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Retter der Welt

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am15.02.20221. Auflage
Wie viele Achtzehnjährige ist Aden Sawyer auf ein einziges Ziel fixiert: endlich ihren beengenden Geburtsort verlassen. Ihr Plan wird sie weit vom Haus ihrer Mutter, in dem die Familienfotos zur Wand gedreht sind, und vom Einfluss ihres dominanten Vaters entfernen. Denn sie ist entschlossen, nach Peschawar in Pakistan zu reisen, um dort in einer Medrese den Islam zu studieren. Mit Hilfe eines Freundes organisiert sie die heimliche Reise. In Pakistan schlüpft sie in eine neue Identität, verkleidet sich als junger Mann und verbrennt sogar ihren Pass. Doch bald gerät sie in größere Gefahr, als sie sich jemals vorstellen konnte. Der Weg zur Erlösung ist lang und gefährlich, und er führt direkt in die Kriegswirren Afghanistans. Im Angesicht von Gewalt, Enttäuschung und Verlust muss Aden Entscheidungen fällen, die nicht nur ihren Glauben auf die Probe stellen, sondern ihr tiefstes Verständnis davon, wer sie ist. John Wray verfolgt das Schicksal seiner jungen Heldin mit der zwingenden Logik der Paranoia, mit apokalyptischer Konsequenz und visionärem Blick und erzeugt so atemberaubende Spannung.

John Wray wurde 1971 in Washington, D. C., als Sohn einer Österreicherin und eines Amerikaners geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin Granta unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR16,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextWie viele Achtzehnjährige ist Aden Sawyer auf ein einziges Ziel fixiert: endlich ihren beengenden Geburtsort verlassen. Ihr Plan wird sie weit vom Haus ihrer Mutter, in dem die Familienfotos zur Wand gedreht sind, und vom Einfluss ihres dominanten Vaters entfernen. Denn sie ist entschlossen, nach Peschawar in Pakistan zu reisen, um dort in einer Medrese den Islam zu studieren. Mit Hilfe eines Freundes organisiert sie die heimliche Reise. In Pakistan schlüpft sie in eine neue Identität, verkleidet sich als junger Mann und verbrennt sogar ihren Pass. Doch bald gerät sie in größere Gefahr, als sie sich jemals vorstellen konnte. Der Weg zur Erlösung ist lang und gefährlich, und er führt direkt in die Kriegswirren Afghanistans. Im Angesicht von Gewalt, Enttäuschung und Verlust muss Aden Entscheidungen fällen, die nicht nur ihren Glauben auf die Probe stellen, sondern ihr tiefstes Verständnis davon, wer sie ist. John Wray verfolgt das Schicksal seiner jungen Heldin mit der zwingenden Logik der Paranoia, mit apokalyptischer Konsequenz und visionärem Blick und erzeugt so atemberaubende Spannung.

John Wray wurde 1971 in Washington, D. C., als Sohn einer Österreicherin und eines Amerikaners geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin Granta unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644000131
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum15.02.2022
Auflage1. Auflage
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2061 Kbytes
IllustrationenMit 1 s/w Abbildungen
Artikel-Nr.8723135
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Am 11. November rannte Lowboy, um den Zug noch zu erwischen. Leute standen im Weg, aber er achtete darauf, niemanden zu berühren. Er rannte die rostig gelbe Bahnsteigkante entlang, die Kabine des Zugbegleiters fest im Blick: Er zwang ihn zu warten. Die Türen waren schon geschlossen, aber sie öffneten sich, als er dagegentrat. Es kam ihm wie ein Zeichen vor.

 

 

Lachend stieg er ein. Um ihn herum Zeichen, nichts war ohne Bedeutung. Der Boden unter seinen Füßen zitterte und tickte, die geflieste Wölbung über dem Zug hüllte das Gemurmel der Leute in Kupfer- und Alufolie. Die meisten Plätze im Wagen waren besetzt. Töne erklangen, als sich die Türen hinter ihm schlossen: Cis, dann A. Wie ein spitzer Bleistift stachen sie ihn in die Ohren. Er drehte sich um und drückte das Gesicht gegen die Scheibe.

 

 

Schädel & Knochen, seine vom Staat bestellten Feinde, stürmten über den Bahnsteig. Schädel war ein unscheinbares, schmächtiges Milchgesicht, das nicht viel hermachte, aber Knochen war groß und breit wie ein Fahrscheinautomat. Sie bewegten sich wie Polizisten in einem Stummfilm, als wären ihnen die Schuhe zu groß. Niemand wich ihnen aus. Lowboy musste grinsen, als er sie so heranstolpern sah: Mit jedem ihrer lächerlichen Schritte verloren sie mehr von ihrem Schrecken. Ich muss mir einen neuen Namen für die beiden einfallen lassen, dachte er. Kurz & Süß. Vorher & Nachher. Brücke & Tunnel.

 

 

Knochen sah ihn zuerst und schlug mit den Fäusten gegen die Tür. Speichel sprühte geräuschlos aus seinem Mund gegen die zerkratzte, schmierige Scheibe. Mit einem Ruck fuhr der Zug an, hielt, fuhr wieder an. Lowboy schenkte Knochen sein Dorftrottellächeln, spitzte die Lippen, klimperte mit den Augen und hob feierlich den Mittelfinger. Schädel rannte mit rudernden Armen neben dem Zug her, bemüht, auf Höhe der Tür zu bleiben. Knochen schrie dem Zugbegleiter etwas zu. Achselzuckend pfiff Lowboy die beiden Töne, die das Türenschließen angekündigt hatten. Cis-A, Cis-A. Eine ganz simple Melodie, wunderhübsch.

 

 

Später bestätigten die Fahrgäste in dem Wagen, dass der Junge aufgekratzt gewirkt hatte. Offenbar war er in Eile, aber er machte einen selbstbewussten, ruhigen Eindruck. Er bemühte sich darum, älter auszusehen, als er war. Seine Kleider passten ihm schlecht, sie schlotterten ihm um den Körper, aber weil er blaue Augen hatte und zurückhaltend war, fiel er niemandem unangenehm auf. Die Leute musterten ihn, wenn er ihnen den Rücken zuwandte, so wie man es eben in der U-Bahn tut. Was ist das für ein Junge, dachten sich einige, der in so scheußlichen Kleidern herumläuft?

 

 

Der Zug passte genau in den Tunnel. Er schlüpfte hinein wie eine Hand in die Hosentasche, schloss sich um Lowboys Körper und hielt ihn ruhig. Der Junge drückte immer noch die rechte Wange an die Scheibe und spürte, wie die Luft und der Fels vorbeisausten. Ich bin in einem Zug, dachte er. Schädel & Knochen sind nicht da. Ich fahre im Uptown-Local.

 

 

Das Raumklima im Wagen war wie immer angenehm, die Temperatur lag zwischen 17 und 20 Grad. Die Gummidichtungen an den Türen ließen keine Zugluft durch. Die Stoßdämpfer aus Federstahl, gefertigt in St. Louis, Missouri, sorgten für glatten, ruhigen Lauf. Lowboy lauschte dem Geräusch der Räder, dem Rumpeln auf Schienenstößen und Weichen, dem Quietschen und Kreischen in den Kurven, dem mühelosen Zusammenspiel all der verschiedenen Teile des Zuges. Wohltuend vertraute, fast sentimentale Geräusche. Seine geistige Anspannung löste sich. Sogar sein verkrampftes, klaustrophobisches Hirn empfand etwas wie Zuneigung für den Tunnel. Es war schließlich sein Kopf, der ihn gefangenhielt, nicht der Tunnel, die anderen Passagiere oder der Zug. Ich bin in meinem eigenen Schädel gefangen, dachte er. Geisel meines limbischen Systems. Es gibt keinen Weg ins Freie, außer durch die Nase.

 

 

Ich kann wieder Witze machen, sagte sich Lowboy. Blöde Witze, aber immerhin. Gestern hätte ich das noch nicht gekonnt.

 

 

Lowboy war eins fünfundsiebzig groß und wog genau 68 Kilo. Sein Haar war links gescheitelt. Das meiste, was passierte, war ihm vollkommen gleichgültig, aber manche Dinge setzten sich in ihm fest - die konnte er dann nur aushusten. Er besaß eine Liste mit Dingen, die er gernhatte. Wenn es ihm schlechtging, nahm er sie sich der Reihe nach vor wie Amulettanhänger an einem Armband. Er zählte die ersten acht aus dem Gedächtnis auf :

 

Obelisken.

Unsichtbare Tinte.

Violet Heller.

Snowboarden.

Der Botanische Garten in der Bronx.

Jacques Cousteau.

Bix Beiderbecke.

Der Tunnel.

 

Sein Vater hatte ihn mal zum Snowboarden in den Poconos mitgenommen. Die Poconos und der Strand von Breezy Point waren Nummer neun und zehn auf der Liste. Im Sommer wurde er tiefbraun wie ein Indianer, aber jetzt, nach all der Zeit, die er weg gewesen war, war er leichenblass.

 

 

Lowboy blickte auf seine Arme, die wie tot aussahen. Er drückte die rechte Handfläche kräftig gegen das Glas. Er war der Nachkomme einer langen Reihe von Soldaten und insgeheim selbst ein Soldat, aber er hatte am Grab seines Vaters geschworen, nie in einen Krieg zu ziehen. Einmal hatte er beinahe jemanden mit bloßen Händen getötet.

 

 

Der Tunnel ging ohne irgendwelche Anzeichen von Mühe in eine Gerade über, die Drehgestelle und Schienen wurden leiser. Lowboy lenkte seine Gedanken auf seine Mutter. Sie war blond wie eines dieser Mädchen auf den Werbeplakaten, allerdings schon über achtunddreißig. Sie schminkte die Augen und Lippen der Schaufensterpuppen von Saks und Bergdorf Goodman. Sie malte Sachen, die niemand je zu Gesicht bekam. Einmal hatte er sich nach den Brustwarzen erkundigt, und sie hatte hinter vorgehaltener Hand gelacht und das Thema gewechselt. Am 15. April wurde sie neununddreißig, außer es wurden ganz neue Regeln eingeführt oder er hatte sich verzählt oder sie starb. Seit achtzehn Monaten war er nicht mehr so nahe bei ihrem Haus gewesen. Seine Richtungsangaben lauteten wie folgt: Umsteigen am Columbus Circle, warten, dann sechs dicht beieinander-liegende Haltestellen an der Linie C. Das war alles. Aber er würde das Haus seiner Mutter nie wiedersehen.

 

 

Langsam und konzentriert, mit geübter Präzision, widmete er seine Aufmerksamkeit dem Zug. Über Züge ließ sich leichter nachdenken. Es gab Tausende davon in dem Tunnel. Sie schoben Geisterzüge aus Luft vor sich her, und jeder einzelne hatte ein Ziel. Dieser Zug, in dem er sich befand, fuhr zum Bedford Park Boulevard. Sein Wappen war ein B in Helvetica-Schrift auf leuchtend orangefarbenem Grund. Der Zug zum Haus seiner Mutter hatte die gleiche Farbe: die Farbe von Plastikobst, die von auf Samt gemalten Sonnenuntergängen, die Farbe des Lichts, das am Strand durch halbgeschlossene Lider dringt. Orange, William von Orange, dachte er verträumt. William von Orange heiße ich. Er schloss die Augen und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er stellte sich vor, wie er durch die Anlagen von Schloss Windsor spazierte. Es war angenehm kühl im Schatten der Buchsbaumhecken. Er sah mit dunklem Holz getäfelte Korridore, mit Tüchern verhängte Gemälde, hohe Halskrausen, Himmelbetten. Er sah ein Porträt von sich mit einer Pelzmütze. Er sah seine Mutter in der Küche, sie briet Zwiebeln und Knoblauch in Butter. Ihr Gesicht hatte die Farbe von Seife. Er biss sich auf die Lippe und zwang sich, die Augen wieder aufzuschlagen.

 

 

Eine befangene Stille machte sich im Wagen breit. Lowboy bemerkte es sofort. Die anderen Fahrgäste betrachteten ihn prüfend, sie musterten seine abgeschabten Sportschuhe mit Klettverschluss, seine Hose mit den scharfen Bügelfalten, sein falsch geknöpftes Hemd und sein untadelig gescheiteltes strohblondes Haar. In der Scheibe sah er gespiegelt ihre verwunderten Blicke. Sie glauben, ich bin unterwegs zu einer Verabredung. Sie glauben, ich mache einen Ausflug. Wenn die wüssten!

«Ich bin William von Orange», sagte Lowboy. Er drehte sich zu den Leuten um. «Hat vielleicht jemand eine Zigarette ?»

Die Stille verdichtete sich. Er fragte sich, ob ihn überhaupt jemand gehört hatte. Manchmal kam es vor, dass er ganz klar und deutlich etwas sagte, jedes Wort sorgfältig artikulierte, und niemand schenkte ihm auch nur die geringste Beachtung. Das passierte sogar ziemlich oft. Aber an diesem Tag, an diesem bestimmten Vormittag, konnte ihn niemand ignorieren. An diesem Vormittag war er in Hochform.

Ein Mann links von ihm hob den Kopf und räusperte sich.

«Schulschwänzer», sagte der Mann in einem Tonfall, als beantwortete er eine Frage.

«Bitte ?», sagte Lowboy.

«Du hast die Schule geschwänzt?» Es klang seltsam melodisch, wie Musik.

Lowboy sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Ein würdiger Herr mit einem eleganten, spitz zulaufenden Bart und glänzend polierten Schuhen. Sein Gesicht und sein Bart hatten genau dieselbe Farbe. Er saß in sehr korrekter Haltung, die Knie zusammengepresst, die Hände gefaltet auf dem Schoß. Seine Hose war weiß und frisch gebügelt, an seiner grünen Lederjacke befanden sich kleine Footbälle anstelle von Knöpfen. Seine Haare waren unter einem orangefarbenen Turban versteckt. Er wirkte vornehm, unerschütterlich und weise.

«Ich kann die Schule nicht schwänzen», sagte Lowboy. «Sie haben mich...
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John Wray wurde 1971 in Washington, D. C., als Sohn einer Österreicherin und eines Amerikaners geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin Granta unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.