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Ein simpler Eingriff

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
192 Seiten
Deutsch
Hanser Berlinerschienen am14.02.20221. Auflage
Ein neuartiger Eingriff soll Frauen von ihren psychischen Leiden befreien. Doch ist das menschenwürdig? Eine Geschichte von Emanzipation, Liebe und Empathie.
Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen.
'Ein simpler Eingriff' ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau, die in einer Welt starrer Hierarchien und entmenschlichter Patientinnen ihren Glauben an die Macht der Medizin verliert. Es ist auch die intensive Heraufbeschwörung einer Liebe mit ganz eigenen Gesetzen. Denn Meret verliebt sich in eine andere Krankenschwester. Und überschreitet damit eine unsichtbare Grenze.

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, lebt in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman 'Storchenbiss'. Für ihren zweiten Roman 'Mahlstrom' wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben. Für ihren Roman 'Ein simpler Eingriff' (2022) erhielt sie den Anna Seghers-Preis 2022 und den Clemens-Brentano-Preis 2023.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
BuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR13,99

Produkt

KlappentextEin neuartiger Eingriff soll Frauen von ihren psychischen Leiden befreien. Doch ist das menschenwürdig? Eine Geschichte von Emanzipation, Liebe und Empathie.
Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schließlich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen.
'Ein simpler Eingriff' ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau, die in einer Welt starrer Hierarchien und entmenschlichter Patientinnen ihren Glauben an die Macht der Medizin verliert. Es ist auch die intensive Heraufbeschwörung einer Liebe mit ganz eigenen Gesetzen. Denn Meret verliebt sich in eine andere Krankenschwester. Und überschreitet damit eine unsichtbare Grenze.

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, lebt in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman 'Storchenbiss'. Für ihren zweiten Roman 'Mahlstrom' wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben. Für ihren Roman 'Ein simpler Eingriff' (2022) erhielt sie den Anna Seghers-Preis 2022 und den Clemens-Brentano-Preis 2023.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446273634
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum14.02.2022
Auflage1. Auflage
Seiten192 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.8542514
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe




4


Die Frau und ich waren beide fünfundzwanzig Jahre alt. Ich sah in ihren Unterlagen, dass unsere Geburtstage nur drei Tage auseinanderlagen. Das merkte ich mir.

Ihr Vater verspätete sich. So stand sie anfangs alleine im Flur und schaute sich um. Sie zitterte nicht und hatte keine Angst im Blick. Diese Dinge kann man sich gut abgewöhnen. Aber ein Körper lässt sich nur bedingt überlisten. Die Hände werden nass, ihnen entgleitet das Gepäckstück, an das sie sich eben noch geklammert haben. Und der Koffer verrät mit einem lauten Knall, dass schwer gepackt wurde. Nie in der Annahme, man könnte lange bleiben. Ein schwerer Koffer will das Zuhause in einen fremden Raum bringen, mitsamt all seinem unnötigen Schnickschnack, damit es überhaupt möglich wird, sich darin aufzuhalten.

Die Frau kam am Vormittag. Ein Eingriff lag gerade hinter mir, die Patientin driftete langsam und ohne Komplikationen aus dem Rausch der Narkose in ihren schmerzenden Körper zurück. Der Doktor liebte es, am Morgen zu operieren und damit seinen Tag zu beginnen. Er mochte auch die Nacht, die Notfälle, er muckte nicht, wenn er zur Unzeit in die Klinik gerufen wurde. Den Nachmittag allerdings hielt er schwer aus. Diese Stunden, wenn der Morgen müde geworden war und träge den Einbruch des Abends erwartete. In dieser Zeit zog sich der Doktor zurück und erledigte Papierarbeit.

Die Frau hatte den Koffer gleich wieder vom Boden genommen. Sie war unverkennbar eine Ellerbach, groß gewachsen, mit einer geraden Haltung und einem Gesicht, das nie einer armen Person hätte gehören können. Dieses Gesicht ging mit Geld und einer gewissen Anerkennung in der Welt einher. Eine Familie von Unternehmern, stadtbekannt. Ihre Fabriken lagen im Industriegebiet hinter dem Schwesternwohnheim. Auch eine Familie von Wohltätern. Dies sei das eigentliche Herzstück ihres Wirkens; nie wurde der Vater müde, das in der Öffentlichkeit zu betonen. Die unternehmenseigene Stiftung ließ Schulen und Bibliotheken sanieren und förderte Hochbegabte. Sie wandelte Privatgelände in öffentliche Parks um. Die Ellerbachs waren in der Stadt eingeschrieben. Überall fand man Plaketten mit ihren Namen.

Daran dachte ich, als ich die Frau das erste Mal in Fleisch und Blut sah. Ich kannte ihr Gesicht aus der Zeitung. Sie waren zu viert, die Ellerbachkinder. Drei Brüder und sie. Sie war die Jüngste. Sie hieß Marianne.

Ich streckte die Hand aus, und sie reichte mir ihr Gepäckstück, verwechselte die Geste nicht mit einem Angebot, Bekanntschaft zu machen, wie es andere taten.

»Guten Tag, Sie sind hier, um mich abzuholen?« Erst sah sie mich gar nicht an. Sie betrachtete noch immer ihre Umgebung, ihr Blick folgte zwei Schwestern, die an uns vorbeigingen. So hatte ich Zeit für einen ungestörten ersten Eindruck, konnte meine Überraschung darüber runterschlucken, wie wenig auffällig sie trotz allem war. »Ein schöner Tag, nicht?« - Ihr Blick blieb an einer halb offenen Zimmertür hängen. Sie versuchte, hineinzuspähen - »Aber hier drin ist es â¦ sehr weiß. Macht Ihnen das gar nichts aus?«

Sie gab ihre Erkundung auf. Sie drehte sich zu mir um und sah mich zum ersten Mal direkt an. Auch ich war groß gewachsen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Anderen blickte sie auf den Scheitel, mir auf die Stirn.

»Sie sind groß«, stellte sie fest und lachte über ihre Entdeckung, so laut, dass sich die zwei Schwestern auf dem Gang nach uns umdrehten.

»Ich heiße Meret«, sagte ich.

»Das passt zu Ihnen.«

Es gab eine blaue Schachtel. Für Eingriffe dieser Art war sie mein Werkzeugkasten. Sie war voll mit Gegenständen, die einen Menschen beschäftigt hielten: Bücher, Bilder, Rätsel, Kartenspiele, Streichhölzer, ein Daumenkino, eine kleine Ziehharmonika. Das meiste davon war Zurückgelassenes, aus den Koffern genommen, kurz bevor sie in den Besitz der Heime übergingen.

Diese Gegenstände waren auch für mich da. Sie gaben mir Halt. Ich verspürte Zuversicht, wenn ich die blaue Schachtel aus dem Schrank nahm und sie zu meinen Patientinnen brachte.

Etwas für Marianne Ellerbach auszusuchen, war einfach. Als sie ihren Koffer öffnete, sah ich zwischen Bürste und Parfüm ein Kartendeck. Da wusste ich, dass ihr das Kartendeck in der Schachtel gefallen würde. Es war ein besonders schönes, mit einem filigranen Muster auf der Rückseite.

»Ich habe gesehen, dass unsere Geburtstage nur drei Tage auseinanderliegen«, sagte ich, »Sie sind zuerst zur Welt gekommen, am zwölften September, und am fünfzehnten war ich dann dran.«

»Wirklich?« Sie ließ von ihren Sachen ab und setzte sich auf das Bett. Nicht eine Sekunde hatte sie gezögert. Sie wippte mit den Füßen. Ich dachte in diesem Moment, dass sie eine große Freiheit besaß. Egal, wo sie hinging, sie konnte sich einfach setzen. Sie fragte sich nie, ob dieser oder jener Platz für sie bestimmt war.

Wir schauten beide zur Tür, wo wir ihren Vater und den Doktor erwarteten. Ich wusste so viel über sie, und sie wusste gar nichts über mich. Ich wusste von ihren Episoden. Da war eine Wut in ihr, die konnte so groß werden, dass sie detonierte und alles um sie herum mit wüsten Worten, Schreien und Handgreiflichkeiten zurichtete. Diese Wut kam plötzlich. Wer dann in ihrer Nähe war, hatte selten genug Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Den drei Brüdern war ihre körperliche Überlegenheit dabei kaum von Nutzen, Mariannes Wut war größer als sie.

Ich hatte schon häufiger Fotos der Familie Ellerbach in der Lokalzeitung gesehen. Der Vater wurde von seinen drei Söhnen, seiner Tochter und seiner Frau umringt, ein Fixpunkt, auf den sich alles in dem Bild ausrichtete, selbst die Möbel. Marianne stand immer bei demselben Bruder, dem jüngsten, anderthalb Jahre trennten die beiden voneinander. Er glich dem Vater auf frappierende Weise.

Auf unseren Familienfotos stand Bibi auch immer neben Wilm. Immer neben ihrem großen Bruder, der die Haare, die Nase und den Mund vom Vater hatte. Aber nicht seine Augen.

Während Mariannes Blick langsam durch das Zimmer schweifte, betrachtete ich sie. Man sah ihr ihre Episoden nicht an. Sicher, da war dieses laute Lachen, die Unruhe in ihren Gliedern. Und sie war kindlich. So unverhohlen, wie sie ihren Blick richtete, wohin es ihr gefiel, auf jedes Ding und jeden Menschen, hätte sie gut fünfzehn Jahre jünger sein können. Abgesehen davon wies nichts auf ihre Störung hin. Allerdings geht es schnell, dass das vermeintlich Normale kippt. Das wusste ich inzwischen.

Als der Vater eintrat, stand sie nicht auf. »Guten Tag«, sagte er zu seiner Tochter, und sie nickte, erwiderte unbeeindruckt die Begrüßung. Wahrscheinlich war sie der einzige Mensch überhaupt, der nicht intuitiv aufstand, wenn er das Zimmer betrat. Ich selbst ging einen Schritt zurück, das passierte ganz ohne mein Zutun.

Sie ließ sich von ihm die Stirn küssen. Er legte ihr noch kurz die Hand an den Hinterkopf und zog sie zu sich. »Na, na«, murmelte er dabei. Für einen Moment, eine Sekunde vielleicht, war er kein Ellerbach, füllte nicht den ganzen Raum aus, sondern war nur ein Vater, der zärtlich ist zu seiner Tochter. Sie wippte dabei weiter mit den Füßen, keine erwachsene Frau, sondern ein Kind, das sich dieser Zärtlichkeit hingab.

Als der Doktor kam, stellte ich erstaunt fest, dass sogar er neben dem Ellerbach blasser wirkte, wie ein Foto, das seine Farben verloren hatte. Dabei war er üblicherweise selbst eine beeindruckende Erscheinung. Mit körperlichen Eigenschaften hatte das nichts zu tun. Der Doktor war weder groß noch breitschultrig, noch war sein Gesicht in irgendeiner Weise besonders. Aber er wusste, wer er war. Mit dieser Gewissheit nahm er alles für sich ein.

»Guten Tag«, sagte der Doktor jetzt, und als die gewohnte Wirkung ausblieb, wandte er sich zu mir, deutete auf die Akte in meiner Hand und wies mich an: »Schreiben Sie mit, bitte.« Er hätte genauso gut sagen können: »Atmen Sie, bitte.«
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Autor

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, lebt in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman "Storchenbiss". Für ihren zweiten Roman "Mahlstrom" wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben. Für ihren Roman "Ein simpler Eingriff" (2022) erhielt sie den Anna Seghers-Preis 2022 und den Clemens-Brentano-Preis 2023.