verfolgten. Ein Rabbi von der West Bank erließ eine Fatwa gegen ihn und setzte ein Kopfgeld von zehn Millionen Dollar aus, die Spende eines jüdischen Casinokönigs. Als Verräter gejagt, wurde Brodman an einem geheimen Ort irgendwo im Herzen Deutschlands versteckt. Vor seinem Fenster sah er die sanften Hügel - Bayerns? Des Weserberglands? Die Einzelheiten wurden ihm zu seinem eigenen Wohl erspart, für den Fall, dass er zusammenbräche und seine Frau Mira anriefe, oder seinen Rechtsanwalt oder Rabbi Chanan Ben-Zvi von Gusch Etzion. Und wenn er den Rabbi anrief, was würde er sagen? Ich ergebe mich, komm und hol mich, dritter Feldweg links, gleich hinter dem Meierhof, wo Brünhilde beim Melken «Edelweiß» singt, und vergiss nicht dein Sturmgewehr? Aber vielleicht plante der Rabbi ja, Brodman mit einem Fleischmesser die Kehle aufzuschlitzen.

Von dem sicheren deutschen Unterschlupf aus hielt er Rat mit Buber, Rabbi Akiva und Gershom Scholem, der auf einem Bärenfell ruhte und den Bären hinter den Ohren kratzte. Er saß mit Maimonides auf der Rückbank eines kugelsicheren Wagens, und das Reden nahm kein Ende. Er sah Moses ibn Esra und hörte Salo Baron, dem er etwas zurief, die Arme schwenkend, um den Dunst zu vertreiben. Er konnte ihn nicht sehen, wusste jedoch, dass er dort war, schwer atmend in den Nebelschwaden - Salo Wittmayer Baron, der zwanzig Sprachen sprach und im Eichmann-Prozess ausgesagt hatte, der Erste, der einen Lehrstuhl für jüdische Geschichte an einer Universität der westlichen Welt erhielt. Salo, was hast du über uns gebracht?

Ungeheure Dinge widerfuhren ihm im Fieberwahn dieser Wochen, unsagbare Offenbarungen. Abgelöst von der Zeit, transient und transzendent, sah Brodman die wahre Gestalt seines Lebens, wie es sich immer in Richtung der Pflicht geneigt hatte. Nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seines Volkes - die dreitausend Jahre trügerischer Erinnerung, hochangesehenen Leidens und Wartens.

Am fünfzehnten Tag sank das Fieber, und er wachte auf, um sich geheilt zu finden. Sein Körper war bewohnbar. Er würde noch ein wenig weiterleben. Alles, was dem Text des Levitikus zufolge noch zu tun blieb, war das rituelle Sühnopfer, das zwei lebendige Vögel erforderte, von denen einer geopfert und der andere am Leben gelassen werden sollte. Der eine getötet, der andere in das Blut seines Artgenossen getaucht, sieben Mal das Haus damit besprengt, und dann freigelassen. Solch eine Gnadenfrist! Er las den Text nie, ohne zu weinen. Und soll den lebendigen Vogel lassen hinaus vor die Stadt ins freie Feld fliegen, und das Haus versöhnen, so ist´s rein.

Während er halluzinierte, kam sein einziges Enkelkind zur Welt. In seinem geschwächten Zustand glaubte Brodman halbwegs, die Wehen seiner eigenen Geistesarbeit hätten es hervorgebracht. Seine jüngere Tochter, Ruthie, mochte keine Männer. Als sie ihm mit einundvierzig Jahren verkündet hatte, dass sie schwanger sei, hatte Brodman das als ein Wunder der unbefleckten Empfängnis verstanden. Aber das Glück war kurzlebig. Ein paar Monate später hatte eine routinemäßige Blutuntersuchung zu einer Darmspiegelung und dann, eineinhalb Monate bevor das Kind erwartet wurde, zur Entdeckung seiner eigenen Trächtigkeit geführt. Hätte er an solche Dinge geglaubt, hätte er das wohl für etwas Mystisches gehalten. Schwitzend und stöhnend, mit entsetzlichen Schmerzen im Unterleib, hatte er die Idee des Kindes durch die enge Pforte der Ungläubigkeit gepresst und es ins Dasein geboren. Es hätte ihn fast getötet. Nein, es hatte ihn getötet. Er war für das Kind gestorben, und dann, auf wundersame Weise, war er zurückgebracht worden. Wofür?

Eines Morgens in der Frühe entfernten sie das Beatmungsgerät. Der junge Arzt stand über ihn gebeugt, die Augen feucht von dem vollbrachten Wunder. Zum ersten Mal seit zwei Wochen atmete Brodman wirkliche Luft, und sie stieg ihm zu Kopfe. Schwindlig zog er den Arzt nahe zu sich heran, so nahe, dass er nur dessen Zähne sah, so weiß, so blendend schön, und diesen Zähnen, die das Nächste zu Gott im Zimmer waren, flüsterte er zu: «Ich bin nicht Sussja gewesen.» Der Arzt verstand nicht. Er musste es noch einmal sagen, die Worte fest aus dem Mund ausstoßen. Schließlich wurde er gehört. «Natürlich nicht», sagte der Arzt besänftigend, während er sich aus dem schwachen Griff des Patienten löste und ihm sanft die Hand tätschelte, in deren Rücken ein peripherer Venenkatheter steckte. «Sie waren Professor Brodman und sind es immer noch.»

Wären ihm nicht die Bauchmuskeln durchtrennt worden, hätte er wohl gelacht. Was konnte so jemand von Reue wissen? Wahrscheinlich hatte er noch keine Kinder. Wie er aussah, nicht einmal eine Frau. Alles lag noch vor ihm. Gleich würde er seinen Kaffee trinken gehen, erfüllt von der Verheißung des Tages. Und eben erst, an diesem Morgen, hatte er einen toten Mann ins Leben zurückgeholt! Was konnte der von einem vergeudeten Leben wissen? Ja, Brodman war Brodman gewesen und war noch immer Brodman, und doch hatte er darin versagt, Brodman zu sein, genau wie Rabbi Sussja darin versagt hatte, der Mann zu sein, der er hätte sein sollen. Er hatte die Geschichte als kleiner Junge kennengelernt: wie der Rabbi von Hanipol, nachdem er gestorben war, auf das Urteil Gottes wartete, beschämt, dass er nicht Mose oder Abraham gewesen war. Aber als Gott endlich erschien, fragte Er nur: «Warum bist du nicht Sussja gewesen?» Damit endete die Geschichte, aber Brodman hatte den Rest geträumt: wie Gott sich wieder verhüllte und Sussja, ganz allein, flüsterte: «Weil ich ein Jude war und kein Raum blieb, um etwas anderes zu sein, nicht einmal Sussja.»

Verwaschenes Morgenlicht drang durch das Krankenhausfenster, eine Taube flatterte vom Sims. Die Scheibe war aus satiniertem Glas, um die Backsteinwand gegenüber zu verbergen, und was Brodman von dem Vogel sehen konnte, war nur eine aufwärtsstrebende veränderliche Form. Aber in seinen Gedanken hörte er den Flügelschlag wie eine Art Interpunktion, als würde ein Komma auf das weiße Blatt gesetzt. Seit Jahren war sein Geist nicht mehr so klar oder fokussiert gewesen. Der Tod hatte ihn von allen Fremdeinwirkungen befreit. Seine Gedanken besaßen jetzt eine andere, durchdringend scharfe Qualität. Er hatte das Gefühl, den Dingen endlich auf den Grund gekommen zu sein. Das wollte er Mira erzählen. Aber wo war Mira? All die langen Tage der Krankheit hindurch hatte sie auf einem Stuhl neben seinem Bett gesessen, sich nur nachts ein paar Stunden schlafen gelegt. In dem Moment begriff er, dass sein Enkelsohn geboren worden war, während er unter den Toten weilte. Er wollte es wissen: Hatten sie den Knaben nach ihm benannt?

Er hatte sich vor Jahren aus der Lehre zurückgezogen, und es hieß, er schreibe an einem Meisterwerk, der Synthese einer lebenslangen Gelehrsamkeit. Aber niemand hatte die Seiten je gesehen, und in der Fakultät an der Columbia gingen Gerüchte um. So lange er sich erinnern konnte, hatte er die Antworten gewusst: Sein Leben war auf einem großen Meer des Verstehens geschwommen, er hatte seinen Becher nur eintauchen müssen. Die langsame Verdunstung dieses Meeres war ihm erst aufgefallen, als es bereits zu spät war. Er hatte aufgehört zu verstehen. Seit Jahren hatte er nicht mehr verstanden. Jeden Tag saß er an seinem Schreibtisch in dem beengten Hinterzimmer der mit Stammeskunst vollgestopften Wohnung, Stücken, die er und Mira vierzig Jahre zuvor auf einer Reise nach New Mexico billig erworben hatten. Jahrelang hatte er dort gesessen und nichts zu Papier gebracht. Er hatte sogar daran gedacht, seine Memoiren zu schreiben, war aber nicht weiter gekommen, als ein Notizbuch mit den Namen von Leuten zu füllen, die er früher gekannt hatte. Wenn seine ehemaligen Studenten vorbeikamen, saß er unter den primitiven Masken und hielt lange Reden über das Dilemma des jüdischen Historikers. Die Juden hätten ihre Geschichtsschreibung vor langer Zeit beendet, sagte er. Als die Rabbis den Bibelkanon schlossen, seien sie überzeugt gewesen, mehr als genug Geschichte zu haben. Vor zweitausend Jahren sei die Tür der heiligen Geschichte, der einzigen, die ein Jude brauchte, ins Schloss gefallen. Dann seien der Zelotismus und der Messianismus...
mehr

Autor

Nicole Krauss ist die Autorin der Romane "Waldes Dunkel", "Das große Haus", "Die Geschichte der Liebe" und "Kommt ein Mann ins Zimmer". Ihr Werk wurde u.a. im New Yorker, in The Atlantic, in Harper's Magazine, in Esquire und in The Best American Short Stories veröffentlicht, und ihre Bücher sind in 35 Sprachen übersetzt. 2020 war sie Writer in residence am Zuckerman Mind Brain Behavior Institute der Columbia University. Sie lebt in Brooklyn, New York.Grete Osterwald, geboren 1947, lebt als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Frankfurt am Main. Sie wurde für ihre Arbeit mehrmals ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Jane Scatcherd-Preis. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren zählen Siri Hustvedt, Alfred Jarry, Anka Muhlstein, Jacques Chessex sowie Nicole Krauss, Jeffrey Eugenides und Elliot Perlman.