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Follow the science - aber wohin?

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
2085 Seiten
Deutsch
Christoph Links Verlagerschienen am11.04.20221. Auflage
Auf dem Weg in die Expertokratie?


In der Corona-Pandemie waren zuverlässige Informationen gefragt wie nie. Der Rat der Wissenschaft wurde gesucht, die Reichweiten traditioneller Medien stiegen. Gleichzeitig rangen Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen um Deutungs- und Entscheidungshoheit. Unter hohem Handlungsdruck suchte die Politik in der Wissenschaft nicht nur nach Ideen für wirksame Eingriffe ins gesellschaftliche Regelwerk, sondern auch nach Legitimation für unbequeme Entscheidungen. Markiert die Corona-Krise eine Zäsur im Verhältnis von
Medien, Wissenschaft und Politik? Wie ordneten die Medien hierzulande wissenschaftliche Daten ein, welchen Expert:innen gaben sie eine Bühne? Was braucht es, um kommende Krisen besser zu bewältigen? Die Beiträger:innen dieses Bandes suchen nach Antworten auf diese und viele andere Fragen.

Mit Beiträgen von Sibylle Anderl, Jakob Augstein, Alexander Bogner, Rafaela von Bredow, Markus Gabriel, Caspar
Hirschi, Wolfgang Merkel, Olivia Mitscherlich-Schönherr, Barbara Prainsack u.a.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR13,99

Produkt

KlappentextAuf dem Weg in die Expertokratie?


In der Corona-Pandemie waren zuverlässige Informationen gefragt wie nie. Der Rat der Wissenschaft wurde gesucht, die Reichweiten traditioneller Medien stiegen. Gleichzeitig rangen Journalist:innen, Wissenschaftler:innen und Politiker:innen um Deutungs- und Entscheidungshoheit. Unter hohem Handlungsdruck suchte die Politik in der Wissenschaft nicht nur nach Ideen für wirksame Eingriffe ins gesellschaftliche Regelwerk, sondern auch nach Legitimation für unbequeme Entscheidungen. Markiert die Corona-Krise eine Zäsur im Verhältnis von
Medien, Wissenschaft und Politik? Wie ordneten die Medien hierzulande wissenschaftliche Daten ein, welchen Expert:innen gaben sie eine Bühne? Was braucht es, um kommende Krisen besser zu bewältigen? Die Beiträger:innen dieses Bandes suchen nach Antworten auf diese und viele andere Fragen.

Mit Beiträgen von Sibylle Anderl, Jakob Augstein, Alexander Bogner, Rafaela von Bredow, Markus Gabriel, Caspar
Hirschi, Wolfgang Merkel, Olivia Mitscherlich-Schönherr, Barbara Prainsack u.a.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783862845262
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum11.04.2022
Auflage1. Auflage
Seiten2085 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.8722107
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Alexander Bogner
Konsenspolitik. Wie die Wissenschaft in der Krise zum politischen Akteur wird

Nicht anders als demokratische Politik schätzt auch die moderne Wissenschaft Vielstimmigkeit und Dissens. Die Wissenschaft ist eine Entfesselungskünstlerin des Dissenses und hat zu diesem Zweck eigene Institutionen wie Seminare, Tagungen und Begutachtungsprozesse geschaffen. Schließlich verspricht sie sich von kollegialer Kritik ziemlich viel, nämlich besser begründete Behauptungen und robustere Erkenntnisse - eben besseres Wissen.

Dass es keine wirkliche Erkenntnis ohne die Überprüfung durch kritische Gegenstimmen geben könne, war schon das Credo von John Stuart Mill, und dieser Argumentationslinie folgt noch Karl Popper, wenn er erklärt, dass das Spiel der Wissenschaft grundsätzlich »kein Ende« haben kann, weil es darum geht, Wahrheitsansprüche in Frage zu stellen (Popper 1971: 26). Wir schließen daraus: Fragloses Einvernehmen ist nicht der Himmel der Wissenschaft, sondern ihr Ende. Erklärungsbedürftig erscheint vor diesem Hintergrund nicht der Dissens, sondern vielmehr der Konsens, und zwar nicht nur in der Forschung, sondern auch und gerade im Hinblick auf politikrelevante Expertise.

Konsens in der Forschung ist eigentlich langweilig. Über grundlegende Tatsachen streitet man nicht, und kanonisches Wissen wird in Form von Lehrbüchern schubladisiert. Konsens stellt sich ein, wenn man nicht mehr weiterfragt, aus welchen Gründen auch immer. Konsens in der Politikberatung ist ziemlich unwahrscheinlich, gerade in Krisenzeiten, wenn unerwartete Ereignisse die Wissenschaft überraschen und darum Daten, konsolidierte Erkenntnisse und sicheres Wissen fehlen. Ein derart vielschichtiges Problem wie eine Pandemie erfordert außerdem Interdisziplinarität, und damit vervielfältigen sich die relevanten Stimmen. In den Beratungsgremien - wenn sie die Breite der Wissenschaft abbilden wollen - treffen verschiedene, vielleicht sogar unvereinbare Perspektiven und Paradigmen, aber natürlich auch divergierende Werte und Weltanschauungen aufeinander. Weitreichender Konsens mag daher ein wünschenswertes Ziel sein, doch gerade in Krisenzeiten ist dies mit wissenschaftlichen Mitteln kaum zu erreichen.

Unter dem Stichwort »Konsenspolitik« wird im Folgenden eine politische Strategie skizziert, die in der Corona-Krise an Bedeutung gewonnen hat. Gemeint sind Versuche aus der Wissenschaft, mithilfe interdisziplinärer Konsenspapiere die Politik dazu zu bewegen, den einhelligen Empfehlungen maßgeblicher Expertenzirkel zu folgen. Gefördert wird diese Konsenspolitik durch ein relativ unstrukturiertes und daher offenes Beratungssystem, das externe Akteur:innen dazu ermuntert, Stellungnahmen und Empfehlungen auf eigene Initiative hin anzubieten. Gefährdet werden durch diese Konsenspolitik sowohl der deliberative Charakter demokratischer Politik als auch die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft. Denn Konsenspolitik unterstützt - gewollt oder ungewollt - eine Politik der Alternativlosigkeit und formuliert anstelle abgewogener wissenschaftlicher Expertise einen politischen Appell. Auch wenn man in normativer Hinsicht mit vielen dieser Appelle aus der Wissenschaft sympathisieren mag, so ist doch der Preis dieser gut gemeinten Konsenspolitik hoch.
Krise und Konsens

Konsenspolitik beginnt eine Rolle zu spielen, wenn Expert:innenkonsens nicht mehr offensichtlich, selbstverständlich oder zumindest erwartbar ist. Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht, dass sich die gesellschaftlichen Erwartungen an Expertise im Verlauf einer Krise wandeln. Während akute Krisensituationen dem Expert:innenkonsens Gewicht und Glaubwürdigkeit verleihen, wird dieser Konsens als Folge aktiver Konsenspolitik problematisch, wenn sich die akute in eine hartnäckige (oder chronische) Krise verwandelt. Was heißt das genau?

Akute Krisenphasen sind durch Angst, Verunsicherung und einen weitgehenden gesellschaftlichen Wertekonsens charakterisiert. Dieser Konsens stellt sich vor allem in Schockmomenten her. Im Fall von Corona erzeugten die alarmierenden Bilder aus der Lombardei einen solchen Schockmoment. Der Lebensschutz erhielt - abstimmungsfrei und kompromisslos - oberste Priorität und ausgerechnet ein konservativer Politiker musste daran erinnern, dass diese Absolutheit des Lebensschutzes sachlich nicht geboten ist (Birnbaum/Ismar 2020). Die (reale oder symbolische) Betroffenheit war hoch; Solidarität (mit Alten und Kranken, mit hilfsbedürftigen Nachbarn, mit dem Pflegepersonal) wurde großgeschrieben. Die Erwartung an die Politik lautete: Schnell handeln und wirksame Maßnahmen einleiten.

In akuten Krisen schlägt die Stunde der Exekutive, wie es so schön heißt. Diese Zentralisierung (und teilweise Informalisierung) politischer Entscheidungsprozesse ist im Nachhinein als Selbstentmachtung des Parlaments kritisiert worden (Merkel 2020). Mit Blick auf den hohen Stellenwert wissenschaftlicher Expertise in akuten Krisensituationen spricht der US-amerikanische Politologe Roger Pielke von »Tornado-Politik« (Pielke 2007). Das heißt, wenn der Hurricane kommt, ist für demokratisches Abwägen keine Zeit. Dann wollen wir von den Expert:innen einfach nur wissen, wo es langgeht. Kurz gesagt: In akuten Krisen ist die Herrschaft der Expert:innen legitim. Diese Expertokratie kann allerdings nur dann funktionieren, wenn mit einer Stimme gesprochen wird, wenn also eine wissenschaftliche Disziplin (oder Perspektive) klar die Oberhand hat und nur ein schmaler Ausschnitt verfügbarer Expertise in der Politik Gehör findet. Dies spiegelt sich in den Worten des bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder wider, der zu Beginn der Krise erklärte: »Die Bayerische Staatsregierung hat ihre Handlungen mit Ärzten, Virologen und Experten abgestimmt. Es gilt das Primat der Medizin.« (Bayerische Staatsregierung 2020)

Aus der zunächst akuten Krise ist ab dem Frühsommer 2020 eine hartnäckige (oder chronische) Krise geworden. Auch mehrere bundesweite Lockdowns und eine Kaskade an lokalen Maßnahmen, ja nicht einmal das kostenlose Angebot wirksamer Impfstoffe haben bislang zu einem Ende der Pandemie geführt. Das Corona-Virus ist nach wie vor präsent und prägt die nationale Gesundheitspolitik genauso wie das Arbeitsleben oder unsere Urlaubsplanungen.

In chronischen Krisen gehen Angst, Betroffenheit und Solidarität rasch zurück. Während sich die Bevölkerung anfangs noch auf den Wohnungsbalkonen für ihre Solidarität gefeiert hatte, ebbte diese bald merklich ab und war auch 2021, im Jahr des großen Impfens (und der mühseligen Impfkampagnen), keine wirksame Ressource mehr. Das heißt, die krisenbedingten Risiken verlieren an Gewicht oder werden zunehmend als individuelle Risiken verstanden. Was die Krise im öffentlichen Bewusstsein hält, ist weniger ihr aktuelles Bedrohungspotenzial als vielmehr der öffentliche Streit um die richtigen Maßnahmen beziehungsweise um die richtige Interpretation der Krise.

Akute Krisen verwandeln die pluralistische Gesellschaft in eine kurzfristig homogene Gefahrengemeinschaft. Chronische Krisen hingegen sind durch Dissens geprägt: Die Krise wird - nach dem Ende der großen Einigkeit - standpunktspezifisch bewertet und erhält damit viele Gesichter. Der Dissens vollzieht sich sowohl auf der normativen Ebene (Wertepluralismus), auf der politischen Ebene (es erwacht der Wille zur Opposition), in der öffentlichen Arena (Proteste) als auch auf der wissenschaftlichen Ebene. Mit Blick auf letzteren Aspekt heißt das: Sobald deutlich wurde, dass Corona ein vielschichtiges Problem mit ökonomischen, rechtlichen, psychosozialen und politischen Facetten darstellt, mussten weitere Stimmen aus der Wissenschaft gehört werden - über die Medizin und die Modellrechnungen der Physik hinaus. Diese Entgrenzung relevanter Expertise führt zu einer Vielstimmigkeit, die den erneuten Wunsch nach Übersichtlichkeit und Konsens - sowohl auf Seiten der Politik wie der Wissenschaft - verständlich macht. In chronischen Krisen verliert Expert:innenkonsens seine Selbstverständlichkeit; es bricht die Zeit aktiver Konsenspolitik an.
Expertise auf Eigeninitiative

Mit dem Aufbrechen politischer Konflikte in der Corona-Pandemie wurde auf allen Seiten entsprechende wissenschaftliche Unterstützung mobilisiert. Von den Medien wurden Fachleute aus Virologie und Epidemiologie zu (Gegen-)Expert:innen aufgebaut, um bestimmte Polit-Strategien salon- oder mehrheitsfähig zu machen. Mangels differenzierter Auseinandersetzung blieb mitunter unklar, worauf sich der Expert:innendissens im Einzelfall gründete und wie groß er wirklich war.

Dass der Streit um das bessere Wissen medienwirksam ausgetragen wurde, oder anders gesagt, dass das Ringen um die richtigen, evidenzbasierten Maßnahmen von den Medien als Kampf rivalisierender Expertisen inszeniert werden konnte, hat nicht zuletzt mit dem deutschen Beratungssystem zu tun. Denn dieses Beratungssystem ist mit Blick auf globale Gesundheitskrisen vergleichsweise offen und lädt daher dazu ein, Expertise gewissermaßen als...
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