Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Das System Orbán

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Beck C. H.erschienen am17.03.20221. Auflage
In Ungarn findet ein auf allen Ebenen der Gesellschaft und Politik ausgetragener Kulturkampf statt. Die Gegner sind ein von Viktor Orbán immer autoritärer geführter, immer rücksichtsloser agierender Staat und eine immer schwächer werdende liberale Opposition. Die Machtverhältnisse sind so ungleich, die Entrechtung der innenpolitischen Gegner so skrupellos und effektiv, dass man kaum noch auf eine Rückkehr zu rechtsstaatlichen und freiheitlichen Verhältnissen zu hoffen wagt. Wenn man in einem freiheitlichen Land politische Verhältnisse mit dem Wort «System» beschreibt, denkt man an Despotie und Tyrannei. Für die Machthaber in Ungarn ist der Begriff «System» seit dem Triumph der Fidesz-Partei unter ihrem Führer Viktor Orbán eine honorige Bezeichnung für ihre antidemokratischen Ziele und ihre unterdrückerischen Methoden geworden. Das «System Orbán» könnte ein Zyniker vielleicht als «diskursfreie Demokratie» bezeichnen. Es stützt sich - abgesehen von den Fidesz-Parteigängern - auf die Enttäuschten, die Zurückgesetzten und Zukurzgekommenen und bietet ihnen das zur Staatsraison erhobene Prinzip der NATIONALEN ZUSAMMENARBEIT. Dessen Kern besteht aus christlich grundiertem, nationalkonservativem und letztlich autoritärem Denken. Die Entwicklung, die Europa in Ungarn mit wachsendem Entsetzten beobachtet, ist ein rechtsnational gesteuerter Kollaps aller Werte einer liberalen Demokratie. WIe sich dieser Kollaps vollzieht, wird von György Dalos anhand zahlreicher Beispiele anschaulich beschrieben und präzise analysiert.

György Dalos ist freier Autor, Historiker und Osteuropaspezialist. 2010 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2015 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Im Verlag C.H.Beck sind von ihm zuletzt erschienen: "Ungarn in der Nußschale. Ein Jahrtausend und dreißig Jahre" (2020); "Für, gegen und ohne Kommunismus. Erinnerungen" (2019); "Der letzte Zar. Der Untergang des Hauses Romanow" (2017); "Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart" (2015).
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99
E-BookPDF1 - PDF WatermarkE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextIn Ungarn findet ein auf allen Ebenen der Gesellschaft und Politik ausgetragener Kulturkampf statt. Die Gegner sind ein von Viktor Orbán immer autoritärer geführter, immer rücksichtsloser agierender Staat und eine immer schwächer werdende liberale Opposition. Die Machtverhältnisse sind so ungleich, die Entrechtung der innenpolitischen Gegner so skrupellos und effektiv, dass man kaum noch auf eine Rückkehr zu rechtsstaatlichen und freiheitlichen Verhältnissen zu hoffen wagt. Wenn man in einem freiheitlichen Land politische Verhältnisse mit dem Wort «System» beschreibt, denkt man an Despotie und Tyrannei. Für die Machthaber in Ungarn ist der Begriff «System» seit dem Triumph der Fidesz-Partei unter ihrem Führer Viktor Orbán eine honorige Bezeichnung für ihre antidemokratischen Ziele und ihre unterdrückerischen Methoden geworden. Das «System Orbán» könnte ein Zyniker vielleicht als «diskursfreie Demokratie» bezeichnen. Es stützt sich - abgesehen von den Fidesz-Parteigängern - auf die Enttäuschten, die Zurückgesetzten und Zukurzgekommenen und bietet ihnen das zur Staatsraison erhobene Prinzip der NATIONALEN ZUSAMMENARBEIT. Dessen Kern besteht aus christlich grundiertem, nationalkonservativem und letztlich autoritärem Denken. Die Entwicklung, die Europa in Ungarn mit wachsendem Entsetzten beobachtet, ist ein rechtsnational gesteuerter Kollaps aller Werte einer liberalen Demokratie. WIe sich dieser Kollaps vollzieht, wird von György Dalos anhand zahlreicher Beispiele anschaulich beschrieben und präzise analysiert.

György Dalos ist freier Autor, Historiker und Osteuropaspezialist. 2010 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2015 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Im Verlag C.H.Beck sind von ihm zuletzt erschienen: "Ungarn in der Nußschale. Ein Jahrtausend und dreißig Jahre" (2020); "Für, gegen und ohne Kommunismus. Erinnerungen" (2019); "Der letzte Zar. Der Untergang des Hauses Romanow" (2017); "Geschichte der Russlanddeutschen. Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart" (2015).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783406782107
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum17.03.2022
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.6459
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.8890316
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1
Einleitung


Das Wort «System» (rendszer) und sein dem Französischen entliehenes Synonym «Regime» (rezsim) haben im Ungarischen einen unangenehmen Beiklang. In keiner längeren Herrschaftsausübung der neueren Geschichte wurde das staatliche Gebilde als «System» bezeichnet. Die 24-jährige Regentschaft des Reichsverwesers Miklós Horthy (1920-â1944) verstand sich als «Königreich», sowohl in der Tradition der «nationalen Könige» des Mittelalters als auch des 1867 legitimierten ungarischen Teils des Habsburgerreichs. Rein formal galt damit der Staat als konstitutionelle Monarchie, allerdings ohne gekröntes Haupt und kodifiziertes Grundgesetz. Von den Kommunisten wurde Horthys Konstrukt im Rückblick pejorativ «System» oder «Regime» genannt und als «faschistisch» charakterisiert. Das knappe Vierteljahrhundert seiner Herrschaft ordnete man als «Zeitalter» (korszak) oder «Ära» (éra) ein. Eine feinere Betrachtung, die den verschiedenen Phasen des Zeitraums Rechnung trug, setzte sich erst in den 1970er und 1980er Jahren durch.

Nachdem die Kommunisten mit Unterstützung Moskaus, Wahlfälschung und Terror das Machtmonopol erlangt hatten, ließen sie sich eine ostmitteleuropäische Version des sowjetischen Modells einfallen. Dazu gehörte der tautologische Terminus «Volksdemokratie» (wörtlich «Volksmacht des Volkes») mitsamt einer neuen Konstitution. Anders als ihre Vorgänger aus der Zeit der kurzlebigen Räterepublik von 1919, in deren Verfassung die Staatsform offen als «proletarische Diktatur» bezeichnet worden war, verzichtete das kommunistische Grundgesetz von 1949 auf dieses hässliche Wort und definierte die neue Macht als «Staat der Arbeiter und der werktätigen Bauern». 1972 versuchte man die darin enthaltene eklatante Verletzung des Prinzips der staatsbürgerlichen Rechtsgleichheit ein wenig zu modifizieren. Nunmehr verkörperte die Volksrepublik einen «sozialistischen Staat», in dem die «führende Klasse der Gesellschaft, die Arbeiterklasse, die Macht im Bündnis mit dem in Kooperativen vereinten Bauerntum und gemeinsam mit der Intelligenz und anderen werktätigen Schichten der Gesellschaft ausübt». Jedoch wurde hinzugefügt: «Die führende Kraft der Gesellschaft ist die marxistisch-leninistische Partei der Arbeiterklasse.» Theoretiker und Propagandisten gebrauchten indes den Begriff «System», entweder mit der Beifügung «sozialistisches» oder direkt im Gegensatz zum «kapitalistischen» System. Zu einer friedlichen Koexistenz der beiden «Weltsysteme» gehörte auch eine akzeptable Wortwahl.

Dennoch mied man das Substantiv «System», vor allem in der juristischen Sprache. Jede für die Partei bedrohlich erscheinende Aktivität, angefangen vom simplen Witzeerzählen («Hetze») über das Schreiben von Gedichten, die Verweigerung des Wehrdienstes bis hin zum militärischen Komplott, wurde im Strafgesetzbuch als potentieller Tatbestand des Verbrechens gegen die sozialistische «Staatsordnung» und deren «Grundeinrichtungen», darunter die Partei selbst, klassifiziert. Das suspekte Wort «System» blieb in den Anklageschriften ungenannt. Es roch nach Verachtung und wurde dem Volk als Abkürzungsformel für langweilige, ideologisch besetzte Auslegungen überlassen, von der die «vox populi» auch reichlich Gebrauch machte. Prügeleien in Kneipen begannen häufig mit der provokanten Frage: «Was willst DU denn? Gefällt dir etwa das System nicht?» Und einer der bekannten Witze lautete: «Mit welchem System ist der Sozialismus am schlechtesten vereinbar? - Mit dem Nervensystem.»

Nach dem Triumph der Partei Fidesz im Frühjahr 2010, den die Sieger zur «Revolution der Wahlkabinen» deklarierten, verkündete das Parlament mit den Stimmen der Regierungsparteien, trotz des Protestes der Opposition, ein feierliches Manifest. «Die Nationalversammlung erklärt», heißt es darin, «dass im Ergebnis der Aprilwahlen ein neuer Gesellschaftsvertrag entstanden ist, mit dem sich die Ungarn für die Gründung eines neuen Systems, des Systems der Nationalen Zusammenarbeit, entscheiden. Die ungarische Nation verpflichtet mit dieser historischen Tat die zu begründende Nationalversammlung und die in Entstehung befindliche neue Regierung dazu, entschlossen, kompromisslos und unerschütterlich die Arbeit zu lenken, mit der Ungarn das System der Nationalen Zusammenarbeit aufbauen wird.» Ein Regierungserlass schrieb vor, den Text des Manifests in allen öffentlichen Gebäuden auszuhängen, eine Aufforderung, der nicht alle Institutionen nachkamen. Ohne mich auf eine eingehende Analyse des Schriftstücks und dessen Vorgeschichte einlassen zu wollen, möchte ich darauf hinweisen, dass der Begriff «System» von da an zu einem positiv konnotierten Bestandteil des Selbstverständnisses der Fidesz-Regierung und der Ära Orbán wurde.

Alle historischen Veränderungen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre hingen mit dem Kollaps der Sowjetunion zusammen, wurden jedoch in den einzelnen Ländern des ehemaligen «sozialistischen Lagers», später der «sozialistischen Gemeinschaft», unterschiedlich reflektiert. So wird der polnische Staat seit dem Amtsantritt der ersten frei gewählten nichtkommunistischen Regierung als «Dritte Republik» bezeichnet, in Anlehnung an die Erste Republik, die adelige «Rzeczpospolita» des späten 18. Jahrhunderts, sowie an die autoritär-parlamentarische Zweite Republik der Zwischenkriegszeit. Den beim Runden Tisch ablaufenden Verhandlungsprozess selbst beschrieb der Dissident Adam Michnik als «Änderung des politischen Systems». Während im Zusammenhang mit dem Niedergang der SED-Herrschaft im Westen vorwiegend das Wort «Wende» gebraucht wurde, bevorzugten die Protagonisten in der einstigen DDR den Begriff «friedliche Revolution». Die Novemberereignisse 1989 in der ÄSSR erlangten weltweit Bekanntheit als «samtene Revolution». In Rumänien trugen der Volksaufstand und der parallel verlaufende Staatsstreich, die zum Sturz der Diktatur von Nicolae CeauÈescu führten, den stolzen Namen «Revolution» ohne beschönigende Attribute - «friedlich» oder «samten» konnte man den blutigen Umsturz wohl auch kaum nennen.

Obwohl in Ungarn das Wort «Revolution» durch das heroische Pathos von 1848 und 1956 eindeutig positiv konnotiert war, etablierte sich in der Publizistik und im öffentlichen Diskurs der Ausdruck «Systemwechsel» (rendszerváltás) als Sammelbegriff für den Machtverlust der kommunistischen Partei, die Herausbildung parlamentarischer Strukturen, die Abschaffung der Zensur und die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit. Erst in der Diskussion der 1990er Jahre kam das Wort «Systemänderung» (rendszerváltozás) auf als Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem angeblich zu langsamem Tempo der Reformen oder der vermeintlich schonungsvollen Behandlung der realsozialistischen Elite. Auf solche Einwände hin, die von rechtsnationalistischen Kritikern kamen, soll der Premier József Antall den zum geflügelten Wort gewordenen Satz geäußert haben: «Wäre den Herrschaften eine Revolution eher genehm gewesen?» Damals machte auch das Substantiv «Postkommunismus» Karriere, das einen Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Gegenwart suggerierte, während die Adjektivform «postkommunistisch» negativ besetzt war und in scharfen Polemiken fast als Beschimpfung galt.

Indessen erlebte Ungarn das revolutionärste, weil alle bisherigen Verhältnisse umstülpende Moment seiner Transformation: die Umwandlung der Eigentumsverhältnisse in Gestalt der Privatisierung, analog zur ursprünglichen Akkumulation des Kapitals. Die Demokratie selbst folgte einem normal erscheinenden Rhythmus. Jede Wahlperiode zwischen 1990 und 2006 endete mit einer Rotation unter Beibehaltung der Kontinuität. Allerdings führten die steigenden Spannungen zu einer Aufspaltung der politisierenden Gesellschaft ins «linke» und «rechte» Lager. Die Hauptkraft der «Linken» war die Sozialistische Partei (MSZP), der «Rechten» die Partei Fidesz («Bürgerbund»), beide in der Wählergunst etwa gleich stark. Kleinere, sowohl liberale, konservative als auch rechtsradikale Parteien standen unter Koalitionszwang oder gerieten an die Peripherie. Bei der zunehmenden Polarisierung verfügten die Verlierer, das heißt die Sozialliberalen, über eine relativ breite Basis vor allem in der Hauptstadt sowie eine stärkere Medienpräsenz, während der Fidesz in der ungarischen Provinz seine Anhängerschaft vergrößern konnte. Noch mehr aber fiel eine Eigenart von Viktor Orbáns politischer Formation ins Gewicht: Sein Fidesz war die einzige Partei im Angebot ohne sichtbare innere Diskussionen, Fraktionsbildungen und personelle Wechsel. Gegner wurden von ihm als Feinde betrachtet...
mehr