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Alles, was wir nicht erinnern

5
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
280 Seiten
Deutsch
C.H. Beckerschienen am17.02.20221. Auflage
«Zu Fuß?» «Zu Fuß.» «Allein?» «Allein.» Christiane Hoffmanns Vater floh Anfang 1945 aus Schlesien. 75 Jahre später geht die Tochter denselben Weg, 550 Kilometer nach Westen. Sie kämpft sich durch Hagelstürme und sumpfige Wälder. Sie sitzt in Kirchen, Küchen und guten Stuben. Sie führt Gespräche - mit anderen Menschen und mit sich selbst. Sie sucht nach der Geschichte und ihren Narben. Ein sehr persönliches, literarisches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was wir verdrängen, um zu überleben. Deutschland in den 1970er Jahren. Unter dem Tisch sitzen die Kinder. Oben seufzen die Erwachsenen, essen Schnittchen und reden über die verlorene Heimat. Sie geben ihre Verletzungen und Alpträume weiter an die nächste Generation. Nach dem Tod des Vaters kehrt die Tochter in das schlesische Dorf mit dem malerischen Namen zurück, nach Rosenthal, das jetzt Rózyna heißt. Am 22. Januar 2020 bricht sie auf und geht noch einmal den Weg seiner Flucht. Was bleibt heute vom Fluchtschicksal? Wie gehen Familien, wie gehen Gesellschaften, Deutsche, Polen und Tschechen mit der Vergangenheit um? Christiane Hoffmanns Buch holt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ins 21. Jahrhundert, es verschränkt ihre Familiengeschichte mit der Historie, Zeitzeugenberichte mit Begegnungen auf ihrem Weg. Doch es ist vor allem ein sehr persönliches Buch, geschrieben in einer literarischen Sprache, die Suche einer Tochter nach ihrem Vater und seiner Geschichte.

Christiane Hoffmann ist Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung. Hoffmann studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Journalistik in Freiburg, Leningrad und Hamburg. Sie arbeitete fast 20 Jahre für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und berichtete als Auslandskorrespondentin aus Moskau und Teheran. Anfang 2013 wechselte sie als stellvertretende Leiterin ins Hauptstadtbüro des «Spiegel». Seit 2018 war sie dort Autorin und häufiger Gast in Rundfunk und Fernsehen. Hoffmann ist die Tochter zweier Flüchtlingskinder. Ihre Vorfahren väterlicherseits stammen aus Schlesien, die Familie ihrer Mutter aus Ostpreußen.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
EUR10,99

Produkt

Klappentext«Zu Fuß?» «Zu Fuß.» «Allein?» «Allein.» Christiane Hoffmanns Vater floh Anfang 1945 aus Schlesien. 75 Jahre später geht die Tochter denselben Weg, 550 Kilometer nach Westen. Sie kämpft sich durch Hagelstürme und sumpfige Wälder. Sie sitzt in Kirchen, Küchen und guten Stuben. Sie führt Gespräche - mit anderen Menschen und mit sich selbst. Sie sucht nach der Geschichte und ihren Narben. Ein sehr persönliches, literarisches Buch über Flucht und Heimat, über die Schrecken des Krieges und über das, was wir verdrängen, um zu überleben. Deutschland in den 1970er Jahren. Unter dem Tisch sitzen die Kinder. Oben seufzen die Erwachsenen, essen Schnittchen und reden über die verlorene Heimat. Sie geben ihre Verletzungen und Alpträume weiter an die nächste Generation. Nach dem Tod des Vaters kehrt die Tochter in das schlesische Dorf mit dem malerischen Namen zurück, nach Rosenthal, das jetzt Rózyna heißt. Am 22. Januar 2020 bricht sie auf und geht noch einmal den Weg seiner Flucht. Was bleibt heute vom Fluchtschicksal? Wie gehen Familien, wie gehen Gesellschaften, Deutsche, Polen und Tschechen mit der Vergangenheit um? Christiane Hoffmanns Buch holt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ins 21. Jahrhundert, es verschränkt ihre Familiengeschichte mit der Historie, Zeitzeugenberichte mit Begegnungen auf ihrem Weg. Doch es ist vor allem ein sehr persönliches Buch, geschrieben in einer literarischen Sprache, die Suche einer Tochter nach ihrem Vater und seiner Geschichte.

Christiane Hoffmann ist Erste Stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung. Hoffmann studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Journalistik in Freiburg, Leningrad und Hamburg. Sie arbeitete fast 20 Jahre für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und berichtete als Auslandskorrespondentin aus Moskau und Teheran. Anfang 2013 wechselte sie als stellvertretende Leiterin ins Hauptstadtbüro des «Spiegel». Seit 2018 war sie dort Autorin und häufiger Gast in Rundfunk und Fernsehen. Hoffmann ist die Tochter zweier Flüchtlingskinder. Ihre Vorfahren väterlicherseits stammen aus Schlesien, die Familie ihrer Mutter aus Ostpreußen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783406784941
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Verlag
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum17.02.2022
Auflage1. Auflage
Seiten280 Seiten
SpracheDeutsch
Illustrationenmit 12 Abbildungen und 1 Karte
Artikel-Nr.8733327
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1


Bittet aber, dass Eure Flucht
nicht im Winter geschehe.

Math24, 20

Flucht ist die letzte und radikalste Entscheidung,
die man in einem Leben treffen kann.

Aleida Assmann

Gegen acht Uhr morgens gehe ich los. Nach wenigen Schritten liegt das Dorf hinter mir, die grauen Häuser und die bunten, die verlassenen Häuser und die, in denen nur noch eine Alte lebt, die Häuser mit den jungen Familien, die Scheunen mit den eingefallenen Dächern und der helle Kirchturm. Das Dorf bleibt zurück wie es so oft zurückgeblieben ist, still und ergeben und voller Erbarmen für die Menschen, die fortmüssen, hierhin und dorthin.

Der steinerne Engel gibt mir seinen Segen, das zweibeinige Ortsschild nickt mir zu, grinst mit schiefem rotem Mund, Różyna, der Name des Dorfes, durchgestrichen von links unten nach rechts oben. Dann bin ich allein auf der Landstraße, und der Wind fällt über mich her.

Wie eine graue Steppdecke liegen die Wolken über dem weiten Land, nur am Horizont, wo die Kuppen des Riesengebirges den Himmel berühren, schimmert ein Streifen Blau. Die Eschen entlang der Straße lehnen sich nach Süden, in ihrem kahlen Geäst hängen Misteln, schwarz wie verkohlte Christbaumkugeln.

Es ist mild für Ende Januar.

Als Ihr damals aufgebrochen seid, war die Straße nach Lossen tief verschneit, die Luft eisig, sicher zwanzig Grad kälter. Es muss schon dunkel gewesen sein, nachmittags gegen fünf. Hinter Euch hörtet Ihr die sowjetische Artillerie über die Oder schießen, die Russen, wie Du immer sagtest.

Schon Tage zuvor hatte jenseits der Oder das Grollen begonnen. Der Krieg näherte sich dem Dorf als Lärm, als ein immer lauter werdender Donner jenseits des Flusses, wie ein großes Tier, ein Drache, der, nur durch das dünne Band der Oder zurückgehalten, am anderen Ufer raste und tobte. Tags zuvor hatte die Wehrmacht die Brücken gesprengt.

Als wir die Russen über die Oder schießen hörten, war einer Deiner Sätze. Sonst erinnertest Du Dich an fast nichts mehr.

Ich begann früh zu fragen, noch als Kind, aber auch damals waren schon mehr als drei Jahrzehnte vergangen seit jenem Tag, und Deine Erinnerung war geronnen wie das Blut über einer alten Wunde. Eine harte Kruste, die das, was geschehen war, mit immer gleichen Sätzen verdeckte. Ich fragte und fragte, aber Du erzähltest immer nur dieselbe Geschichte: Wie Ihr in der Hast des Aufbruchs das Oberteil Deines Matrosenanzugs vergessen hattet, die weiße Hemdbluse mit dem marineblauen Kragen, der Sonntagsstaat in einem schlesischen Bauerndorf. Er war neu, Du warst neun, Du hattest ihn zu Weihnachten bekommen und noch kein einziges Mal getragen, er lag, sagtest Du, noch in der guten Stube unter dem Christbaum.

Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, mehr war von Dir nicht zu erfahren, aber ich habe seither gelesen und mit anderen gesprochen, habe Schnipsel um Schnipsel zusammengetragen und mir ein Bild gemacht von jenem 22. Januar 1945. Es war ein Montag.

Ich weiß jetzt mehr als Du, weiß, dass schon zwei Tage zuvor, am Samstagabend, Wehrmachtssoldaten in das Dorf gekommen waren, eine motorisierte Kolonne, die sich in den Höfen entlang der Dorfstraße einquartierte. Ihr Jungen wart gerade beim Rodeln am Kirchberg, nun kamt Ihr herbeigelaufen, um die schweren Tornister der Soldaten mit Euren Schlitten in die Quartiere zu ziehen.

Am Sonntag wurde das Grollen lauter, nach der Kirche standen die Großen in Grüppchen auf der verschneiten Dorfstraße. Besorgte Gespräche: Würde man flüchten müssen? Die Angst kroch in die Bauernstuben, wo die Frauen nachts über ihre gefallenen Männer weinten und für die verschollenen Söhne beteten.

Am Montagmorgen verließ die Wehrmachtskolonne fluchtartig das Dorf, nun wurden alle unruhig. Scholzes hatten schon am Vortag gepackt und wollten sofort losfahren, aber Schütz, Bürgermeister und Parteimitglied, stand am Dorfausgang, die Pistole im Anschlag, und ließ niemanden raus. Erst am Nachmittag gegen vier kam der Befehl, das Dorf zu räumen, innerhalb einer Stunde. Nun lief Schütz von Hof zu Hof und verbreitete die Nachricht.

Deine Mutter hatte noch kaum damit begonnen, das Nötigste zusammenzupacken, es gab zu viel zu tun, nun stopfte sie Wäsche und Bettzeug in Kornsäcke und füllte eine Kiste mit Hafer für die Pferde. Die Menschen griffen, was ihnen vor die Augen kam, den geräucherten Schinken vom letzten Schweineschlachten, etwas Werkzeug, das wenige, was sie an Schmuck besaßen. Wer keinen eigenen Wagen besaß, barmte bei den Bauern darum, seine Habe auf einem der Fahrzeuge unterbringen zu dürfen.

Deine Mutter holte die Pferde aus dem Stall. Mit dem Braunen war Dein Vater vor wenigen Wochen zum Volkssturm eingezogen worden. Auf dem Hof waren zwei Pferde geblieben, so erzähltest Du, ein Lahmes und ein Junges, das noch nie vor dem Wagen gegangen war. Es gelang Deiner Mutter nicht, die Pferde einzuspannen. Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, die Pferde.

Der Donner der Geschütze wurde lauter. Der Drache bäumte sich auf über dem Dorf, spie Feuer und ließ die Menschen hastig durcheinanderrennen, die Luft rauschte, die Erde bebte, Granaten schlugen auf beiden Seiten der Häuser ein und rissen Krater in die hartgefrorenen Äcker. Die Panik des Aufbruchs ergriff die Tiere, die Kühe brüllten, die Hunde bellten und rissen an ihren Ketten. Die Mägde liefen noch einmal durch die Ställe und füllten die Tröge mit Futter, streuten den Hühnern Körner hin für drei Tage, länger würdet Ihr nicht fort sein, so hatte man Euch gesagt, Ihr solltet nur kurz aus dem Beschussbereich.

Es dämmerte. Der Nachbar half Euch beim Einspannen. Deine Mutter setzte ihre Schwiegermutter auf den Wagen und den Onkel, der lahm war wie das Pferd. Der lahme Onkel, das lahme Pferd - Ihr verwendetet für beide dasselbe Wort. Du würdest zu Fuß gehen.

Und in dieser Hast, im eiligen Zusammenraffen unter Geschützdonner und Feueratem geschah es, dass nur der halbe Matrosenanzug mit auf die Flucht kam. Das Oberteil blieb zurück und fiel den Russen in die Hände oder wurde vielleicht später von einem polnischen Jungen getragen, für Dich jedenfalls war es für immer verloren.

Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, die Pferde. Ich hörte nicht Dich in Deinen immer gleichen Sätzen, sondern andere, es waren fremde, tote Sätze, hinter die mein Fragen nicht drang. Trotzdem wollte ich die Geschichte immer wieder von Dir hören, die Erzählung über den Augenblick des Aufbruchs, den Augenblick, der alles veränderte und alles bestimmte, die Urszene unserer Familiengeschichte. Der Matrosenanzug, die Russen, die Oder, die Pferde. Nun werde ich mich an Deiner Stelle erinnern. Ich weiß jetzt mehr als Du, trotzdem habe ich noch immer den Wunsch, Dich zu fragen, auch jetzt, da das nicht mehr möglich ist.

Ich musste Schutzkleidung anziehen, wenn ich zu Dir ging. Sie lag in einem Regal im Vorraum des Krankenzimmers zwischen Schläuchen und Einwegspritzen, blassgelb, die Farbe wässrigen Nasenschleims. Die Schwester half, den Umhang zu binden, oben im Genick und hinter dem Rücken, wie einen OP-Kittel. Es war Wegwerfkleidung. Wenn man Dein Zimmer verließ, musste man sie in die große Mülltonne entsorgen, die in der Ecke stand. Einmal vergaß ich, den Umhang wegzuwerfen. Sofort bat mich eine Schwester auf dem Gang, achtsamer zu sein.

Der Mundschutz mit Gummizug um den Kopf ging bis über die Nase, am oberen Rand war ein Draht eingearbeitet, der sich in die Form der Nase biegen ließ, sodass der Mundschutz gut hielt. Ich kannte das damals noch nicht, anderthalb Jahre vor der Pandemie. Das Schlimmste waren die Gummihandschuhe. Mit Dir zu sprechen war gut, aber ich war gekommen, um Deine Hand zu halten.

Am ersten Tag beachtete ich die Regeln. So hattet Ihr es mir beigebracht. Jetzt bereue ich das, so viele Stunden, in denen ich Dich hätte berühren können. Noch ein Versäumnis.

Als meine Großmutter noch lebte, saßen die Erwachsenen manchmal abends um ihren Küchentisch: Du und Mutter, Dein Bruder Manfred und seine Frau, Großmutter, ihre Brüder und deren Söhne, die oft zu Besuch kamen. Der Zigarettenrauch mischte sich mit dem Käsegeruch der Schnittchen, die Lampe, ein Drahtgestell, das Mutter mit einem braun grundierten Blümchenstoff bezogen hatte, verbreitete schummriges Licht.

Unter dem Tisch war es fast dunkel. Dort spielten wir Kinder. Wir verglichen halb fasziniert, halb angeekelt die Beinbehaarung der Erwachsenen, die zwischen Strumpfrand und Hosensaum hervorschaute, Deine vereinzelten Strähnen und den dichten Pelz deines Bruders Manfred....
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