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Elbe 511

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Europa Verlagerschienen am03.03.20221. Auflage
Vor dem Mauerbau geht Wolfgang als 20-Jähriger mit seinem Freund über die innerdeutsche Grenze, um in Westdeutschland zu arbeiten. Acht Monate später kehrt er aus Heimweh zurück. Dies hat erhebliche Konsequenzen, die sein ganzes Leben prägen werden. Denn er wird von seinem Freund denunziert und wegen angeblicher Spionage zu vier Jahren Gefängnis in Bautzen verurteilt, wo er als politischer Häftling schlimmste Schikanen und Grausamkeiten erlebt. Nach der Entlassung darf Wolfgang nicht in seinem Heimatdorf leben und wird dadurch erneut seiner Freiheit beraubt. Erneut beschließt er zu fliehen und schwimmt bei Flusskilometer 511 über die Elbe. Im Westen baut er sich eine Existenz auf, heiratet und gründet eine Familie. Nach seinem Tod in der Schweiz macht sich die Tochter auf die Suche nach der verloren gegangenen Heimat. Sie besucht das Heimatdorf ihres Vaters, das Gefängnis in Bautzen und die eingezäunte Dorfrepublik an der Elbe am 511. Flusskilometer, wo für ihren Vater die persönliche Wende begann. Anhand der Fluchtgeschichte ihres Vaters rekonstruiert die Autorin auf brillante Weise die jüngere deutsche Geschichte und spannt dabei einen Bogen vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Fall der Mauer und in die Gegenwart. Dabei wird auch deutlich, was es für den Einzelnen bedeutet, sich zur Flucht zu entschließen, und welche Auswirkungen eine solche Entscheidung auf die hat, die gehen, und auf jene, die bleiben.

Nicole Weis, geboren 1970, studierte Medizin in Hamburg und promovierte an der Universitätsklinik Tübingen. Neben ihrer Tätigkeit als Ärztin im Bereich Naturheilkunde in der Onkologie (Krebsmedizin) ist sie seit 2004 Redakteurin der 'Deutschen Zeitschrift für Onkologie'. Seit ihrem zwölften Lebensjahr schreibt sie Romane, Erzählungen und Gedichte.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextVor dem Mauerbau geht Wolfgang als 20-Jähriger mit seinem Freund über die innerdeutsche Grenze, um in Westdeutschland zu arbeiten. Acht Monate später kehrt er aus Heimweh zurück. Dies hat erhebliche Konsequenzen, die sein ganzes Leben prägen werden. Denn er wird von seinem Freund denunziert und wegen angeblicher Spionage zu vier Jahren Gefängnis in Bautzen verurteilt, wo er als politischer Häftling schlimmste Schikanen und Grausamkeiten erlebt. Nach der Entlassung darf Wolfgang nicht in seinem Heimatdorf leben und wird dadurch erneut seiner Freiheit beraubt. Erneut beschließt er zu fliehen und schwimmt bei Flusskilometer 511 über die Elbe. Im Westen baut er sich eine Existenz auf, heiratet und gründet eine Familie. Nach seinem Tod in der Schweiz macht sich die Tochter auf die Suche nach der verloren gegangenen Heimat. Sie besucht das Heimatdorf ihres Vaters, das Gefängnis in Bautzen und die eingezäunte Dorfrepublik an der Elbe am 511. Flusskilometer, wo für ihren Vater die persönliche Wende begann. Anhand der Fluchtgeschichte ihres Vaters rekonstruiert die Autorin auf brillante Weise die jüngere deutsche Geschichte und spannt dabei einen Bogen vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Fall der Mauer und in die Gegenwart. Dabei wird auch deutlich, was es für den Einzelnen bedeutet, sich zur Flucht zu entschließen, und welche Auswirkungen eine solche Entscheidung auf die hat, die gehen, und auf jene, die bleiben.

Nicole Weis, geboren 1970, studierte Medizin in Hamburg und promovierte an der Universitätsklinik Tübingen. Neben ihrer Tätigkeit als Ärztin im Bereich Naturheilkunde in der Onkologie (Krebsmedizin) ist sie seit 2004 Redakteurin der 'Deutschen Zeitschrift für Onkologie'. Seit ihrem zwölften Lebensjahr schreibt sie Romane, Erzählungen und Gedichte.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783958904514
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum03.03.2022
Auflage1. Auflage
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1152 Kbytes
Artikel-Nr.8975986
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

DER GEFRIERSCHRANK DER HERZEN

Wolfgangs Herz lag in einem Gefrierschrank, zusammen mit denen der anderen Häftlinge. Er stellte sich vor, wie sie sortiert nebeneinanderlagen. Jedes Herz hatte eine Nummer. Die Nummer, die jedem am Anfang der Untersuchungshaft zugeteilt worden war. Sein Herz mit der Nummer 392 lag in der Mitte ganz vorne im Gefrierschrank. Wie die anderen pulsierte es noch unter einer Schicht aus dünnem Eis. Es schimmerte leicht rosa. Die Blutgefäße verästelten sich, und es schien, als ob die Venen und Arterien auch eine Verbindung zu den anderen Herzen im Gefrierschrank hatten. Das Blut strömte eiskalt durch alle hindurch. Auch wenn sie ihm seinen Willen herausreißen und brechen konnten. Mit seinem Herzen schafften sie es nicht, sosehr sie sich auch bemühten.

Wenn es besonders schlimm war, stellte sich Wolfgang sein Herz im Gefrierschrank vor und wie unversehrt es war. Diese Vorstellung, dass es für die kommenden Jahre tiefgefroren dort lag, beruhigte ihn. Er wusste, dass er es wieder auftauen konnte, wenn die Zeit gekommen war. Er hatte noch keine Vorstellung, wann das sein würde. Ob in wenigen Jahren, einer halben Ewigkeit oder in einer Zeitspanne, die nur ein lächerlicher Bruchteil seines Lebens sein würde.

Letztendlich wusste er nichts von diesem Staat und traute dessen Dienern nun doch alles zu. Die Schläge und Misshandlungen hallten noch lange nach, auch wenn sie nicht bis zu seinem Herzen vorgedrungen waren. Wolfgangs Körper war es, der stellvertretend alles Leid in sich aufnahm und einsaugte.

Nach den ersten Verhören konnte er noch stundenlang auf der weißen Linie stehen bleiben, ohne einzuschlafen. Später täuschte er die Wachheit nur vor, wenn im halbstündigen Rhythmus der Wärter an seiner Zelle vorbeikam. Er war dann eine Katze, die mit nur einer Gehirnhälfte schlief.

Irgendwann schaffte er auch das nicht mehr. Von einem Moment auf den anderen klappte er wie ein Taschenmesser in sich zusammen und blieb, ohne sich abzufangen, auf dem Boden liegen. Wenn er Glück hatte, konnte er eine halbe Stunde schlafen. Spätestens dann brüllte ihn der Wärter von draußen an: 392, aufstehen! Und wenn Wolfgang nicht reagierte, schloss er die Zelle auf, kam herein und richtete ihn mit einem Schlag auf den Rücken wieder auf.

Warum kamen Sie in die Deutsche Demokratische Republik?

Ich kam zurück, um für immer hierzubleiben und wieder zu meiner Mutter zurückzukehren.

Ihre Aussagen sind unglaubwürdig. Sagen Sie wahrheitsgetreu über die Gründe Ihrer Fahrt in die Deutsche Demokratische Republik aus!

Ich verfolgte kein anderes Ziel mit meiner Rückkehr, als zu meinen Angehörigen zurückzukehren.

Ihre Aussagen sind erlogen.

Es kam die Zeit, als der Schlafmangel zu groß wurde. Erst war es nur ein Zusammenzucken bei jedem kleinsten Geräusch. Dann war es ein leichtes Zittern in den Fingern, das sich schließlich in seinem ganzen Körper manifestierte. Er versuchte sich dagegen zu wehren, sich dagegen zu stemmen mit jeder Faser seines Körpers, um nicht das sagen zu müssen, was sie hören wollten. Dass er ein verdammter Spion war. Vom Westen angeheuert, um dem Arbeiter- und Bauernstaat zu schaden. Schließlich bekannte er sich schuldig, obwohl er es nicht war und sich alles in ihm sträubte.

Wiederholen!

Ja, ich habe die Grenze ungesetzlich übertreten.

Und weiter!

Ich bekenne mich schuldig.

Sie sind ein Spion.

Ich bin kein Spion.

Sie haben hier nicht zu widersprechen.

(Wolfgang schweigt)

Es liegt an Ihnen, ob Sie mit uns zusammenarbeiten.

Verurteilt werden Sie so oder so.

Dabei war Wolfgang am 19. Mai 1959 mit seinem Freund Edgar lediglich aus Abenteuerlust und dem Wunsch nach einem besseren Leben über die offene Grenze nach West-Berlin gegangen und nicht wieder zurückgekehrt. Beide hatten keine besonderen Vorbereitungen hierfür getroffen, sondern fuhren zuerst mit dem Zug und dann mit der S-Bahn einfach nach West-Berlin. Seinem Freund, der kein Geld hatte, bezahlte er die Flucht und die Bahnfahrt. Das Geld hierfür, insgesamt 600 Ostmark, hob er von seinem Sparkonto ab. In West-Berlin gingen sie zusammen ins Notaufnahmelager der amerikanischen Zone. Schließlich blieb Wolfgang eine knappe Woche bei seiner Tante in West-Berlin, bevor er ins Flugzeug steigen durfte und die erste Zeit bei einem Onkel im Schwarzwald wohnte. So einfach war das damals, als die Mauer noch nicht gebaut war.

Und da Heimat dort ist, wo man aufgewachsen ist, kam Wolfgang wieder nach Alt Jabel zurück. In Lorch hatte er bereits eine Arbeitsstelle, aber seine Mutter schrieb ihm Briefe. Wolfgang war Anfang zwanzig und bekam nach dem ersten Weihnachten fernab von zu Hause unerträgliches Heimweh. Komm doch wieder nach Hause, schrieb sie. Und immer wieder: Dir passiert schon nichts. Ich vermisse Dich, mein Jung.

Wolfgang war einer der wenigen Menschen, die aus der DDR in den Westen gegangen und dann wieder zurückgekehrt waren. Er war jung, und er hatte wirklich geglaubt, es würde ihm schon nichts passieren.

Nachdem sie den Bus direkt vor dem Ortsschild angehalten und Wolfgang herausgezerrt hatten, rissen sie seine Hände nach hinten und legten ihm Handschellen an: Sie sind vorläufig festgenommen. Bei Widerstand wird geschossen. Wolfgang wollte protestieren, aber seine Worte kamen ins Stocken, als sie ihn voranschubsten.

Ein letztes Mal schaute Wolfgang zurück zum Ortsschild, seinem Heimatort, bevor sie ihn wie ein Stück Vieh in den Wagen trieben und auf den Boden zerrten. Seinen Kopf steckten sie in einen Stoffsack und rissen seine Hände mit den Handschellen nach oben auf die Pritsche des Wagens, auf der zwei Soldaten saßen und ihn nach unten drückten.

Wolfgang konnte durch den Sack hindurch nicht sehen, wohin sie fuhren. Außerdem war das Verdeck verschlossen, und er roch nur seinen eigenen Angstschweiß, der sich während der Fahrt immer mehr mit dem Benzingeruch vermischte.

Als der Wagen anhielt und sie ihn in ein Gebäude führten, hatte er immer noch den Sack über dem Kopf. Eine Männerstimme schrie ihn an: Gesicht zur Wand! Da er unter dem Sack nichts sehen konnte und nicht gleich reagierte, drückte eine kräftige Hand von hinten sein Gesicht in Richtung Wand, sodass er fast nicht mehr atmen konnte. Das war auch das letzte Mal, dass er mit seinem Namen angesprochen wurde: Sie werden immer verlieren, Herr G.

Insgesamt verlassen zwischen Oktober 1949 und August 1961 fast drei Millionen Bewohner das Land, etwa ein Sechstel der Gesamtbevölkerung. Die DDR droht ihre Zukunft zu verlieren.

(GEO Epoche Nr. 64, Die DDR)

In letzter Konsequenz war es den Beamten egal, was sie aus ihm herausholten und weswegen sie Anklage erhoben. In einer Atmosphäre der Konkurrenz und der Befehle konnte es nur einen Weg geben. Die Schuld lag immer bei den anderen. Bei den Republikflüchtigen, die Verbrecher waren. Bei den Menschen, die sich im Aufnahmelager des Westens befragen ließen. Oder bei den Vorgesetzten, die den Schießbefehl gegeben hatten.

Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe einzusetzen.

(Erich Honecker, 1961)

Warum sie aber trotzdem nicht einfach vorbeischossen, hatte Wolfgang noch nie verstanden. Man konnte doch zumindest so tun, als würde man zielen, und dann trotzdem das Ziel verfehlen.

So hatte er es bei seinem Freund Edgar gesehen, dessen Vater Jäger war und Edgar auch mal vom Hochstand schießen ließ. Nicht auf Menschen, aber auf Wildschweine und Rehe. Edgar, der Tiere mehr liebte als Menschen, tat dann so, als zielte er mit dem Gewehr genau in Richtung Wildschwein. Um seine Konzentration zu bekräftigen, kniff er das eine Auge professionell zu. In Wirklichkeit wusste Wolfgang, dass Edgar ein guter Schauspieler war, der nur seinem Vater zuliebe abdrückte und mit der Souveränität eines Dilettanten danebenschoss.

Weil Wolfgang meinte, Edgar richtig gut zu kennen, war die Verwunderung umso größer, als der ihn später an die Stasi verriet. Edgars Verrat war auch einer der Gründe, warum Wolfgang schon im Untersuchungsgefängnis wusste, dass er nach seiner Entlassung erneut fliehen würde.

Außerdem begann er, die Schergen, wie er sie nannte, zu hassen, weil sie sich als Autoritäten aufspielten, obwohl sie nur durch ihre Abzeichen dazu wurden. Immer wieder wurde er befragt und zu völlig willkürlichen Zeiten aus seiner Zelle geholt. Mal wartete er stundenlang auf das nächste Verhör. Und im nächsten Moment waren es plötzlich nur wenige Minuten.

Die Fragen, die sie ihm stellten, und die Mutmaßungen waren genauso irrsinnig wie die Zeiten, an denen sie ihn aus der Zelle holten....
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Autor

Nicole Weis, geboren 1970, studierte Medizin in Hamburg und promovierte an der Universitätsklinik Tübingen. Neben ihrer Tätigkeit als Ärztin im Bereich Naturheilkunde in der Onkologie (Krebsmedizin) ist sie seit 2004 Redakteurin der "Deutschen Zeitschrift für Onkologie". Seit ihrem zwölften Lebensjahr schreibt sie Romane, Erzählungen und Gedichte.
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Weis, Nicole