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Die Zone oder Tschernobyls Söhne

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
180 Seiten
Deutsch
Matthes & Seitz Berlin Verlagerschienen am12.05.20221. Auflage
Markijan Kamysch ist der Sohn eines sogenannten Liquidators, der zu den Rettungs- und Aufräumtrupps gehörte, die nach dem Reaktorunfall die Schäden vor Ort beseitigten. Seit 2010 führt Kamysch illegale Ermittlungen in der Sperrzone von Tschernobyl durch. Beinahe ein Jahr hat er mittlerweile in dem strahlenverseuchten Gebiet um das Atomkraftwerk und die nahe gelegene Stadt Prypjat verbracht und seine Erlebnisse aufgezeichnet. Sein Buch ist das einzigartige literarische Dokument einer Erkundung, für die er seinen Leib riskiert. Als Sohn eines 2003 an den Folgen der Strahlenkrankheit verstorbenen Ersthelfers gehört er der »Generation Tschernobyl« an. Der Ort, der das Leben seiner Familie und das einer ganzen Gesellschaft änderte, ist für ihn »ein Land des Friedens, gefroren und zeitlos«, in dem er eine Art von Freiheit erlebt, die in den Gefängnissen einer total konsumistischen und nihilistischen Gesellschaft zu einem Raum der Utopie geworden ist. Wie ein Blinder findet er sich dort zurecht und nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise zum »exotischsten Ort der Welt

Markijan Kamysch, 1988 in Kiew geboren, ist ein ukrainischer Schriftsteller, der den Tschernobyl-Untergrund in der Literatur repräsentiert. Seit 2010 hat er die Sperrzone von Tschernobyl illegal erkundet. Er ist der Sohn eines 2003 verstorbenen Tschernobyl-Liquidators, Atomphysikers und Konstrukteurs des Instituts für Kernforschung in Kiew. Die Zone oder Tschernobyls Söhne ist sein erstes Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt und unter großem Beifall veröffentlicht wurde. Claudia Dathe, 1971 geboren, studierte Übersetzungswissenschaft (Russisch, Polnisch) und Betriebswirtschaftslehre in Leipzig, Pjatigorsk (Russland) und Krakau. Nach längeren Auslandstätigkeiten in Kasachstan und der Ukraine arbeitete sie von 2009 bis 2016 als Koordinatorin für Projekte zum literarischen Übersetzen am Slavischen Seminar der Universität Tübingen und ist seit März 2016 in der Bürgerstiftung Jena als Leiterin der Kulturberatungsstelle tätig. Regelmäßig führt sie europäische Kultur- und Zivilgesellschaftsprojekte durch, leitet Übersetzerwerkstätten und übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, u. a. von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynskyj und Yevgenia Belorusets.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR18,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR13,99

Produkt

KlappentextMarkijan Kamysch ist der Sohn eines sogenannten Liquidators, der zu den Rettungs- und Aufräumtrupps gehörte, die nach dem Reaktorunfall die Schäden vor Ort beseitigten. Seit 2010 führt Kamysch illegale Ermittlungen in der Sperrzone von Tschernobyl durch. Beinahe ein Jahr hat er mittlerweile in dem strahlenverseuchten Gebiet um das Atomkraftwerk und die nahe gelegene Stadt Prypjat verbracht und seine Erlebnisse aufgezeichnet. Sein Buch ist das einzigartige literarische Dokument einer Erkundung, für die er seinen Leib riskiert. Als Sohn eines 2003 an den Folgen der Strahlenkrankheit verstorbenen Ersthelfers gehört er der »Generation Tschernobyl« an. Der Ort, der das Leben seiner Familie und das einer ganzen Gesellschaft änderte, ist für ihn »ein Land des Friedens, gefroren und zeitlos«, in dem er eine Art von Freiheit erlebt, die in den Gefängnissen einer total konsumistischen und nihilistischen Gesellschaft zu einem Raum der Utopie geworden ist. Wie ein Blinder findet er sich dort zurecht und nimmt uns mit auf eine Entdeckungsreise zum »exotischsten Ort der Welt

Markijan Kamysch, 1988 in Kiew geboren, ist ein ukrainischer Schriftsteller, der den Tschernobyl-Untergrund in der Literatur repräsentiert. Seit 2010 hat er die Sperrzone von Tschernobyl illegal erkundet. Er ist der Sohn eines 2003 verstorbenen Tschernobyl-Liquidators, Atomphysikers und Konstrukteurs des Instituts für Kernforschung in Kiew. Die Zone oder Tschernobyls Söhne ist sein erstes Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt und unter großem Beifall veröffentlicht wurde. Claudia Dathe, 1971 geboren, studierte Übersetzungswissenschaft (Russisch, Polnisch) und Betriebswirtschaftslehre in Leipzig, Pjatigorsk (Russland) und Krakau. Nach längeren Auslandstätigkeiten in Kasachstan und der Ukraine arbeitete sie von 2009 bis 2016 als Koordinatorin für Projekte zum literarischen Übersetzen am Slavischen Seminar der Universität Tübingen und ist seit März 2016 in der Bürgerstiftung Jena als Leiterin der Kulturberatungsstelle tätig. Regelmäßig führt sie europäische Kultur- und Zivilgesellschaftsprojekte durch, leitet Übersetzerwerkstätten und übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, u. a. von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynskyj und Yevgenia Belorusets.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751808057
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum12.05.2022
Auflage1. Auflage
Reihepunctum
Seiten180 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2716 Kbytes
Artikel-Nr.9519912
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Angestachelt vom Optimismus utopischer Parolen und den Furzideen einer grotesken sowjetischen Gigantomanie, formten wir unseren Traum. Auf der Jagd nach dessen Erfüllung fanden wir das Füllhorn - die Energie des friedlichen Atoms, Wunderwaffe der Volkswirtschaft und Leitstern auf dem Weg in die knallrote kommunistische Zukunft. Berauscht von der eigenen Größe, im lichten Glauben an das Gute, bauten wir in der Sowjetunion ein Atomkraftwerk nach dem anderen.

Tschernobyl war eines der leistungsstärksten. Die dazugehörige Stadt Prypjat wuchs und konnte sich sehen lassen, gepflegte Hochhäuser ragten auf, über den Dächern prangten stolz gigantische Transparente, auf den beschaulichen Spielplätzen tobten Kinder.

Ein Supermarkt und ein Restaurant wurden eröffnet, und Annoncen wie Tausche Wohnung in Odessa gegen Wohnung in Prypjat erstaunten niemanden. In der Einöde Polessiens wirkte die Kraftwerksstadt wie eine Utopie aus dem All: schnelles Wachstum, steigender Wohlstand und bombastische Perspektiven. In Planung war sogar eine Uferpromenade mit Brücken, Laternen und ländlicher Idylle. Schon waren weitere Reaktorblöcke im Bau, am Horizont winkten Glück und Freude in Reinform.

Bis irgendwann der vierte Reaktorblock in die Luft flog und alles im Arsch war. Tschernobyl, der Stern Wermut, war, wie in der Offenbarung beschrieben, vom Himmel gefallen, und von nun an war die Gegend ein giftiger Smaragd im Edelsteindiadem Polessien. Ein verkatertes Erwachen nach langen Jahren süßer Träume. Das Gesetz der Grube: Man braucht ewig, um sich herauszuarbeiten, abgestürzt ist man blitzschnell.

Tapfere Feuerwehrleute kämpften gegen die Flammen, kühne Hubschrauberpiloten kippten Brom und Blei in den Höllenschlund. Todesmutige Liquidatoren schaufelten reinen Herzens den verseuchtesten Schutt der Welt weg, errichteten den Sarkophag und verschwanden.

Sie verschwanden, nachdem sie ihre Strahlendosis, Gesundheitsprobleme, Krebs und ihren Tschernobyl-Ausweis der Kategorie 1, 2 und so weiter bekommen hatten. Ihre Kinder bekamen das Recht, kostenlos von einem Ferienlager ins andere zu tingeln und in der Schule den Namen Tschernobyl-Opfer zu tragen. Das Land bekam ein Gebiet von der Größe Luxemburgs, das für Menschen unbewohnbar war.

Die Stadt Prypjat und die umliegenden Orte wurden sofort evakuiert. Die Sperrzone wurde mit Stacheldraht umzäunt, und Soldaten fuhren Patrouille. In Schützenpanzerwagen machten sie Jagd auf Plünderer, doch die wilden Neunziger verbreiteten mehr Schrecken als der Reaktor, und der Zaun um die Zone bekam Löcher.

Zu jener Zeit kamen auch die ersten Illegalen: Abgerissene Alkonauten schleppten Konserven aus den Kellern in den verlassenen Dörfern, flüchteten vor den Patrouillen, nur um eine Woche später wiederzukommen, festgenommen zu werden und keinesfalls mit einer Bewährungsstrafe davonzukommen. In der Sperrzone wimmelte es von Draufgängern, Pennern, Deserteuren, Plünderern und entlaufenen Knastbrüdern. Sie versteckten sich monatelang in den Dörfern, knabberten faulige Äpfel und träumten davon, den Widrigkeiten der Welt ein für alle Mal zu entkommen. Die Sperrzone war damals tatsächlich der gefährliche Ort, von dem die Regenbogenpresse heute schreibt.

Hippies gab es auch. In der Zeitung tauchten hin und wieder Meldungen über die Blumenkinder auf. Sie planschten ausgelassen in den Flüssen, wurden von der Miliz aufgegriffen und mit der strengen Auflage davongejagt, es nie, nie, nie wieder zu tun. Auch die Kiewer Kleinkriminellen schauten vorbei - um in den Prypjater Wohnungen die Wanduhren abzuhängen und später auf dem Andreas-Hügel zu verticken. Sie fixten und hatten Knarren dabei. Dann verschwanden sie, ausgebrannt vom Speed und seinen Flashs, und wurden ganz normale Familienmenschen: kleine Geschäftsleute und fürsorgliche Väter all derer, die heute mit ihren Frühstücksfotos Instagram & Co. zumüllen.

Es gab auch Einzelgänger. Sie hinterließen keine Spuren und tranken guten Kognak. Sie angelten um der lieben Sonne am hellen Himmel willen. Dass die Sperrzone unbewohnt war und sie geschnappt werden konnten, juckte sie nicht. Irgendwann war die Generation der Katastrophenkinder groß. Für sie ist die Zone der Entfremdung ein Land der Stille und der stehen gebliebenen Zeit.

Ich bin einer von ihnen.

â¢

Was ist die Tschernobyl-Zone heute? Für die einen ist es eine schreckliche Erinnerung aus einer halbvergessenen Kindheit, einer glücklichen sowjetischen Jugend, als das Leben binnen weniger Tage in die Brüche ging, man sich plötzlich mit all seinen Nachbarn in einem Evakuierungsbus wiederfand und auf der Suche nach einer neuen Bleibe die Fahrt ins Ungewisse antrat. Für andere ist die Zone radioaktive Scheiße, die sie im Mai 1986 wegschaufelten. Für die Nächsten ist es eine Terra incognita voller Mythen über Zombies und Soldaten in dunkelgrünen Panzern. Für wieder andere heißt Zone: geführte Touren, auf denen dreiste Geschäftemacher mit pathetischen Reden Katastrophentouristen abzocken. Für die Nächsten ist es die Kulisse eines Computerspiels mit harten Männern, die Kalaschnikows tragen, Schmalzfleisch aus Dosen essen und im morgendlichen Nebel der Sümpfe Verbände auf Schusswunden legen. Und für wieder andere ist alles ganz schlimm, für sie ist die Sperrzone der Schauplatz des Horrorfilms Chernobyl Diaries.

Bei mir ist es noch schlimmer. Für mich ist die Zone ein Ort der Entspannung. Ein Ersatz für das Meer, die Karpaten, die Berghalden, die Türkei mit ihren Kaskaden von Cocktailgläsern. Mehrere Male im Jahr fahre ich verbotenerweise dorthin. Stalker, Wanderer, Outcast, Idiot, nennt mich, wie ihr wollt. Keiner bemerkt mich, aber ich bin da. Ich existiere. Fast so wie die ionisierende Strahlung. Wie das aussieht? Ich packe meinen Rucksack, fahre bis zum Stacheldraht und verliere mich im Dämmer der Waldstreifen, Lichtungen und Fichtendüfte Polessiens, ich verschwinde im betörenden Dickicht und lasse mich von niemandem finden, unter keinen Umständen.

Wenn ich hier von Stalkern rede, dann nicht von Leuten, die in Luftschutzkellern von lokaler Bedeutung nach Gasmasken von Kindern suchen, nicht von Leuten, die versiffte Bauruinen in Schlafstädten fotografieren. Hier geht s um andere Typen. Um junge Frauen und Männer, die einfach ihren Rucksack schultern und im kalten Regen in die verlassenen Städte und Dörfer ziehen, in denen man sich mit billigem Wodka betrinken, mit leeren Flaschen Scheiben einschlagen, richtig laut fluchen und andere Sachen anstellen kann, die die Städte der Lebenden von den Städten der Toten unterscheiden. Es geht um Leute, die sich nicht vor radioaktiver Strahlung fürchten und sich nicht davor ekeln, aus verseuchten Bächen und Seen zu trinken. Um Leute, die von den Prypjater Dächern herab erstklassige Aufnahmen machen, die später im National Geographic und in Forbes abgedruckt werden.

â¢

Manchmal denke ich, dass es uns gar nicht gibt, dass diese vierzig Personen, die immer wieder im Sumpfland von Tschernobyl unterwegs sind, womöglich gar nicht mehr da sind. Irgendwann hat es uns mal gegeben, aber wir haben uns längst in den Sümpfen verloren, sind zu Wasserlinsen, Binsen und Sonnenlicht zerfallen. Wir geistern durch die Moore.

Nicht einmal die Fliegen nehmen von uns Notiz, sie umkreisen uns, surren und fliegen weiter. Wir sind ein matter Abglanz des Fernsehmythos in den Köpfen unserer Landsleute, nicht mehr als Ammenmärchen von Radioaktivität, Zombies und Kälbern mit drei Köpfen. Im trüben nächtlichen Dunkel suchen wir stundenlang nach einem Pfad durch die wilden Moore, und tagsüber waten wir hüfthoch durch Blutegel.

Ich bin gerade zurück. Meine letzte Woche war ein einziger Lauf durch die Dunkelheit, ein besorgtes Ausschauhalten nach Scheinwerfern und glimmenden Kippen. Es gab Hoffnung auf eine Liege ohne Matratze und eiskaltes Wasser aus einem zugefrorenen Fluss, auf Frost und unterdrückten Durst. Es gab eine Patrouille, die ich im letzten Moment bemerkte. Und Gras: brüchiges, trockenes, gelbes Gras. Ich schlief fest und lief am nächsten Morgen weiter nach Norden, tauchte ein in Träume, in eine wundervolle Landschaft aus verlassenen Häusern, Kanälen und landwirtschaftlichen Anlagen.

Die Finger verwechseln die Buchstaben auf der Tastatur, der Cursor rast über den Bildschirm, und der Geschmack des Snickers und der Pepsi, die ich mir am Busbahnhof Polessien in Kiew schnell noch organisiert habe, passen nicht zur Realität. Nur ein Schluck Helles kann meine Lebensgeister wieder wecken. Von null auf hundert.

Für Donnerstagmorgen acht Uhr gar nicht schlecht. Das gönne ich mir heute mal. Solche Momente kennt doch jeder. Die Archäologen nennen das »Post-Expeditions-Syndrom«, die Geologen so ähnlich. Alle Berufe, deren Arbeitsprozesse eine Trennung von der Zivilisation mit sich bringen, haben eine Bezeichnung für diesen Zustand....
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Markijan Kamysch, 1988 in Kiew geboren, ist ein ukrainischer Schriftsteller, der den Tschernobyl-Untergrund in der Literatur repräsentiert. Seit 2010 hat er die Sperrzone von Tschernobyl illegal erkundet. Er ist der Sohn eines 2003 verstorbenen Tschernobyl-Liquidators, Atomphysikers und Konstrukteurs des Instituts für Kernforschung in Kiew. Die Zone oder Tschernobyls Söhne ist sein erstes Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt und unter großem Beifall veröffentlicht wurde.

Claudia Dathe, 1971 geboren, studierte Übersetzungswissenschaft (Russisch, Polnisch) und Betriebswirtschaftslehre in Leipzig, Pjatigorsk (Russland) und Krakau. Nach längeren Auslandstätigkeiten in Kasachstan und der Ukraine arbeitete sie von 2009 bis 2016 als Koordinatorin für Projekte zum literarischen Übersetzen am Slavischen Seminar der Universität Tübingen und ist seit März 2016 in der Bürgerstiftung Jena als Leiterin der Kulturberatungsstelle tätig. Regelmäßig führt sie europäische Kultur- und Zivilgesellschaftsprojekte durch, leitet Übersetzerwerkstätten und übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, u. a. von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynskyj und Yevgenia Belorusets.
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Kamysch, Markijan