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Zeit meines Lebens

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
184 Seiten
Deutsch
zu Klampen Verlagerschienen am08.08.20221. Auflage
Die Verteilung des Geistes auf die Geschlechter war nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland klar geregelt. Männer sprachen und schrieben mit Aplomb über Literatur und Kunst, Philosophie und Politik, Frauen durften ihnen zuhören und sie bewundern. Wie konnte eine junge Frau, in eine Familie von Sportlern geboren, unter diesen Bedingungen zu einer prägenden Intellektuellen der Bundesrepublik werden? Hannelore Schlaffer hat keine Autobiographie geschrieben, sondern Miniaturen, in denen die Wandlung der geistigen Physiognomie der Bundesrepublik exemplarisch aufscheint. Weshalb löste Tee den Kaffee als Modegetränk für Geistesarbeiter ab, nur um wieder vom Kaffee verdrängt zu werden? Wie ändert sich das Verhältnis zum Geld in einem intellektuellen »Dinks«-Haushalt? Was sagt die Architektur von Bibliotheken über die gesellschaftliche und eigene Wahrnehmung ihrer Nutzer aus? Eine alltagshistorische Bestandsaufnahme, die von der frühen Bundesrepublik bis in die Jetztzeit führt.

Hannelore Schlaffer lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in Stuttgart. In den Jahren 1982 bis 2006 hatte sie außerplanmäßige Professuren für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Freiburg und München inne. Seit 1980 schreibt sie regelmäßig für Tageszeitungen und Rundfunkanstalten. Sie hat Bücher und Aufsätze veröffentlicht. Ihr 2013 bei zu Klampen erschienener Essayband »Die City« wurde 2014 von der Friedrich-Ebert-Stiftung als »Das politische Buch des Jahres« ausgezeichnet.
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Verfügbare Formate
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Produkt

KlappentextDie Verteilung des Geistes auf die Geschlechter war nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland klar geregelt. Männer sprachen und schrieben mit Aplomb über Literatur und Kunst, Philosophie und Politik, Frauen durften ihnen zuhören und sie bewundern. Wie konnte eine junge Frau, in eine Familie von Sportlern geboren, unter diesen Bedingungen zu einer prägenden Intellektuellen der Bundesrepublik werden? Hannelore Schlaffer hat keine Autobiographie geschrieben, sondern Miniaturen, in denen die Wandlung der geistigen Physiognomie der Bundesrepublik exemplarisch aufscheint. Weshalb löste Tee den Kaffee als Modegetränk für Geistesarbeiter ab, nur um wieder vom Kaffee verdrängt zu werden? Wie ändert sich das Verhältnis zum Geld in einem intellektuellen »Dinks«-Haushalt? Was sagt die Architektur von Bibliotheken über die gesellschaftliche und eigene Wahrnehmung ihrer Nutzer aus? Eine alltagshistorische Bestandsaufnahme, die von der frühen Bundesrepublik bis in die Jetztzeit führt.

Hannelore Schlaffer lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in Stuttgart. In den Jahren 1982 bis 2006 hatte sie außerplanmäßige Professuren für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Freiburg und München inne. Seit 1980 schreibt sie regelmäßig für Tageszeitungen und Rundfunkanstalten. Sie hat Bücher und Aufsätze veröffentlicht. Ihr 2013 bei zu Klampen erschienener Essayband »Die City« wurde 2014 von der Friedrich-Ebert-Stiftung als »Das politische Buch des Jahres« ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783866749702
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum08.08.2022
Auflage1. Auflage
Seiten184 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse232 Kbytes
Artikel-Nr.9499179
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Lesen

Es muss etwas passieren! Etwas Unglaubliches! Jeden Tag - dies wusste auch die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« in den achtziger Jahren, da sie täglich am Ende des politischen Teils ihren Lesern eine »kleine Geschichte« anbot, nur ein paar Zeilen lang: Ereignisse, die so unglaublich waren, dass man sie nicht mehr für Nachrichten halten konnte. Die Unglaublichkeit überbot den berichteten Schrecken der Nachricht und machte sie zum Lesespaß. Übertreibung bis zur Unwahrscheinlichkeit ist ein erprobtes Mittel, das Furchtbare zu bannen, damit es das Schöne werde. Denn das Schöne ist nicht, wie Rilke dichtete, des Schrecklichen Anfang, sondern umgekehrt: das Schreckliche ist des Schönen Anfang. Und eines der probaten Mittel, den Schrecken zum Anfang des Schönen zu machen, ist es, dass man, wie eben damals in den Zeitungsgeschichtchen, nichts glauben muss von dem, was erzählt wird: Zum Beispiel glaubt keiner, dass eine Maus ein brennendes Haus retten kann. Und dennoch wusste man, dass eine Zeitung Geschehen nicht erfindet, sondern Fakten berichtet und dass sie auch diesmal wieder dem Leser eine Realität erschlossen hat.

Die geistreichste Art, das Schreckliche in Schönheit zu verwandeln, ist es, das Unglaubliche zu steigern bis zu dem Grad, da es in Fantasie oder Witz übergeht. Die Geschichten, die man am liebsten liest, sind Schauerlichkeiten, die ein Ende nehmen, bei dem der Leser nur noch den Kopf schüttelt. Nichts aber wird ihm, so weiß er, beim Unglück, von dem er gerade liest, geschehen, und doch meint er, er sei mittendrin. Das Schreckliche ins Schöne hinüberzuführen - dazu reicht, bei viel und auch bei wenig Geist, schon ein bequemer Sessel. In seine Polster versunken, von seiner Gemütlichkeit verwöhnt, wird alles Ungeheuerliche, von dem der Leser erfährt, harmlos und zur angenehmen Unterhaltung. Die wilden Schauerlichkeiten, wie man sie in Büchern oft genug findet, zu genießen, genügt aber, falls kein Sessel da und falls man ein Kind noch ist, allein schon die Hand des Vaters.

So war denn auch das erste Buch, das mir vorgelesen wurde und dessen ich mich erinnere - viele andere mögen vorausgegangen sein -, ein ganz, ganz schönes! Und doch erschien es mir, als ich es vierzig Jahre später aus kritischer Distanz noch einmal selbst las, als das erdenklich Bösartigste, was man einem Kind vorsetzen kann: der »Struwwelpeter«. Sadismus sondergleichen in jedem Wort und jedem Bild - doch die Hand des Vaters auf der Schulter war warm, und die spöttische Stimme, mit der er las, verkehrte die Unholde und Bösewichter der Geschichtchen in drollige Figuren, ihre Taten in Wunder, Zauber, Fantasie. All das, was Erziehungswut sich an Grausamkeiten ausgedacht hatte, war ein Spaß: So ließ sich lachen, schadenfroh, über die brennenden Katzen wie über schöne Fackeln, über den bösen Friederich, diesen Narren, über den fliegenden Robert auch, der hieß wie mein Bruder, dem das Bilderbuch eine wunderbare Himmelfahrt vorauszusagen schien.

Die ästhetische Erziehung ist keine moralische Erziehung, wie Schiller mich später lehrte. Sie beginnt beim Kind, beim Kleinkind sogar, und von da an ist und bleibt die Bedingung allen ästhetischen Genusses Körperwärme. Der Körper, der liest, muss sich seiner sicher sein. Er weiß, dass er, sobald er sich aufs Lesen eingelassen hat, das Auge nicht mehr braucht, um wachsam die Umwelt zu kontrollieren. Nun richtet es sich nur noch auf Buchstaben, sperrt es sozusagen hinter dieses Gitter, das die Buchstaben eben sind. Die Augen sind die einzig Gequälten beim Lesen. Je monotoner die Welt ist, die vor ihnen liegt - und was ist schon eine Buchseite anderes als eine tote Welt für ein waches, neugieriges Auge -, desto freudiger arbeitet der Geist, sich seine eigene Welt, eine erlesene und auserlesene, zu erfinden.

Büchersüchtige, die lebenslänglich hinter diesen Buchstabengittern sitzen, kokettieren gern mit ihrer Begeisterung für die Gestalt, das Aussehen eines Buches; mit viel Feingefühl schwärmen sie von der Haptik des Einbandes, von der Schönheit des Papiers - ich vor allem erinnere mich am liebsten an das sogenannte Bibeldruckpapier, das, eigentlich eine evangelische Tradition, auch in meinen katholischen Gebetbüchern vorkam und die Klassikerausgaben kostbar machte. So also liebt der Maler seine Leinwand, die wenig ist, ehe er etwas darauf gemalt hat, und dennoch, sie wird seine Welt fassen. Und so also liebt der Leser sein Buch, Einband und Papier, über das sich so viel Welt in seinen Kopf einschleicht. Leere - die der Zeit, Leere aber auch von Papier und Leinwand sind ein Appell an den Geist, und nur in solcher Funktion ist das Material schätzenswert. Auch das Buchkunstwerk des Bibliophilen ist ästhetisch nur so nebenbei, eigentlich aber ist es eine Aufforderung, mit dem Fantasieren zu beginnen.

Die ersten Bücher, die ein Kind kennenlernt, sind für dieses nichts als Schachteln, in denen etwas versteckt ist, was erst die Stimme eines anderen zum Klingen bringt. Beim Vorlesen schon beginnt die Entlassung des Körpers, die Lesen erst zum Glück macht. Lesen ist mehr als ein Vergnügen, es ist ein Glück, weil man, sobald man sich ins Buch vertieft, ein Mensch ist ohne Leib. Einen Leib haben, heißt, den Gesetzen der Gravitation zu unterliegen und gegen diese anzukämpfen. Jeder Arm, der sich hebt, will wieder sinken, der Körper, der übers Seil springt, verspannt sich, um dies zu leisten, und wie leicht geht es, wenn er darüber hinweg ist, wieder abwärts; er stolpert, und die Hybris endet gar mit einem Knochenbruch. Kraft braucht es zum Widerstand gegen die Fessel Erde, die alle Körper so dauerhaft spüren, dass sie sie nicht mehr spüren.

Wer aber hätte sich je beim Lesen die Knochen gebrochen? Leben, diese Kraftentäußerung, verdämmert beim Lesen: Die Muskulatur des Dauerlesers verkümmert, zu essen vergisst so mancher, der viel studiert. Es entstehen der dürre Leib und der Eierkopf, der auf seinen Muskelschwund stolz ist und sich rühmt, ein Intellektueller zu sein. Währt allerdings die Leseleidenschaft lang genug, dann hat ihn doch die Erde wieder: Sein Rücken schmerzt, die Schultern knarzen, die Augen brennen.

Diese Schwerelosigkeit, die abhängig macht, begann mit dem gehörten Text, mit der Erzählung des Vaters, zu dem ich am Morgen ins Bett kroch und auf fränkisch radebrechte: »Rodkäbbchen sach!« Hier genoss ich in der Morgenstunde Sicherheit und Körperlosigkeit, wie sie zum Lesen eines Textes eben gehört. Nicht um etwas zu lernen, sondern damit die Welt nicht ganz verloren gehe dabei - was ein wirklicher Schreck wäre -, müssen Kinderbücher Bilder haben und der Text eine Stimme, die des Erzählers oder Vorlesers. Zum Gefühl der Sicherheit, die Lesen erst ermöglicht, gehört das Vertrauen, dass Welt und Körper trotz der entfliegenden Fantasie einander freundlich verbunden bleiben. Solch ein Gefühl verschafft im Erwachsenenalter die Tasse Kaffee, die die Lektüre diesseitig bleiben lässt, oder die Zigarette, denn erst so ist dann doch die Angst, der Welt verloren zu gehen, dem Glück der körperlosen Sicherheit komplementär. Nicht etwa aus Geistes- und Gedankenschwäche hebt man immer einmal wieder den Blick vom Buch, steht auf und tut einige Schritte durch den Raum, sondern aus dem Bedürfnis nach Rückkehr in die Welt, die über der Unglaublichkeit der Erzählung doch nie so ganz vergessen sein will.

So geht denn auch mein Weg, der Weg des heranwachsenden Kindes, aus dem Bett des Vaters in den Sessel im Wohnzimmer, an dem von Zeit zu Zeit die vier Brüder vorbeikommen und, als ich schon das Gymnasium besuchte, sagten: »Ah! Die höhere Tochter liest schon wieder!« Vier Brüder fördern das Lesen einer kleinen Schwester sehr. Sie entkommt ihnen gottlob ins Buch und dort in eine Welt, in die sie nicht mitlaufen können - oder doch? Bücher sind ein Asyl, das nicht riecht, nicht blendet, nicht dröhnt, nicht juckt, nicht schmerzt. Wer an diese Welt glaubt und in sie entflieht, will bald aber doch wieder zurück aus dem sinnenlosen Zauberland in die sinnliche Wirklichkeit auch von vier wilden Brüdern.

Beides, Flucht und Rückkehr, wurden mir von diesen Brüdern, ungebildet, wie sie waren, leicht gemacht. Der Tag war still und gut zum Lesen geeignet, denn sie gingen zur Arbeit und waren, je nachdem, Verkäufer im Farbengeschäft, Friseur, Student. An den Abenden aber und am Sonntag zelebrierte dann einer, der schöne Lieblingsbruder, zusammen mit meinem Vater und mir die Rückkehr aus der Bücherwelt nach Würzburg und in unser Wohnzimmer. Ich hatte, während die beiden unter der Woche fleißig arbeiteten, alle Bände von Karl May, derer ich habhaft werden konnte, gelesen, der Bruder und mein Vater eilten mit dem Lesen hinterher, und so machten wir das Wohnzimmer zum Lager in den Great Plains, wir waren Old Shatterhand, Winnetou, Nscho-tschi. Ein Leben lang sorgte sich der Würzburger Winnetou um seine Schwester. In der Ölkrise etwa, als sie, vierzigjährig, mit dem Auto - das immer noch der Mustang aus der Prärie war - hinter ihm her in eine Tankstelle ritt, die ein paar Tropfen Benzin zu verkaufen hatte, mahnte der Dreiundfünfzigjährige den Tankwart, der ihn bediente: »Mei´ klein´s Schwesterle braucht au´ Benzin; sonst kommt ihr Gaul mit mei´m net mit.«

Damals nämlich, mit vierzehn Jahren, ritt sie mit ihm auf einem Mustang durch die Steppe, sprang vom Pferd, legte das Ohr auf die Erde, um das Nahen eines feindlichen Stammes auszukundschaften, und verbeugte sich mit dem roten Bruder vor unserem weißen Freund Old Shatterhand, dem Vater. Lesen fördert man bei Jugendlichen, um ihnen über die Poesie auch eine Ahnung von Welt zu...

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