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Wir holen uns die Nacht zurück

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
dtv Verlagsgesellschafterschienen am17.08.20221. Auflage
Kann man jemanden retten, der nicht gerettet werden will? Ilvy und Kaja. Zwei Mädchen, die im selben Haus aufwachsen und doch aus ganz unterschiedlichen Welten kommen. In ihrer Kindheit stehen sie sich fast so nah wie Schwestern. In der Pubertät ziehen sie zusammen los. Gemeinsam entdecken sie Jungs, Partys und Drogen. Aber mit der Zeit zeigt sich ein Riss. Was Ilvy gleichermaßen fasziniert und beunruhigt, wird für Kaja zum Mittelpunkt. Sie droht immer mehr in die Sucht abzurutschen. Ilvy muss herausfinden, wie sie Kaja schützen kann, ohne sich selbst zu verlieren.

Nora Hoch, geboren 1983 in Bochum, studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und arbeitet als Dramaturgin und Theaterpädagogin in Berlin. Mit ihrem Debütroman >Das Salzwasserjahr< war sie für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis und den Evangelischen Buchpreis nominiert.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextKann man jemanden retten, der nicht gerettet werden will? Ilvy und Kaja. Zwei Mädchen, die im selben Haus aufwachsen und doch aus ganz unterschiedlichen Welten kommen. In ihrer Kindheit stehen sie sich fast so nah wie Schwestern. In der Pubertät ziehen sie zusammen los. Gemeinsam entdecken sie Jungs, Partys und Drogen. Aber mit der Zeit zeigt sich ein Riss. Was Ilvy gleichermaßen fasziniert und beunruhigt, wird für Kaja zum Mittelpunkt. Sie droht immer mehr in die Sucht abzurutschen. Ilvy muss herausfinden, wie sie Kaja schützen kann, ohne sich selbst zu verlieren.

Nora Hoch, geboren 1983 in Bochum, studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in Hildesheim und arbeitet als Dramaturgin und Theaterpädagogin in Berlin. Mit ihrem Debütroman >Das Salzwasserjahr< war sie für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis und den Evangelischen Buchpreis nominiert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423446266
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum17.08.2022
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2723 Kbytes
Artikel-Nr.9147027
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1 Seegras und Stroboskop

Wir werden immer schneller. Eine Hand lasse ich am silbrig glänzenden Lenker, die andere halte ich seitlich von mir gestreckt. Den linken Arm ganz lang, die Finger aufgespreizt. Wir rasen bergab. Im Bauch dieses Kribbeln.

»Lass los«, ruft Kaja.

»Ich kann nicht«, sage ich. Sehe aus dem Augenwinkel, wie Kaja beide Arme ausgestreckt hat, ausgebreitet wie Flügel. Sie ist ein großer Kaja-Vogel, der durch die Nacht rauscht.

»Nimm meine Hand«, ruft sie. Lächelt mir zu und lässt es so leicht aussehen.

Ich will dieses Lächeln greifen, will die Hand danach ausstrecken, aber das Rad ist nicht stabil bei diesem Tempo. Fahrtwind drückt in meine Ohren. Die Pedale immer auf und nieder. Hämmernder Herzschlag, Lenker, Bremse, Licht.

Die Räder drehen sich so, wie der Abend verfliegt, von ganz allein.

Die Straße zieht sich scheinbar endlos.

»Du kannst das. Ich bleibe dicht neben dir«, ruft Kaja. Und wirklich, sie bleibt so nah neben mir, wie es geht. Alles in Ordnung also, versuche ich mich zu beruhigen. Kaja lehnt sich zurück, ein Träger von ihrem roten Top ist heruntergerutscht, auf ihren Schultern leuchtet der Sonnenbrand des Tages. Sommerbild mit Rad.

Kaja singt Dance Monkey. Melodie und Textbruchstücke vermischen sich mit dem Wind und dem Surren des Dynamos.

Ganz langsam löse ich meine Finger vom Griff. Einen nach dem anderen.

»Dance for me, dance for me, dance for me ... oh ohho ...«

Ich strecke meinen rechten Arm aus, sodass meine Fingerspitzen Kajas Fingerkuppen berühren. Einen Moment nur, einen kurzen, großartigen Moment.

»Wohooo!«, rauscht Kajas Stimme über den Fahrtwind, dann gleiten ihre Finger vorbei. Kaja ist einen Bruchteil schneller als ich.

Wir können den Wind nicht sehen, aber wir fühlen ihn, hören, wie er um die Häuser pfeift, die Blätter rauschen lässt und Kajas Haare nach hinten und oben treibt.

Ohne Kaja würde ich die besten Momente in meinem Leben verpassen. Sie würden nicht zustande kommen oder einfach an mir vorbeiziehen. Die schlimmsten allerdings genauso.

Es wäre nicht richtig zu sagen, dass ich ängstlich bin. Aber ich bin durch und durch das, was man zögerlich nennt. Nicht weil ich das gut finde, sondern einfach weil ich wirklich lange brauche, um einen Entschluss zu fassen. Meistens bin ich so sehr damit beschäftigt, zu beobachten, abzuwägen und nachzudenken, dass bei jeder Gelegenheit schon Stunden verstrichen sind, bevor ich auch nur ansatzweise entschieden habe, was ich tun will.

Kaja ist da ganz anders. Nicht nur da. Kaja weiß immer genau, was sie will und was nicht. Egal, was passiert. Sie kann jederzeit losrennen, zugreifen, Türen zuschlagen, jemanden angreifen oder jemanden küssen. Sie muss nicht lange grübeln, ob das eine gute Idee wäre. Sie muss nicht in sich hineinhorchen, ob sie sich sicher ist. Sie ist sich sicher. Ganz heiß oder ganz kalt. Schwarz oder Weiß, ja oder nein.

Ich hänge die meiste Zeit im Vielleicht fest. Dann ist es Kaja, die mich mit sich zieht, auf die eine oder andere Seite. Und auch wenn es komisch klingt, ist das gut so, weil nur so etwas Großes passieren kann. Etwas berauschend Schönes, oder auch etwas schmerzhaft Grauenvolles. Aber immerhin etwas Echtes. Eins von diesen Puzzleteilen, die mein Leben bilden.

»Wir sind daaaaaaaa!!!«, ruft Kaja in die Nacht. Schließt die Augen und kreischt wie eine Eule, während der Weg unter ihr dahinsaust. Wir radeln und rasen die Straße entlang, ohne zu verlangsamen. Bremsen erst kurz vorm Club ab. Meine Bremse quietscht, dass es in den Zähnen zieht.

 

Schweißnasse Shirts kleben auf wartenden Rücken. Es riecht nach Menschen, nach Sommer, nach Bier. In der Schlange vor dem Club schwitzen wir alle gleich. Egal, wie unterschiedlich wir sind. Alle immer anders als all die anderen anders sind. Klar. Aber hier ist das egal. Alter, Geschlecht, Herkunft. Wen interessiert´s? Wir alle warten, schwitzen, wanken vor und zurück. Rempeln einander angetrunken und unfreiwillig an, lassen uns hin und her treiben wie Seegras. Wenn ich die Augen schließe und sich alles schon ein wenig dreht, sind da viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.

Queen Bee, schreit das Schild über der großen schwarzen Eingangstür. Auf beiden Seiten der Flügeltür die Outlines einer geometrischen goldenen Biene.

Hinter uns steht ein Mädchen mit platinblondem Vokuhila, die ihre Freundinnen wegen ihrer Plateauschuhe um einen Kopf überragt. Von oben herab lacht sie über ein anderes Mädchen, ein Stück hinter ihnen. Sie lacht gerade laut genug, dass die hinten es noch hören kann.

Das Mädchen, das da so abfällig ausgelacht wird, steht allein in der Reihe und versucht vergeblich, sich hinter ihrem langen Pony zu verstecken. Zwischen einzelnen Haarsträhnen fällt ihr Blick ins Leere. Je weiter ihre Schultern sie zum Boden ziehen, umso mehr scheint das Vokuhila-Mädchen zu wachsen. Ihre Freundinnen, die aussehen wie schlechte Mullet-Kopien von ihr, lachen mit. Aber sie drucksen herum und winden sich, als wüssten sie zumindest, dass es daneben ist. Keine sagt etwas. Keine wagt zu widersprechen.

Kaja steht neben mir. Ganz dicht neben mir. Ihren Handrücken hält sie an meinen. So, dass ihr Zeigefinger meinen berührt, ohne dass wir Händchen halten oder so. Die Außenseite von Kajas ewig warmer und zupackender Hand verbunden mit der Außenseite meiner bunten, kalten Hand, an der mal wieder Farbreste kleben. Farbreste an den Nagelhäuten und in den kleinen Hautfalten. Sobald wir in eine Menschenmenge kommen, hält Kajas Handrücken Kontakt zu meinem. Seit wir klein sind, machen wir das so. Es gehört einfach zu uns. Ich mag, was zu uns gehört.

Und besonders mag ich es, zu fühlen, wie diese unendliche Kaja-Kraft durch ihre Hand, durch ihre Haut bis in mich hineinströmt. Ich höre Kaja schnauben, als sie sich zu den Mädchen umdreht.

Die Augen vor Wut verengt, richtet sie sich ein Stück auf. Dennoch klingt ihre Stimme einladend, als sie dem Pony-Mädchen zuruft: »Hey! Komm zu uns. Hier ist ´n Platz frei. Direkt vor mir.«

Das Pony-Mädchen guckt sich um. »Meinst du mich?«

Kaja nickt. »Klar. Mit denen rede ich nicht. Obwohl ...«

Langsam geht sie einen Schritt auf das Gefolge zu. Ich bewege mich mit ihr. Unsere Handrücken bleiben verbunden. Kajas Selbstvertrauen, ihre Sicherheit und Entschlossenheit haften an ihr wie Tusche. Dicke dunkle Tusche, die auf mich abfärbt, wenn ich so nah bei ihr bin. All die Einschränkungen in meinem Kopf werden von dieser Tusche übermalt. Zurück bleibt nur Kajas Absolutheit. Ich nenne es den Kaja-Boost.

»Was denn?«, fragt eins der Mädchen und weicht vor Kajas Blick zurück wie ein erschrockenes Reh. »Wir haben gar nichts gemacht. Sie hat bloß ...« und deutet auf das Mädchen mit dem Vokuhila.

»Das ist genau das Problem. Die ganze Show läuft überhaupt nur, weil ihr gar nichts macht.«

»Ich glaube, du weißt nicht, mit wem du hier redest«, empört sich die Vokuhila-Puppe.

Da verschwindet das Lachen aus Kajas Gesicht. Durch ihren Körper geht ein Ruck. Plötzlich flutet ihr lautes »Buh!« die Nacht, als sie auf die Zicke zuspringt. Sie landet so dicht vor ihr, dass das Mädchen ins Wanken gerät, die Augen zukneift und vor Schreck zusammenzuckt. Da lacht Kaja. Lacht laut und derbe.

»Du bist ja verrückt«, sagt das Vokuhila-Mädchen mit dünner Stimme.

Kaja strahlt. »Unbedingt«, sagt sie zufrieden. »Unbedingt ...«

Dem Pony-Mädchen legt sie den Arm um die Schultern, auf dem Weg zu unserem Platz. Auf ihrem Kaja-Boost schwebt sie so an dem Gefolge vorbei. Die Wangen rotglühend.

In dieser Nacht richtet sich der Sommer mit all seiner Kraft vor uns auf. Ein Sommer, der sich breitmacht wie die Türsteher, die uns abtasten, als wollten wir keinen Club, sondern einen Regierungsflieger entern. Rucksäcke durchsuchen. Hipbags öffnen. Wir warten in der Schlange, wippen auf der Stelle. Wollen nicht länger warten. Keine Sekunde. Kaja kaut auf ihrer Unterlippe. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie ihre Nervosität wächst. Sie knibbelt an ihren Nagelhäuten. Ich muss wegsehen, bevor es anfängt zu bluten.

»Rein jetzt! Los!«, sagt sie, aber das zu sagen ändert natürlich nichts an der Warteschlange.

»Ich will auch rein, aber wir müssen eben alle warten«, sage ich.

Warum sage ich so was? Warum versuche ich bloß immer, sie zu beruhigen? Obwohl ich mindestens so genervt bin wie sie. Obwohl ich weiß, dass ich Kaja sowieso nicht beruhigen kann. Nie.

»Scheiß Geduld«, sagt Kaja und schiebt die Meute vor uns an. Lehnt sich einfach mit den Schultern nach vorn, so weit sie kommt.

»Hey. Pass doch auf«, sagt ein Typ vor uns, der ihre Schulter ins Kreuz bekommen hat. Groß wie ein Basketballer. Aber als Kajas Blick ihn trifft, da zuckt er zusammen und dreht sich einfach wieder um. Still und leise.

Angst vor Kaja habe ich keine. Ich sehe die Angst in den Augen der anderen. Ich verstehe auch, woher sie kommt. Aber ich? Wieso sollte ich denn Angst vor Kaja haben? Wir spielen schon so lange Schwestern, dass wir längst selber glauben, welche zu sein.

Hinter mir zerplatzt eine Bierflasche am Boden. Es geht kaum voran. Ich habe keinen Bock mehr zu warten. Kaja stöhnt. Dann greift sie entschlossen nach meiner Hand.

»Kommt«, flüstert sie dem Pony-Mädchen und mir zu. Sie drängelt sich mit uns durch die Masse nach vorn, bis nur noch drei Leute vor uns in der Schlange sind. Keiner sagt was. Nur der Typ, der genau da...
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