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Der schwarze Storch

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
376 Seiten
Deutsch
Wallstein Verlagerschienen am02.05.20221. Auflage
Ein Kindheitsroman von bezwingender poetischer Kraft. Ein Jahr um 1900 in der damaligen deutschen Provinz Posen und ein kleines Mädchen, Katharina, etwa sechs Jahre alt, Tochter eines Gutsbesitzers. Dazu ein schwarzer ausgestopfter Storch, der unheilvoll über dem Esstisch der Familie schwebt. Katharina ist die Tochter des Gutsbesitzers und - ungewöhnlich genug - selbst die Erzählerin. Ilse Molzahn leiht ihr eine bezaubernde und einfache Sprache, die vieles offen lassen muss, denn das Mädchen ist mit einer Erwachsenenwelt und Vorgängen konfrontiert, die es nicht verstehen und nicht immer benennen kann: die scharfe Trennung von Herrschaft und Gesinde, das archaisch ländliche Leben, aber auch Missbrauch, Schwangerschaft, Abhängigkeiten, Rohheit und Gewalt. Von den Eltern, der fromm-bigotten Mutter und dem draufgängerischen Vater, ist keine Erklärung zu erwarten. Einzig in dem Dienstmädchen Helene findet Katharina eine Vertrauensperson. Doch Helene ist plötzlich verschwunden, gestorben bei einem Abtreibungsversuch. Der Autorin ist etwas Seltenes gelungen: In einer verblüffend authentischen, zeitlosen Sprache erfasst sie die Welt des Kindes und sein magisch-inniges Erleben der Natur. Der Roman erschien erstmals 1936, eine zweite Auflage wurde von den Nazis wegen 'Herabsetzung des deutschen Junkertums' verhindert. Die Neuausgabe wird von Thomas Ehrsam mit einem umfangreichen Nachwort zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte unter Berücksichtigung der Biografie der Autorin bereichert.

Ilse Molzahn (1895-1981) wuchs in Kowalewo in der ehemaligen Provinz Posen auf. In Breslau, wo ihr Mann, der Maler Johannes Molzahn, an der Akademie lehrte, schrieb sie Erzählungen und fürs Feuilleton, u. a. für die Vossische Zeitung und die Deutsche Allgemeine Zeitung. Nach der Schließung der Akademie und der Machtergreifung der Nazis siedelte sie nach Berlin über, wo sie weiter Gedichte und Romane schrieb und auch journalistisch tätig war. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der 1938 in die USA geflohen war, blieb sie in Deutschland und lebte ab 1953 bis zu ihrem Tod als Schriftstellerin in West-Berlin. Thomas Ehrsam, geb. 1954, war bis 2014 Bibliotheksleiter der Museumsgesellschaft Zürich.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR30,00
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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR23,99

Produkt

KlappentextEin Kindheitsroman von bezwingender poetischer Kraft. Ein Jahr um 1900 in der damaligen deutschen Provinz Posen und ein kleines Mädchen, Katharina, etwa sechs Jahre alt, Tochter eines Gutsbesitzers. Dazu ein schwarzer ausgestopfter Storch, der unheilvoll über dem Esstisch der Familie schwebt. Katharina ist die Tochter des Gutsbesitzers und - ungewöhnlich genug - selbst die Erzählerin. Ilse Molzahn leiht ihr eine bezaubernde und einfache Sprache, die vieles offen lassen muss, denn das Mädchen ist mit einer Erwachsenenwelt und Vorgängen konfrontiert, die es nicht verstehen und nicht immer benennen kann: die scharfe Trennung von Herrschaft und Gesinde, das archaisch ländliche Leben, aber auch Missbrauch, Schwangerschaft, Abhängigkeiten, Rohheit und Gewalt. Von den Eltern, der fromm-bigotten Mutter und dem draufgängerischen Vater, ist keine Erklärung zu erwarten. Einzig in dem Dienstmädchen Helene findet Katharina eine Vertrauensperson. Doch Helene ist plötzlich verschwunden, gestorben bei einem Abtreibungsversuch. Der Autorin ist etwas Seltenes gelungen: In einer verblüffend authentischen, zeitlosen Sprache erfasst sie die Welt des Kindes und sein magisch-inniges Erleben der Natur. Der Roman erschien erstmals 1936, eine zweite Auflage wurde von den Nazis wegen 'Herabsetzung des deutschen Junkertums' verhindert. Die Neuausgabe wird von Thomas Ehrsam mit einem umfangreichen Nachwort zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte unter Berücksichtigung der Biografie der Autorin bereichert.

Ilse Molzahn (1895-1981) wuchs in Kowalewo in der ehemaligen Provinz Posen auf. In Breslau, wo ihr Mann, der Maler Johannes Molzahn, an der Akademie lehrte, schrieb sie Erzählungen und fürs Feuilleton, u. a. für die Vossische Zeitung und die Deutsche Allgemeine Zeitung. Nach der Schließung der Akademie und der Machtergreifung der Nazis siedelte sie nach Berlin über, wo sie weiter Gedichte und Romane schrieb und auch journalistisch tätig war. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der 1938 in die USA geflohen war, blieb sie in Deutschland und lebte ab 1953 bis zu ihrem Tod als Schriftstellerin in West-Berlin. Thomas Ehrsam, geb. 1954, war bis 2014 Bibliotheksleiter der Museumsgesellschaft Zürich.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783835348158
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum02.05.2022
Auflage1. Auflage
Seiten376 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3996 Kbytes
Artikel-Nr.9243179
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Meine Mutter ist fromm

Deutlich erinnere ich mich des Tages, als der schwarze Storch bei uns auftauchte.

Eben war der Winter zu Ende. Die Luft war rauh. Meine Mutter hatte mir einen Mantel angezogen, aber er hing bereits am Zaun, während ich mich auf meinem Lieblingsplatz, dem Dunghaufen, der mit trockenem glänzendem Stroh zugedeckt war, lang ausgestreckt hatte und unverwandt in die Luft starrte.

Es hieß, die Störche würden kommen.

Kascha sagte es. Mein Vater blätterte in seinem Kalender. Ja, die Zeit der Störche war da!

Kascha glaubt nicht an den Kalender, sie glaubt nur an Träume. Sie hatte einen Traum und im Traumbuch stand: Ankunft von Zugvögeln, Störchen, Staren oder Schwalben â¦ Sie erzählte es sofort in der Küche: »Hört, die Störche kommen!«

Die Mädchen kicherten, und meine Mutter wurde rot â¦

Jeden Abend betet meine Mutter mit mir: »Ich bin klein, mein Herz ist rein!«

Einmal fragte sie mich leise, ob ich nicht einen kleinen Bruder haben möchte.

»O ja, dann hätte ich jemanden zum Spielen!«

»Gut«, sagte sie, »dann bete weiter: Lieber Gott, schenke mir doch einen Bruder.«

Gestern fragte ich meine Mutter: »Wann wird der liebe Gott den Bruder schicken?«

»Die Störche werden ihn mitbringen.«

»Werden sie ihn mitbringen, Mutter, oder ist es so, wie Helene sagt, daß sie ihn aus dem Teiche holen?« - -

»Wenn sie hier sind, werden sie ihn aus dem Teiche holen.« Ich dachte nach.

»Aber der Teich ist doch zugefroren?« - - -

»Nun«, sagte meine Mutter, »es macht nichts. Die Störche werden ihn mit ihren langen Schnäbeln aufhacken.«

»Oh«, fiel mir ein, »es ist ja ein Loch im Teich, Lamparski hat es aufgehackt, als er die Karpfen fing â¦«

»Richtig!« sagte meine Mutter, »ich hatte es vergessen. Nun schlafe aber!« - - -

Jetzt warte ich auf die Störche. Der Wind summt im Stroh. Ferne Rufe der Pflüger kommen von den Feldern, sonst ist die Luft still. Ich richte mich auf und schaue auf das Scheunendach. Es ist mit Stroh gedeckt, das der Wind an vielen Stellen zerrupft hat. Überall gibt es Löcher. Am First sehe ich ein großes, schwarzes Rad. Stacho hat es hinaufgetragen. Es ist noch wie neu und die Störche sollen darin ihr Nest anlegen, das alte hat der Sturm heruntergerissen und wer weiß wohin getragen.

Viele Vögel kommen daher. Hoch und tief ziehen sie dahin, kleine und große. Ich kenne sie nicht und sie kennen mich nicht, fliegen weiter.

Aber die Störche, die Glück bringen sollen, kenne ich.

Sie waren lange fort. In Ägypten, sagt meine Mutter. Wenn sie wieder da sind, bauen sie ihr Nest und legen Eier. Dann kommen junge Störche. Auch junge Kühe kommen, junge Schafe, junge Pferde und junge Hühner. Immer, wenn der Winter vorbei ist, vermehrt sich alles. Einmal habe ich gesehen, wie ein Kalb ankam. Aber meine Mutter will nicht, daß ich das sehe â¦

Wie lange sitze ich hier schon? Leise knistert das Stroh und sticht mich. Auch riecht es nicht besonders gut, aber das macht nichts. Hier oben ist es immer trocken und warm. Die Sonne wird schon rot und kühl. Weshalb sind die Störche noch nicht da? Ob das mit Kaschas Traum wahr ist? Ich kann das Traumbuch nicht lesen, denn ich gehe noch nicht zur Schule, obgleich es längst Zeit wäre. Kascha behauptet, sie könne lesen, aber niemand glaubt es.

Wenn sie liest, legt sie ihren breiten Finger auf die Zeile, der rutscht so schnell davon, daß da kein Mensch mitkommen kann. Außerdem spricht sie falsch. Ich lerne es von ihr und soll mich deshalb nicht so viel in der Küche herumtreiben.

Der Baum neben der Scheune ist eine Pappel. Einmal gab es ein Feuer mitten in der Nacht. Vielleicht angezündet, man weiß es nicht. Da brannte die alte Scheune ab und die Pappeln waren so verkohlt, daß man sie umhauen mußte. Diese eine ist übriggeblieben, Gott sei Dank, denn wir haben nur wenig Bäume in Olanowo.

»Olanowo ist eine Sandbüchse«, sagt immer unser Besuch, oder auch, »in Olanowo sagen sich Wölfe und Füchse gute Nacht.«

»Der ewige Sand und die Trockenheit werden uns hier noch zugrunde richten«, sagt meine Mutter, »so Gott nicht ein Einsehen hat und Regen schickt.«

Ich mag Regen nicht. Ich muß dann in der Stube bleiben. Meine Mutter sitzt am Nähtisch vor dem Fenster und schneidet aus einem weißen Stück Stoff lauter kleine Hemdchen.

»Für wen machst du das, Mutter?« Sofort rafft meine Mutter alles zusammen und versteckt es in der Schublade. Darauf nimmt sie dann das Buch zur Hand. Es ist ein altes Buch mit schwarzem Deckel und goldenem Kreuz. Sie schlägt das Buch auf und macht ein frommes Gesicht. Lautlos bewegen sich ihre Lippen. Mit mir spricht sie kein Wort. Nur die große Wanduhr, die man Regulator nennt, tickt. Manchmal knackt sie, schabbert, rollt und dann schlägt sie. Das schallt durch das ganze Haus: Bam! Bam! Dann sieht meine Mutter auf, starrt auf die Uhr, schaut aus dem Fenster und macht ein Gesicht, als erwarte sie etwas Hübsches. Sie lächelt ein wenig. Ihre Backenknochen treten spitz hervor. »Freust du dich, Mutter? Auf was freust du dich?«

O nein. Ihr Gesicht ist schon wieder ernst und feierlich â¦ Ein großer Vogel sitzt mit einem Male auf der Pappel. Ich habe geträumt und nicht gesehen, woher er kam. Er sitzt in dem steilen, kahlen Geäst und braucht viel Platz. Der Wind schaukelt ihn ein wenig, der ganze Baum schwankt.

»Wer bist du?« fragte ich zitternd vor Freude und Aufregung über das Neue und Unbekannte, das mit einem Male in Olanowo eingezogen ist.

Ist es ein Storch? Einer, der aus Versehen schwarz geraten ist? Nun, ganz gleich. Freude, Freude, daß er da ist und ich nicht mehr allein bin!

Ich wage es. Ich steige auf den Baum. Ich will, ich möchte einmal seine Federn streicheln!

Aber da steht bereits meine Mutter in der Haustür. So weit es auch ist, ich erkenne sie sofort. Ihr Gesicht ist klein und von einer Hand beschattet. Sie sucht mich. Ich rufe ihr zu: »Mutter, komm, komm schnell!«

Ich stürze ihr entgegen. Ich ergreife ihre heiße Hand. Sie wehrt ab, sie mag mein ungestümes Wesen nicht. Nur langsam läßt sie sich vorwärts ziehen und geht so vorsichtig, als habe sie Angst über irgend etwas zu stolpern.

Nun sind wir bei der Pappel.

»Schau, Mutter, ein fremder Vogel, oder ist es ein Storch?«

Meine Mutter zieht den Mantel fester um sich. Ihr ist immer kalt. Sie hebt den Kopf, ihre Wangen wölben sich ganz nach innen. Ihre schrägen, glänzenden Augen sind fast geschlossen.

»Nein, das ist kein Storch«, sagt sie, wie mir scheint ein wenig enttäuscht. »Was das ist, weiß ich nicht, ich kenne so wenig Vögel. Wir werden Vater fragen. Komm, zieh deinen Mantel an, es wird kühl.«

Gehorsam schlüpfe ich in den Mantel, den sie gleich am Zaun entdeckt hat. Dann geht sie. Ihr langer Rocksaum schleppt Stroh und Staub mit sich. Ich schaue ihr nach, bis sie ganz klein geworden ist. Dann sehe ich sie noch auf der Terrasse, und nun ist sie verschwunden.

Wieder bin ich allein. Nun, ich kenne es nicht anders. Ich lehne mich gegen die Scheunenwand, die rauh ist. Unten sind unbehauene Feldsteine, die mich in den Rücken stoßen. Strohhalme, die ich vom Dunghaufen mitgebracht habe, kitzeln mich.

Allmählich kommen sie alle vom Felde. Die Kühe, die Wagen, die Pferde. Knechte brüllen und knallen mit den Peitschen. Alles wird noch einmal munter. Die Frauen stolpern zum Melken und schelten mit den Kühen, die ihnen die Schwänze ins Gesicht schlagen. So ist es alle Tage. Am Brunnen lärmen sie wegen des Wassers. Jeder will zuerst seinen Eimer füllen.

Und da ist auch der Vogt. Er schikaniert die Leute, sagt Kascha. Er hat gelbe Reithosen an. In der Mitte sitzt ein Stück Leder, das macht immer: rips, rips, wenn er geht. Er hat eine Peitsche in seinen langen Stiefeln stecken. Er schläft mit der Peitsche, sagen die Mägde. Ab und zu klopft er sich damit den Mist von den Absätzen. Manchmal sehe ich sie auch hoch in der Luft, auf irgend etwas hinabsausen. Aber von weitem sieht man nicht alles.

Ich darf nicht allein aufs Feld gehen.

»Im Westen«, sagt mein Vater, »hat man andere Methoden.« Da haben die Landarbeiter mehr Bildung. Das hier sind alles Polacken . Eine Peitsche sei da oft durchaus am Platz.

»Wozu brauchst du die Peitsche, Vater?« frage ich, »wozu braucht der Vogt die Peitsche? Weshalb heißt es, daß er mit der Peitsche ins Bett geht?«

Mein Vater will mir antworten, aber meine Mutter macht ein unglückliches Gesicht. So sagt er nur: »Frag nicht so viel!«

Ich schaue den Weg hinab. Aber niemand kommt. Erst wenn es ganz dunkel ist, kommen sie. Dann gehen sie an dem großen Steinhaufen vorbei, den Resten der alten, abgebrannten Scheune,...
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Ilse Molzahn (1895-1981) wuchs in Kowalewo in der ehemaligen Provinz Posen auf. In Breslau, wo ihr Mann, der Maler Johannes Molzahn, an der Akademie lehrte, schrieb sie Erzählungen und fürs Feuilleton, u. a. für die Vossische Zeitung und die Deutsche Allgemeine Zeitung.
Nach der Schließung der Akademie und der Machtergreifung der Nazis siedelte sie nach Berlin über, wo sie weiter Gedichte und Romane schrieb und auch journalistisch tätig war. Im Gegensatz zu ihrem Mann, der 1938 in die USA geflohen war, blieb sie in Deutschland und lebte ab 1953 bis zu ihrem Tod als Schriftstellerin in West-Berlin.

Thomas Ehrsam, geb. 1954, war bis 2014 Bibliotheksleiter der Museumsgesellschaft Zürich.