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Eine Insel

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am05.10.2022
Der Leuchtturmwächter Samuel lebt seit zwanzig Jahren allein auf einer Insel vor der südlichen Küste Afrikas. Abgesehen von dem Schiff, das alle zwei Wochen anlegt, um ihn zu versorgen, hat er kaum Kontakt zur Außenwelt. Dann findet er am Strand einen bewusstlosen Geflüchteten und nimmt ihn bei sich auf. Je länger sich Samuel um den Mann kümmert, desto mehr Erinnerungen kommen in ihm hoch, an Unterdrückung, Freiheitskampf, dem Verlust seiner Familie und dem Regime eines grausamen Diktators, und sein jahrzehntealtes Trauma droht die Beziehung zu seinem Schützling zu zerstören.

Karen Jennings, geboren 1982 in Kapstadt, hat bereits fünf Romane und einen Gedichtband veröffentlicht und ist Dozentin an der Stellenbosch University. »Eine Insel« (Blessing 2022) war das erste ihrer Bücher, das auf Deutsch erschien, und wurde 2021 für den Booker Prize nominiert. Karen Jennings lebt in Kapstadt.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextDer Leuchtturmwächter Samuel lebt seit zwanzig Jahren allein auf einer Insel vor der südlichen Küste Afrikas. Abgesehen von dem Schiff, das alle zwei Wochen anlegt, um ihn zu versorgen, hat er kaum Kontakt zur Außenwelt. Dann findet er am Strand einen bewusstlosen Geflüchteten und nimmt ihn bei sich auf. Je länger sich Samuel um den Mann kümmert, desto mehr Erinnerungen kommen in ihm hoch, an Unterdrückung, Freiheitskampf, dem Verlust seiner Familie und dem Regime eines grausamen Diktators, und sein jahrzehntealtes Trauma droht die Beziehung zu seinem Schützling zu zerstören.

Karen Jennings, geboren 1982 in Kapstadt, hat bereits fünf Romane und einen Gedichtband veröffentlicht und ist Dozentin an der Stellenbosch University. »Eine Insel« (Blessing 2022) war das erste ihrer Bücher, das auf Deutsch erschien, und wurde 2021 für den Booker Prize nominiert. Karen Jennings lebt in Kapstadt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641292867
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum05.10.2022
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1355 Kbytes
Artikel-Nr.9099171
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Zum ersten Mal lag ein Ölfass am Kiesstrand der Insel. Dabei war im Laufe der Jahre alles Mögliche angespült worden - zerfetzte Hemden, Taue, kaputte Plastikdeckel von Lunchboxen, geflochtene Zöpfe aus täuschend echt aussehendem Kunsthaar. Leichen. So auch heute wieder. Hingestreckt neben dem Fass, die eine Hand danach gereckt, als hätten beide, Leiche und Fass, die Reise zusammen angetreten und wollten nun nicht mehr voneinander lassen.

Durch eines der kleinen Fenster im Leuchtturm hatte Samuel, als er am Morgen vorsichtig nach unten gestiegen war, zunächst nur das Fass entdeckt. Er musste beim Treppensteigen gut aufpassen. Die alten Steinstufen waren die reinsten Stolperfallen - glatt und in der Mitte stark ausgetreten. Wo der Beton es zuließ, hatte er Eisengriffe montiert, aber auf dem Rest der Treppe musste er sich mit ausgebreiteten Armen an den Wänden entlangtasten, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Das Fass war aus Plastik, blau wie ein Blaumann, und während Samuel zum Strand hastete, dümpelte es vor ihm in der Dünung. Die Leiche sah er erst, als er unten angekommen war. Er machte einen Bogen darum und besah sich das Fass aus der Nähe. Es war so dick wie ein Präsident und hatte, soweit er erkennen konnte, weder Risse noch Löcher.

Er hob es vorsichtig an. Es war leer, das Spundloch dicht. Trotz des geringen Gewichts war es erstaunlich unhandlich. Mit seinen knotigen Händen würde es Samuel nicht gelingen, es über den steinigen Strand, die Felsen und auf dem sandigen Weg durch Gestrüpp und Gräser nach oben, bis zu seinem kleinen Haus neben dem Leuchtturm zu bugsieren. Wenn er es schaffte, sich das Fass mit einem Seil auf den Rücken zu binden, bräuchte er die alte Holzschubkarre nicht zu holen, die mit ihrem halb zersplitterten Rad überall hängen blieb und dauernd umkippte, weil sie so schwer war.

Ja, das Fass huckepack zu nehmen wäre wohl die beste Lösung. Anschließend würde er aus dem Sammelsurium aus morschen Planken und Planen im Hof seine rostige Bügelsäge ausgraben, das Blatt abschmirgeln und so gut wie möglich schleifen, das Fass oben aufsägen und an die Hausecke stellen, wo immer die Regenrinne überlief, um darin Wasser für den Gemüsegarten zu sammeln.

Samuel ließ das Fass los. Es taumelte auf dem unebenen Untergrund hin und her und klatschte gegen den Arm des Toten. Den hatte er völlig vergessen. Er seufzte. Es würde ihn den ganzen Tag kosten, die Leiche zu beseitigen. Den ganzen Tag. Erst abtransportieren und dann begraben - wobei auf der felsigen Insel mit der dünnen Sandschicht ein Begräbnis sowieso nicht infrage kam. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Toten mit Steinen zu bedecken, wie er es seit Jahren mit allen angespülten Leichen machte. Aber dieser Tote war ein ziemlich großer Brocken. Nicht von der Breite her, aber von der Länge. Doppelt so lang wie das Fass, als hätte ihn der Seegang durch die Mangel gedreht.

Er hatte kräftige Arme, unverhältnismäßig kräftig im Verhältnis zu seinem nackten Oberkörper mit der scharf hervortretenden Wirbelsäule und den deutlich sichtbaren Rippen. Auf den Schulterblättern kräuselten sich feine schwarze Härchen, genau wie unten auf dem Rücken, am Bund der grauen Denim-Shorts. Die gleichen Löckchen, zu klein für einen Mann seiner Größe, fanden sich auch an den Beinen und Zehen, an den Unterarmen und auf den Fingern. Samuel war verwirrt. Solche Haare hatte sonst nur ein neugeborenes Tier oder ein Baby, das zu lange im Mutterleib gewesen war. Was war das für ein Geschöpf, das der Ozean hier auf den Steinen geboren hatte?

Während die Vormittagssonne höher stieg, überzogen sich die ersten Löckchen mit silbrigen Salzkristallen. Auch das Kopfhaar des Toten war grau, grau vom Sand. An der Stirn und dem einen geschlossenen Auge, das Samuel sehen konnte, klebten Sandkörner. Der Rest des Gesichts war gegen die Schulter gepresst.

Samuel knurrte unwillig. Die Leiche musste warten. Das Fass ging vor. Wenn das Meer den Toten am nächsten Morgen nicht wieder mitgenommen hatte, konnte er immer noch ein paar Felsbrocken spalten, bis er genügend kleinere Steine beisammenhatte, um ihn zuzudecken.

Im dreiundzwanzigsten Jahr als Leuchtturmwärter war es seine zweiunddreißigste Leiche. Zweiunddreißig namenlose Leichen, die keiner haben wollte. Anfangs hatte Samuel die Leichen noch gemeldet, als die Regierung neu und der Versprechungen viele waren, als nach einem Vierteljahrhundert der Diktatur das Chaos herrschte und man noch versuchte, die Toten und Vermissten zu finden. Beim ersten Mal waren Beamte gekommen, ausgestattet mit Klemmbrettern und einem Dutzend Leichensäcken, und hatten die Insel nach verscharrten Opfern abgesucht, nach zwischen den Felsen eingeklemmten Überresten, nach Knochen und Zähnen, im kiesigen Sand zu Bröckchen zerfallen.

»Sie verstehen«, erklärte die Frau, die das Sagen hatte, während sie am Absatz ihres Lackschuhs eine Schramme inspizierte. »Wir haben es versprochen. Wir müssen alle finden, die unter dem Diktator gelitten haben, um als Nation voranschreiten zu können. Außerhalb der Hauptstadt haben meine Kollegen auf einer Wiese ein Grab mit mindestens fünfzig Leichen entdeckt. Ein anderer Kollege ist im Wald auf die Überreste von sieben Erhängten gestoßen. Die noch an den Bäumen hingen, nach all der Zeit! Wer weiß, wie viele wir hier bei Ihnen finden? Sicher jede Menge, davon bin ich überzeugt. Die Insel eignet sich ideal als Deponie.«

»Meinen Sie?«

»Aber ja, sehen Sie sich doch um.« Sie machte eine weit ausholende Geste. »Meilenweit keine Menschenseele. Nicht einer, der etwas sieht oder hört oder tut.« Sie beugte sich zu ihm, senkte die Stimme. »Man munkelt, dass es geheime Lager gegeben haben soll, ähnlich wie Konzentrationslager, Todescamps für Dissidenten. Natürlich wissen wir noch nicht, ob das wirklich der Wahrheit entspricht. Wir haben bis jetzt keine Beweise dafür gefunden, aber meinen Sie nicht auch, dass man sich so etwas durchaus hier vorstellen könnte? Ein Camp für Todgeweihte?«

Weil Samuel nicht antwortete, wandte sich die Frau von ihm ab und rief einem Mann aus dem Team etwas zu, tippte auf ihre Armbanduhr. »Weitersuchen«, sagte sie, nachdem er den Kopf geschüttelt hatte. Sie drehte sich wieder zu Samuel um. »Erst wenn wir die Toten gefunden haben, kann der Heilungsprozess beginnen. Für die Nation, für uns alle. Vorher können sich die Wunden nicht schließen. Aber dafür brauchen wir die Leichen.«

Als sich ihre Mitarbeiter nacheinander mit leeren Händen bei ihr einfanden, die angespülte Leiche als einzige Ausbeute des Tages, lief sie, ohne sich zu verabschieden, zum Boot - ein überstürzter Abschied. Samuel hörte nie wieder etwas von ihr, genauso wenig wie von ihrer Abteilung. Weder erfuhr er, was aus seinem Toten geworden noch wer er gewesen war.

Monate oder vielleicht sogar ein ganzes Jahr später fand er drei kleine Leichen. Ein Junge, ein Mädchen, ein in eine Decke gewickeltes Baby lagen nebeneinander am Strand. Damals funktionierte das Funkgerät des Leuchtturms noch, und er hatte seinen Fund ans Festland durchgegeben. Die Frau rief ihn zurück, ihre Stimme klang statisch abgehackt.

»Was für eine Hautfarbe haben sie?«

»Wie bitte?«

»Was für eine Hautfarbe? Die Leichen. Was für eine Hautfarbe?«

Er schwieg.

»Ich muss es wissen. Sind sie dunkler als wir - also dunkelhäutiger? Sind sie dunkler als Sie und ich?«

»Ich glaube schon.«

»Und der Gesichtsschnitt? Sind die Gesichter länglicher? Was für Wangenknochen haben sie?«

»Ich weiß nicht. Es sind Kinder. Sie sehen aus wie Kinder.«

»Hören Sie, wir haben alle Hände voll zu tun. Mit echten Verbrechen. Mit tatsächlichen Gräueltaten, ja? Wir können nicht jedes Mal auf die Insel kommen, wenn irgendwelche Ausländer auf der Flucht ertrinken. Die gehen uns nichts an.«

»Und was soll ich mit ihnen machen?«

»Das ist uns egal. Wir wollen sie jedenfalls nicht haben.«

Damals hatte er bereits angefangen, den Gemüsegarten hinter dem Haus anzulegen. Von seinem Lohn hatte er auf dem Festland Mutterboden, Saatgut und Stecklinge bestellt und zum Schutz der jungen Pflänzchen rundum eine Trockenmauer gebaut. Dafür hatte er auf der Insel alle ziegelgroßen Steine eingesammelt und so lange auf- und ineinandergeschichtet, bis die Konstruktion hoch und lang genug war. Danach ließ er sich einen Vorschlaghammer kommen und rückte damit den großen Steinen und Felsbrocken an der Küste zu Leibe. Die Trümmer benutzte er ebenfalls als Baumaterial. Ganz allmählich veränderte sich die Gestalt der Insel. Ein Hubschrauberpilot, der regelmäßig darüber hinweggeflogen wäre, hätte bemerkt, wie sich die kleinen Buchten nach und nach verbreiterten und aus scharf gezackten Linien sanfte Biegungen wurden.

Samuel zog die Mauer hoch, bis die ganze Insel dahinterlag. In diese äußere Schutzwand baute er die Leichen ein. Meistens durchsuchte er sie vorher, ob sie irgendwelche Papiere bei sich hatten, doch er fand nie etwas Brauchbares in ihren Taschen. Höchstens einmal, in der Faust eines alten Mannes, ein zu Brei zerquetschtes Bündel Geldscheine. Samuel begrub ihn mit dem Geld. Er mauerte die Toten möglichst weit von seinem Häuschen entfernt ein, damit ihn der Verwesungsgeruch nicht erreichen konnte. Trotzdem zogen sie Möwen an, die wochenlang kreischend über der Stelle kreisten und versuchten, pickend zu ihnen vorzudringen. Mit der Zeit lernte er, die Hohlstellen im Fuß der Mauer zu verstärken, sodass sie unten etwas ausbeulte. Trotzdem...

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Autor

Karen Jennings, geboren 1982 in Kapstadt, hat bereits fünf Romane und einen Gedichtband veröffentlicht und ist Dozentin an der Stellenbosch University. »Eine Insel« (Blessing 2022) war das erste ihrer Bücher, das auf Deutsch erschien, und wurde 2021 für den Booker Prize nominiert. Karen Jennings lebt in Kapstadt.