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Die Ewigkeit ist ein guter Ort

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am19.07.20221. Auflage
Eine Geschichte über Festhalten und Loslassen, Himmel und Erde und das, was dazwischen ist. Elke ist eine junge Pastorin, die in Köln arbeitet. Als sie eines Tages einer alten Dame am Sterbebett das Vaterunser sprechen soll, kommt ihr kein Wort über die Lippen. Sie hat den Text vergessen, und zwar sämtlicher Gebete. Ist das Gottdemenz?  Elke beschließt, in die norddeutsche Provinz zu fahren, an den Ort ihrer Kindheit. Doch auch nach all den Jahren fühlt es sich seltsam an, mit ihren Eltern am Esstisch zu sitzen, wenn der vierte Platz leer bleibt. Elke trifft Eva wieder, die ehemalige Freundin ihres Bruders, der damals zu weit im See hinausschwamm. Und während sie am Ufer sitzt und aufs Wasser schaut, ahnt Elke, wo sie beginnen muss, nach den verloren gegangenen Worten zu suchen. Ein hinreißender Roman voller Leichtigkeit und Tiefe, wortgewandt und fantasievoll. Für einen Auszug aus diesem Debüt gewann Tamar Noort den Hamburger Literaturpreis.

Tamar Noort, geboren 1976 in Go?ttingen, ist in den Niederlanden aufgewachsen. Sie studierte Kunst- und Medienwissenschaften sowie Anglistik in Oldenburg und Newcastle upon Tyne und hat die Masterclass Non-Fiction an der Internationalen Filmschule Köln absolviert. Seit 2009 macht sie Dokumentationen fu?r ZDF, Arte und 3sat mit dem Schwerpunkt Wissenschaft. Für einen Auszug aus ihrem Debüt «Die Ewigkeit ist ein guter Ort» gewann sie 2019 den Hamburger Literaturpreis. Sie war Stipendiatin im Writers´ Room Hamburg und in den Künstlerhäusern Worpswede. Tamar Noort lebt in der Nähe von Lüneburg.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextEine Geschichte über Festhalten und Loslassen, Himmel und Erde und das, was dazwischen ist. Elke ist eine junge Pastorin, die in Köln arbeitet. Als sie eines Tages einer alten Dame am Sterbebett das Vaterunser sprechen soll, kommt ihr kein Wort über die Lippen. Sie hat den Text vergessen, und zwar sämtlicher Gebete. Ist das Gottdemenz?  Elke beschließt, in die norddeutsche Provinz zu fahren, an den Ort ihrer Kindheit. Doch auch nach all den Jahren fühlt es sich seltsam an, mit ihren Eltern am Esstisch zu sitzen, wenn der vierte Platz leer bleibt. Elke trifft Eva wieder, die ehemalige Freundin ihres Bruders, der damals zu weit im See hinausschwamm. Und während sie am Ufer sitzt und aufs Wasser schaut, ahnt Elke, wo sie beginnen muss, nach den verloren gegangenen Worten zu suchen. Ein hinreißender Roman voller Leichtigkeit und Tiefe, wortgewandt und fantasievoll. Für einen Auszug aus diesem Debüt gewann Tamar Noort den Hamburger Literaturpreis.

Tamar Noort, geboren 1976 in Go?ttingen, ist in den Niederlanden aufgewachsen. Sie studierte Kunst- und Medienwissenschaften sowie Anglistik in Oldenburg und Newcastle upon Tyne und hat die Masterclass Non-Fiction an der Internationalen Filmschule Köln absolviert. Seit 2009 macht sie Dokumentationen fu?r ZDF, Arte und 3sat mit dem Schwerpunkt Wissenschaft. Für einen Auszug aus ihrem Debüt «Die Ewigkeit ist ein guter Ort» gewann sie 2019 den Hamburger Literaturpreis. Sie war Stipendiatin im Writers´ Room Hamburg und in den Künstlerhäusern Worpswede. Tamar Noort lebt in der Nähe von Lüneburg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644011885
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum19.07.2022
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2502 Kbytes
Artikel-Nr.9140961
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Einmal im Jahr herrscht in Köln Schunkeldiktatur, und die Stadt verliert kollektiv ihre Würde. In der Bahn kopulieren Krankenschwestern mit Eisbären, im Supermarkt sitzt ein Hase an der Kasse, und der alte Mann von nebenan führt seinen Hund aus im Clownskostüm.

Du hast halt eine norddeutsche Seele, sagen die Rheinländer, du verstehst das nicht. Aber Karneval ist für mich mehr als eine kulturelle Meinungsverschiedenheit. Es ist eine Zeit, in der man sich auf nichts verlassen kann. Niemand ist einfach, wer er ist. Ich empfinde das als Betrug.

Das Einzige, woran man sich festhalten kann, ist der Tod. Gestorben wird immer, auch in der fünften Jahreszeit.

Ich meldete mich jedes Jahr freiwillig, um im Seniorenheim den Seelsorge-Dienst für die Karnevalstage zu übernehmen. Ich liebte dieses Ehrenamt. Während meine Kollegen mit bunten Perücken und geröteten Wangen dicht an dicht in Kneipen standen und nach Beute Ausschau hielten, die sich für eine Nacht erlegen ließ, sprach ich im Albertusstift mit Menschen, die vor ihrer letzten großen Reise standen. Wenn ich bei ihnen am Sterbebett saß, sah ich in ihren Augen etwas Wahrhaftiges, eine Ruhe, die mir imponierte.

Es war Karnevalsdienstag, das Schlimmste war vorbei, als ich zum Dienst gerufen wurde. Eine alte Dame hatte ihre letzten Stunden vor sich. Sie hieß Alma.

«Gott soll wissen, dass ich im Anmarsch bin», sagte sie, schloss die Augen und wartete darauf, dass es losging. Ich nahm ihre Hand und sprach die ersten Zeilen des Vaterunser. Aber nach Dein Wille geschehe kam nichts mehr. Ich konzentrierte mich, irgendwas mit Schuld und Brot und Ewigkeit. Alma hielt die Augen geschlossen. Ich fing noch mal von vorne an, und mein Körper erinnerte sich zwar an Rhythmus und Klang, aber nicht an Sätze, die Sinn ergeben. Alma wartete, also reihte ich Brot und Schuld und Ewigkeit aneinander, ich verband sie mit Murmelphrasen, die nach Gebet klangen. Es war eine Art Sampling-Version, bei der nur noch der Beat stimmte, eine Neuinterpretation des Originals. Alma schien einverstanden, jedenfalls beschwerte sie sich nicht. Kurze Zeit später kam ihre Tochter und hielt ihre Hand, bis sie friedlich einschlief.

Ich hatte meine Mission erfüllt - aber mich ergriff Panik.

 

«Kann doch mal passieren, ich vergesse ständig was», sagte Jan und schenkte Kaffee ein. Jan war nicht aus der Fassung zu bringen. Niemals. Er verströmte Gleichmut wie andere einen Körpergeruch.

«Und wenn es Frühdemenz ist?», sagte ich und probierte aus, was ich noch auswendig konnte. John Maynard war unser Steuermann. Aushielt er, bis er das Ufer gewann ... Fontane, check. Walle, walle, manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe, und mit reichem, vollem Schwalle ... Goethe, check. Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche ... Jan hob eine Augenbraue, aber: check. Und jetzt. Vater unser im Himmel. Geheiligt werde dein Name. Jan googelte das Vaterunser und las mit. Live-Kontrolle. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe ... Jan blickte auf. Es kam nichts mehr.

Ich versuchte die Dauerbrenner meiner Jugend aus dem Konfirmandenunterricht. Von guten Mächten wunderbar geborgen ... Nichts. Danke für diesen guten Morgen ... Funkstille. Ich probierte Taizé-Gesänge, die eh nur aus drei Zeilen bestehen. Über die erste Zeile kam ich nicht hinaus.

Gegen Abend, nach einer soliden Darbietung von Schillers Glocke, stand endgültig fest: Ich konnte fehlerfrei alle Gedichte und Lieder rezitieren, die ich seit meiner Kindheit auswendig gelernt hatte, aber sobald Gott involviert war, streikte mein Gehirn.

«Vielleicht ist es Gottdemenz», sagte ich.

«Was soll das denn sein?», fragte Jan.

«Einfach eine Berufskrankheit, bei der man die Dinge vergisst, die einem besonders wichtig sind.»

«Die speichert man doch doppelt und dreifach ab.»

Jan tat das tatsächlich. Ich war aber ziemlich sicher, dass das zum Berufsbild von Software-Entwicklern gehörte.

«Dann ist irgendwas mit meiner Festplatte.»

«Ausschalten, morgen wieder einschalten, funktioniert immer.» Jan trank seinen Wein aus.

 

Ich schlief die ganze Nacht nicht. Mir fiel diese Optimierungssoftware ein, die Daten abgleicht und löscht, wenn sie zu alt oder doppelt vorhanden sind. Ich hatte eine ähnliche Unordnung in meinen Gottesangelegenheiten und war schon länger damit beschäftigt, «den Kopf frei zu kriegen». So erklärte ich es jedenfalls meinen Eltern, und sie verstanden es, denn sie überwiesen mir immer noch monatlich etwas Geld, obwohl ich auf die dreißig zuging und mein Studium vor über einem Jahr abgeschlossen hatte.

Am Tag meiner letzten Prüfung empfingen meine Eltern mich mit Blumen und Kuchen und einem Strahlen im Gesicht. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich die beiden das letzte Mal so glücklich gesehen hatte, und es bereitete mir Unbehagen, dass ich diejenige sein sollte, die das verursacht hatte. Mein Vater klopfte mir auf die Schulter, eine Geste, die ganz neu war, die er offenbar aufgehoben hatte für den Moment, in dem wir nicht mehr nur Vater und Tochter sind, sondern Kollegen. Ich schüttelte seine Hand ab, denn noch war ich nichts weiter als seine Tochter, und ich fand, dass das vollkommen ausreichte.

Nach dem zweiten Glas Sekt sagte meine Mutter zu ihm, er könne nun endlich kürzertreten, und da beschlich mich das Gefühl, dass sie gar nicht nur glücklich für mich waren, sondern auch für sich.

Mein Vater war Pastor einer evangelischen Kirchengemeinde. Ich hatte schon als Kind auf der Kanzel gespielt, von der er eines Tages verkünden würde, wer ihm nachfolgen sollte. Dass ich das sein könnte, wünschten meine Eltern sich schon lange. Aber mein Vater hatte es nie offen gesagt. Es lag nur in der Luft, unsichtbar, aber deutlich zu spüren.

Mir prickelte der Sekt hinten in der Kehle.

«Ich muss erst mal den Kopf frei kriegen», sagte ich, «bevor ich gleich eine ganze Gemeinde übernehme.»

Mein Vater nickte etwas heftiger als nötig, dem Sekt geschuldet oder der Erleichterung, dass er nicht sofort in Rente gehen musste.

«Du sagst Bescheid, wenn du so weit bist.»

Ich nickte, aber das war jetzt ein Jahr her, und mein Kopf war immer noch nicht frei.

Und jetzt war der Schöpfer des Himmels und der Erden mir zuvorgekommen und hatte die Arbeit für mich erledigt. Gott hatte den Platz geräumt, den er in meinem Kopf besetzt hatte, und etwas hinterlassen, was mir größere Angst machte als alles andere:

Freier Raum.

 

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Fahrrad zum Albertusstift. Ich mochte die Ruhe, die über der Stadt lag. Die Karnevalsflüchtlinge waren noch nicht zurück, und der Rest lag noch im Bett. An der Ampel hielt ich an. Jetzt. Ausschalten, einschalten, hatte Jan gesagt. Es fühlte sich an, als hätte ich nur den einen Versuch. Wenn das nicht klappte, war die Festplatte hin.

Vater unser im Himmel.

Auf der Gegenseite der Ampel versammelten sich ein paar Restfeiernde.

Vater unser im Himmel. Dein Reich komme.

Da fehlte doch was. Da kam was zwischen. Die Ampel sprang um, und ich fuhr los. Die Verkaterten kamen mir entgegen. Einer schwankte, er trat mir mitten vors Rad. Ich riss den Lenker um und fiel fast hin. Als ich wieder fest im Sattel saß, waren die Satzfetzen verschwunden.

Ich würde ohne Gott zum Dienst erscheinen.

 

Im zerknitterten Vikinger-Kostüm lag Gert auf dem kleinen Sofa in unserem Dienstbüro und bedeckte sein Gesicht mit dem Arm. Offenbar fühlte er sich der blassen Februarsonne, die hineinschien, nicht gewachsen. Mit dem anderen Arm umklammerte er eine Wasserflasche. Ein Bein stand angewinkelt auf dem Boden, gegen den Schwindel. Er war eindeutig nicht einsatzbereit, was auch gar nicht nötig war, denn er hatte sich die Karnevalstage freigenommen. Wahrscheinlich hatte er keinen anderen Ort gefunden, an dem er seinen Rausch ausschlafen konnte.

Gert war mein Chef, aber seine Autorität litt unter dem Fake-Fellumhang und dem Helm mit zwei monströsen Hörnern, der auf dem Boden lag.

«Na, brauchtest du ein Bett?» Ich stellte meine Tasche ab.

Gert schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf, wühlte in einem Fellbeutel herum, der an seinem Ledergurt hing, und streckte seine Faust in die Höhe. Darin hielt er sein Handy.

«Alma», brachte er hervor.

«Hat sie aus dem Jenseits angerufen?» Es klang schnippischer, als ich wollte. Gert war ein begnadeter Seelsorger, der sich hingebungsvoll um die Senioren im Albertusstift kümmerte. Er liebte Menschen, bedingungslos. Ganz gleich, ob sie gerade im Sterben lagen oder mit ihm Karnevalslieder grölten.

«Die Tochter ...» Er richtete sich langsam auf und sah mich aus halb offenen Augen an. Sie waren rot. «... hat mir eine Nachricht hinterlassen, dass ihre Mutter ...», er machte eine Pause und blickte an die Decke, als würde die Nachricht dort erscheinen, «... die nichts weiter wollte als ein letztes, ein gemeinsames Gebet ...»

Mir wurde heiß. Ich hatte Alma für diskret gehalten.

«Alma hat ihr gesagt, es gab eine Art Gebetebrei.» Gert saß jetzt aufrecht. Er sah genauso wach aus wie sonst. «Und die Tochter fragt sich nun, wer sich zu Karneval mit ihrer sterbenden Mutter einen Scherz erlaubt hat.»

Ich setzte mich auf den Schreibtischstuhl. Behutsam, damit die Knie nicht zu früh nachgaben.

«Oder wer betrunken zum Dienst erschienen ist.»

Gert blickte mich an. Ich spürte, wie die Röte sich in meinem ganzen Gesicht ausbreitete. Meine Wangen...
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Tamar Noort, geboren 1976 in Göttingen, ist in den Niederlanden aufgewachsen. Sie studierte Kunst- und Medienwissenschaften sowie Anglistik in Oldenburg und Newcastle upon Tyne und hat die Masterclass Non-Fiction an der Internationalen Filmschule Köln absolviert. Seit 2009 macht sie Dokumentationen fu¿r ZDF, Arte und 3sat mit dem Schwerpunkt Wissenschaft. Für einen Auszug aus ihrem Debüt «Die Ewigkeit ist ein guter Ort» gewann sie 2019 den Hamburger Literaturpreis. Sie war Stipendiatin im Writers¿ Room Hamburg und in den Künstlerhäusern Worpswede. Tamar Noort lebt in der Nähe von Lüneburg.