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Zirkus der Wunder

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
432 Seiten
Deutsch
Eichbornerschienen am28.10.20221. Aufl. 2022
Südengland, 1866. Die junge Nell, von Muttermalen gezeichnet, wird von den anderen Dorfbewohnern gemieden - bis 'Jasper Jupiters Zirkus der Wunder' im Ort kampiert. Nells skrupelloser Vater wittert ein Geschäft und verkauft sie als 'Leopardenmädchen' an Jasper. Doch was als traumatische Erfahrung beginnt, scheint sich als Glücksfall zu erweisen: Erstmals findet Nell eine echte Heimat. Sie schließt Freundschaften, verliebt sich in den sensiblen Toby - und wird, als 'achtes Weltwunder' gefeiert, zum Star des Zirkus. Doch mit dem Ruhm stellen sich neue Probleme ein.





Elizabeth Macneal stammt aus Schottland und lebt in London. Sie ist Autorin und Töpferin. Ihr erster Roman THE DOLL FACTORY sprang direkt nach Erscheinen auf Platz 1 der britischen Bestsellerliste. Die Übersetzungsrechte wurden in über 30 Länder verkauft.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR24,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR14,99

Produkt

KlappentextSüdengland, 1866. Die junge Nell, von Muttermalen gezeichnet, wird von den anderen Dorfbewohnern gemieden - bis 'Jasper Jupiters Zirkus der Wunder' im Ort kampiert. Nells skrupelloser Vater wittert ein Geschäft und verkauft sie als 'Leopardenmädchen' an Jasper. Doch was als traumatische Erfahrung beginnt, scheint sich als Glücksfall zu erweisen: Erstmals findet Nell eine echte Heimat. Sie schließt Freundschaften, verliebt sich in den sensiblen Toby - und wird, als 'achtes Weltwunder' gefeiert, zum Star des Zirkus. Doch mit dem Ruhm stellen sich neue Probleme ein.





Elizabeth Macneal stammt aus Schottland und lebt in London. Sie ist Autorin und Töpferin. Ihr erster Roman THE DOLL FACTORY sprang direkt nach Erscheinen auf Platz 1 der britischen Bestsellerliste. Die Übersetzungsrechte wurden in über 30 Länder verkauft.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751728942
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Verlag
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum28.10.2022
Auflage1. Aufl. 2022
Seiten432 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse828 Kbytes
Artikel-Nr.9166248
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Toby

Toby sollte vor Einbruch der Dämmerung das Heckenlabyrinth durchquert haben und längst wieder im Lager sein. Aber er kann einfach nicht diesem Gefühl widerstehen, wenn er mit zwischen die Lippen geklemmten Nägeln die Flugblätter anschlägt und die Leute ihn dabei beobachten. Er stellt sich so umständlich an, als gehörte es zur Show. Sein Bruder hätte ihn dafür ausgelacht, wie er theatralisch den Hammer schwingt und dann beiseitetritt, als öffnete er einen Vorhang. Ta-daaa! Aber in den Augen der Dorfbewohner scheint er eine wichtige Persönlichkeit zu sein - hier ist er wer, und so nimmt er die Schultern zurück und rückt die selbst geflochtene Löwenzahnkrone auf dem Pferdekopf zurecht.

Sobald er wieder im Lager ist, muss er in den Hintergrund treten. Er ist nur der Erfüllungsgehilfe der anderen, und seine rohe Kraft seine einzige Möglichkeit, die Schuld abzutragen, in der er bei seinem Bruder steht. Er schleppt Heuballen, richtet Stützbalken auf und ölt Klinken. Er ist groß, aber nicht groß genug. Er ist breit, aber nicht dick genug. Seine Kraft ist nützlich, aber sie ist nichts im Vergleich zur Kraft jener, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen - beispielsweise Violante, der spanische Herkules, der mit dem Haarschopf eine hundertachtzig Kilo schwere Eisenkanone halten kann.

Mit schweißnassem Kragen steht er vor dem Gasthof. Alle beäugen die Flugblätter, die aus der Satteltasche ragen. Der Tag ist zu klar und zu warm, um wirklich zu sein. Er hängt reglos und still in der Schwebe wie eine makellose Glaskugel, die jeden Moment zerbrechen kann.

Toby sieht eine blonde junge Frau in Richtung Meer laufen, hinter ihr steigt der Staub auf wie Rauch. Ein sommersprossiger junger Mann kommt um die Ecke des Gasthofs gehumpelt, an Mund und Nase klebt Blut. Vor lauter Aufregung haben sie eine Schlägerei angefangen! Das wird er heute Abend seinem Bruder Jasper erzählen. Vielleicht kann die Nachricht von der ungestümen Vorfreude etwas zur Besänftigung von Jaspers schlechter Laune beitragen, die sich garantiert einstellen wird, sobald er einen Fuß in dieses ... nun ja, Dorf wäre wohl zu viel gesagt. Holzhütten, die sich krümmen wie alte Witwen, spindeldürre Hunde. Er muss an Sewastopol denken, an die verbrannten Gerippe der Behausungen, und auf einmal nimmt er einen unangenehm süßlichen Blütenduft wahr. Seine Finger beginnen zu zittern, die Zügel klimpern. Das Möwengeschrei klingt wie Mörsergranaten. Es stinkt nach ungewaschenen Leibern, nach getrocknetem Dung. Toby reibt sich die Wange.

Er schwingt sich auf sein Pferd - Grimaldi, benannt nach dem Clown -, gibt ihm die Sporen und reitet zum derzeitigen Standort zurück, einen einstündigen Ritt entfernt. Heute Abend werden sie die Wagen packen, die Zebras anspannen und sich auf die langsame Prozession in dieses Dorf machen. Er hat ein Feld gefunden, auf dem sie das Zelt errichten dürfen, und beim Krämer Kohlköpfe und altes Gemüse für die Tiere bestellt.

Kurz hinter der Ortschaft beschließt Toby, einen Umweg über den Küstenpfad zu nehmen, wo er die junge Frau gesehen hat. Der Weg zu den Klippen führt an kleinen, ummauerten, von Veilchen bewachsenen Äckern vorbei, und da merkt er, dass es sich bei dem Dorf um eine Blumenfarm handelt. Auf einem Ast am Wegesrand hat sich ein Steinschmätzer niedergelassen, und Toby hört den ersten Kuckucksruf des Frühlings.

Das Meer ist glasklar, die Felsen sind spitz wie Bajonette. Am Horizont verschwimmen Meer und Himmel zu einem hellblauen Streifen. Toby hält inne und formt mit den Fingern ein schiefes Rechteck, als wollte er die Szene mit seinem fotografischen Apparat festhalten. Doch dann lässt er die Hände sinken. Seit dem Krimkrieg haben solche unberührten Ansichten ihren Reiz verloren. Stattdessen holt er eine Zigarre und eine Schachtel Streichhölzer heraus.

In dem Moment, als er eins anzündet und den frischen Duft nach Kampfer und Schwefel einatmet, entdeckt er die junge Frau. Sie steht auf einer Klippe, als wartete sie auf ihren Bühnenauftritt. Der Abstand zum Wasser darunter beträgt mehrere Meter. »Nein!«, schreit Toby, als sie sich mit gestreckten Zehen und flammengleich flatternden Haaren hinunterstürzt. Das Meer verschluckt sie mit einem Gurgeln. Ganz kurz taucht sie noch einmal auf und reißt die Arme in die Höhe, sie fuchtelt, dann verliert er sie aus den Augen. Die Wellen donnern.

Sie ist dabei zu ertrinken, davon ist er überzeugt. Sie war schon viel zu lange unter Wasser. Er springt aus dem Sattel und rennt los. Schon geht es den steilen Felsenpfad hinunter, unter seinen Sohlen Geröll, er knickt um, fängt sich wieder. Grimaldi trottet hinterher. Von der Frau keine Spur. Der Schmerz ist wie eine Messerklinge. Da taucht ihre Hand auf wie ein Gewächs aus dem Meer. Toby zerrt an seinem Hemd und wirft sich ins flache Wasser. Es ist kalt, aber das kümmert ihn nicht.

Und da taucht sie wieder auf. Ihre Arme durchpflügen die Wellen, sie schmiegt sich in die Strömung und bewegt sich so mühelos wie eine Robbe. Sie schlägt mit den Beinen, taucht kurz ab und durchbricht erneut die Oberfläche, die Haare kleben ihr im Gesicht. Irgendwie fühlt sich der Moment intim an, es ist, als hätte Toby hier nichts zu suchen. Aber er ist von der ruhigen Ekstase ihrer Bewegungen gefesselt. Sie gleitet durch das Wasser wie ein heißes Messer durch Butter, krault zu dem Felsen zurück, von dem sie gesprungen ist, wartet auf die nächste Welle und klammert sich an den Stein. Das Kleid klebt ihr eng am Leib. Fast erwartet er, dass statt ihrer Beine ein Schuppenschwanz zum Vorschein kommt.

Sie bemerkt ihn erst, als sie wieder oben auf dem Felsen steht, und plötzlich sieht er sich durch ihre Augen, in über die Schulter gerutschtem Kalbslederwams und triefnasser Hose. Sein Hemd steht offen und entblößt seinen weichen weißen Bauch. Ein tumber Bär von einem Mann. Er errötet, und die Scham kriecht ihm bis über den Hals.

»Ich ... ich dachte, du ertrinkst«, sagt er.

»Nein.«

Sie stützt das Kinn in die Hände und mustert ihn, ihre Miene verfinstert sich. Doch er kann sehen, dass sich unter ihrem Ärger noch etwas anderes verbirgt: eine Sehnsucht, als wäre dieser Ort zu klein für sie, und als träumte sie von mehr. Er glaubt, in seiner Brust ein ähnliches Ziehen zu spüren.

Sie wendet sich ab und blickt zum Horizont. Da ist etwas, das er nicht in Worte fassen kann. Anscheinend fällt der Schatten bei ihr auf die falsche Wange. Nein, er muss sich irren. Toby sieht genauer hin. Ein elektrisierendes Knistern ergreift ihn. Er geht einen Schritt vor, die Wellen schwappen gegen seine Knie.

Ihr Gesicht sieht aus, als hätte jemand einen Pinsel genommen, vom Wangenknochen bis ans Kinn gezogen und anschließend viele braune Farbkleckse auf Gesicht und Hals getupft. Er sollte den Blick abwenden, aber er kann nicht. Er kann nicht fassen, dass hier in diesem verschlafenen Dorf ein so außergewöhnliches Wesen lebt. Ausgerechnet hier, zwischen Brennnesseln, Dreck und verfallenen Hütten.

»Sieh ruhig genau hin«, sagt sie. Ihr Blick ist herausfordernd, als warte sie nur darauf, dass er vor ihr zurückweicht.

Ihre Worte durchbohren ihn. Er wird knallrot. »Ich ...«, stammelt er. »Ich ... ich wollte nicht ...«

Er verstummt. Die Wellen spucken ihn an und werfen sich dann krachend auf die Felsen. Das Meer schiebt sich zwischen sie, als wollte es die Frau beschützen. Er sollte aufbrechen. Die Sonne geht schon unter, er wird eine ganze Stunde im Dunkeln reiten müssen und kennt sich in der Gegend nicht aus. Er tastet nach dem Messer an seinem Oberschenkel, das nur darauf wartet, sich in jeden Räuber zu versenken, der sich möglicherweise vom Baum schwingt.

Von den Klippen eine laute Männerstimme: »Nelliiiie!, Nelliiiiie!«

Sie duckt sich hinter den Felsen und ist außer Sicht.

Vielleicht ihr Ehemann? Sie wirkt alt genug, um verheiratet zu sein. Toby fragt sich, ob die beiden gestritten haben, ob sie sich deshalb hier unten versteckt.

»Tja dann, auf Wiedersehen«, sagt er, bekommt aber keine Antwort.

Er watet ans Ufer. In den Felsenbecken wiegen sich Seeanemonen. Toby steigt in den Sattel, und auf dem steilen Weg bergauf begegnet ihm der Mann, der ihren Namen gerufen hat. Er lüpft seine Mütze.

»War da unten ein Mädchen?«, fragt er.

Toby hält an, zu lügen fällt ihm leicht. »Nein.«

Sobald er oben angekommen ist, wirft er einen Blick zurück, aber sie ist verschwunden. Vielleicht ist sie ins Wasser gestiegen, oder sie kauert noch immer hinter dem Felsen. Vor dem kleinen Felsvorsprung steigt Gischt auf. Toby schüttelt den Kopf und treibt sein Pferd zum Galopp an.

Er jagt über den Weg, als würde er verfolgt. Er jagt, als wollte er sich selbst und seine Gedanken überholen, oder als wollte er den Abstand zu ihr vergrößern. Er verschluckt sich an winzigen Fliegen. Der Sattel knarzt. Toby will die Frau dort zurücklassen wie ein Junge, der einen Stein angehoben hat und schnell wieder hinlegt, ohne die Kellerassel darunter zu töten. Er will sie vergessen. Aber ihr Bild bleibt, als wäre es in Glas geätzt.

Sieh ruhig genau hin.

Er blinzelt, reitet schneller. Er vermisst seinen Bruder, fühlt einen unvermittelten Schmerz, das Bedürfnis, schnell zu ihm zurückzukehren und sich wieder bei ihm zu verkriechen, sich seines Schweigens und Schutzes zu vergewissern.

Scutari, Scutari, Scutari.

Die kalten Nächte, das schrille Pfeifen der Kugeln. Soldaten, die unter zerfetzten Planen zitterten.

Das ist alles...

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