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Der Mann mit den Facettenaugen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
260 Seiten
Deutsch
Matthes & Seitz Berlin Verlagerschienen am12.05.20221. Auflage
Wandelnde Bäume, wundersame Schmetterlinge, Rehe, die sich in Ziegen verwandeln, und eine Katze, die ein unaussprechliches Geheimnis birgt: Wu Ming-Yi hat mit Der Mann mit den Facettenaugen eine faszinierende Romanwelt geschaffen, in der Klimakollaps, indigene Mythen, Identität und existenzielle Gefühle den Hintergrund für eine vielschichtige und raffinierte Erzählung bilden. Darin begegnen sich die lebensmüde Akademikerin Alice und der in den Tod verstoßene Indigene Atile'i, nur um sich wieder zu verlieren. Die Welt wird sich in der Zwischenzeit radikal verändern. Visionäre Fantastik und harten Realismus verbindet Wu Ming-Yi auf unnachahmliche Weise zu einem literarischen Tsunami, in dem der geheimnisvolle Mann mit den Facettenaugen ein Schicksal vorhersagt, das erst mit dem Buch im Buch, das Alice zu schreiben beginnt, um den Tod ihres Sohnes zu verstehen, in Gang gesetzt wird. In dieser fantastischen Spannung zeigt sich ein hintergru?ndiger, politisch bewusster Roman, der tief in ökologischen Belangen und Fragen indigener Identität verankert ist.

Wu Ming-Yi, 1971 in Taoyuan, Taiwan, geboren, ist Künstler, Umweltaktivist und Professor für Chinesische Literatur in der Dong-Hwa-Nationaluniversität. Seine Romane sind in mehr als zehn Sprachen übersetzt und wurde international mit Preisen ausgezeichnet und u. a. für den Man Booker International Prize nominiert. Wu Ming-Yi lebt in Taipeh. Johannes Fiederling studierte Übersetzen und Dolmetschen in Duisburg, München und Shanghai. Nach siebenjähriger Tätigkeit im Sprachendienst des Auswärtigen Amts widmet er sich seit 2017 hauptberuflich dem Literaturübersetzen. Zuletzt übersetzte er Wang Ting-Kuo, Liu Cixin, und Ruan Guang-Min. Er lebt und arbeitet in seiner Wahlheimat Taiwan.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR25,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR15,99

Produkt

KlappentextWandelnde Bäume, wundersame Schmetterlinge, Rehe, die sich in Ziegen verwandeln, und eine Katze, die ein unaussprechliches Geheimnis birgt: Wu Ming-Yi hat mit Der Mann mit den Facettenaugen eine faszinierende Romanwelt geschaffen, in der Klimakollaps, indigene Mythen, Identität und existenzielle Gefühle den Hintergrund für eine vielschichtige und raffinierte Erzählung bilden. Darin begegnen sich die lebensmüde Akademikerin Alice und der in den Tod verstoßene Indigene Atile'i, nur um sich wieder zu verlieren. Die Welt wird sich in der Zwischenzeit radikal verändern. Visionäre Fantastik und harten Realismus verbindet Wu Ming-Yi auf unnachahmliche Weise zu einem literarischen Tsunami, in dem der geheimnisvolle Mann mit den Facettenaugen ein Schicksal vorhersagt, das erst mit dem Buch im Buch, das Alice zu schreiben beginnt, um den Tod ihres Sohnes zu verstehen, in Gang gesetzt wird. In dieser fantastischen Spannung zeigt sich ein hintergru?ndiger, politisch bewusster Roman, der tief in ökologischen Belangen und Fragen indigener Identität verankert ist.

Wu Ming-Yi, 1971 in Taoyuan, Taiwan, geboren, ist Künstler, Umweltaktivist und Professor für Chinesische Literatur in der Dong-Hwa-Nationaluniversität. Seine Romane sind in mehr als zehn Sprachen übersetzt und wurde international mit Preisen ausgezeichnet und u. a. für den Man Booker International Prize nominiert. Wu Ming-Yi lebt in Taipeh. Johannes Fiederling studierte Übersetzen und Dolmetschen in Duisburg, München und Shanghai. Nach siebenjähriger Tätigkeit im Sprachendienst des Auswärtigen Amts widmet er sich seit 2017 hauptberuflich dem Literaturübersetzen. Zuletzt übersetzte er Wang Ting-Kuo, Liu Cixin, und Ruan Guang-Min. Er lebt und arbeitet in seiner Wahlheimat Taiwan.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783751800815
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum12.05.2022
Auflage1. Auflage
Seiten260 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3622 Kbytes
Artikel-Nr.9519913
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

2. Nacht um Atile i

Für die Bewohner von Wayowayo war die Welt eine Insel.

Diese Insel lag inmitten eines unermesslich weiten Ozeans, so weit von jedem Kontinent entfernt, dass im kollektiven Gedächtnis der Insulaner zwar noch eine Erinnerung daran lebte, dass vor langer Zeit einmal Weiße auf der Insel angelandet waren, jedoch hatte keiner von ihnen jemals die Insel verlassen, geschweige denn Erzählungen von anderen Landmassen mit nach Hause gebracht. Das Inselvolk der Wayowayo glaubte, dass die ganze Welt aus Meer bestand und dass Kabang (was in ihrer Sprache so viel wie »Gott« bedeutete) diese Insel für sie geschaffen hatte, als hätte er eine winzige Muschelschale in einen großen Wasserbottich gesetzt. Ihre Insel folgte der Strömung des Meeres und das Meer versorgte die Wayowayo mit Nahrung. Allerdings gab es auch Meerestiere, die als Verkörperung Kabangs galten, so zum Beispiel der Asamo, ein schwarz-weiß gestreifter Fisch, den Kabang geschickt hatte, um die Wayowayo zu bespitzeln und auf die Probe zu stellen, daher durfte man ihn keinesfalls essen.

»Wenn du nicht aufpasst und einen Asamo verspeist, dann wachsen dir rund um den Bauchnabel herum Fischschuppen. Du kannst kratzen so viel du willst, du bekommst sie nie wieder weg.« Zum Gehen musste sich der Meereskundige auf einen Walknochen stützen. Doch jeden Tag setzte er sich in der Abenddämmerung unter einen Baum und erzählte den Kindern alle Geschichten der Wayowayo, die vom Meer handelten. Er erzählte so lange, bis die Sonne im Meer versank, bis aus den Kindern Jugendliche wurden und aus den Jugendlichen, nachdem sie ihr Initiationsritual durchlaufen hatten, Erwachsene. Jedes seiner Worte roch nach Meer und selbst in seinem Atem lag noch etwas Salziges.

»Was ist denn schlimm daran, wenn einem Fischschuppen wachsen?«, wollte ein Junge wissen. Alle Kinder hier hatten große runde Augen, die an jene nachtaktiver Tiere erinnerten.

»Aber mein Kind, Menschen dürfen keine Fischschuppen bekommen, so wie Meeresschildkröten nicht mit dem Bauch nach oben schlafen können.«

An anderen Tagen nahm der Erdenweise die Kinder mit zu den Feldern und Hügeln, wo Akaba wuchs, was so viel bedeutete wie »Pflanze, die wie eine Hand aussieht«. Die üppig wuchernde Akaba mit ihren Blättern, die an unzählige, zum Himmel betende Hände erinnerten, war eine der wenigen stärkehaltigen Pflanzen, die auf der Insel vorkamen. Da es kaum Werkzeuge gab, legten die Bewohner Wayowayos ihre Beete an, indem sie Bruchsteine auf der Erde aufschichteten, einerseits als Windschutz, andererseits um die Erde feucht zu halten. »Man braucht Liebe. Mit Liebe ummauern wir die Erde. Erde ist das kostbarste Gut, das es auf Wayowayo gibt, ebenso wertvoll wie der Regen und die Herzen der Frauen.« Der Erdenweise brachte den Kindern bei, wie man die Steine zu legen hatte. Seine Haut war furchig wie ausgetrockneter Lehm, sein Rücken rund wie ein Erdhügel. »Es gibt nur drei Dinge auf der Welt, auf die man vertrauen kann, Kinder: Kabang, das Meer und die Erde.«

Im Südosten der Insel gab es eine von Korallen eingefasste Lagune, ein nahezu idealer Ort, um mit kleinen Wurfnetzen auf Fischfang zu gehen oder Muscheln zu sammeln. Außerdem lag etwa »zehn Kokosschalen« (die Entfernung, die man erhält, wenn man zehn Mal einen Kokosnussschalenweitwurf ausführt) nordöstlich der Insel ein Korallenriff, das bei Ebbe fast vollständig aus dem Wasser ragte. Dort lebten eine Vielzahl von Meeresvögeln. Zur Vogeljagd verwendeten die Wayowayo eine aus Ästen und Pflanzenfasern gebundene Jagdwaffe, die sie Guwana nannten. Ein Guwana sah aus wie ein simpler Stock, der an einem Ende spitz und am anderen stumpf war. Das stumpfe Ende hatte ein Loch, an dem eine aus Engelwurz geflochtene Schlinge befestigt wurde. Die Jäger ruderten in ihren Einbäumen in die Nähe der Koralleninsel und ließen sich dann von der Strömung daran vorbei treiben. Dabei taten sie so, als beachteten sie die Vögel gar nicht und beteten stattdessen stumm zu Kabang. Erst wenn sie sich unmittelbar neben einem Vogel befanden, schleuderten sie blitzschnell und mit aller Kraft das Guwana. Wenn Kabang seinen Segen gab, legte sich die Schlinge genau um den Hals eines Vogels. Ein Ruck mit der Hand und sie zog sich zu, wonach das spitze Ende des Guwana zum Einsatz kam. Wenn das Blut den Schaft herabrann, sah es aus, als sei der Stock selbst tödlich verwundet. Albatrosse, Tölpel, Möwen, Fregatt- und Sturmvögel wehrten sich gegen das Guwana, indem sie so viele Nachkommen wie möglich zeugten. Im Frühling bedeckten sie das Riff mit ihren Eiern und Nestern. Dann gab es für die Inselbewohner jeden Tag Eier in Hülle und Fülle, und so zierte ihre Gesichter während dieser Jahreszeit ein grimmiges, aber zufriedenes Lächeln.

Wie auf allen Inseln mangelte es auch auf Wayowayo oft an Süßwasser. Außer Regenwasser gab es lediglich einen kleinen See im Zentrum der Insel. Die Hauptnahrung der Insulaner, Meeresfrüchte und Vogelfleisch, hatte zudem einen sehr hohen Salzgehalt. Sie verlieh den Menschen ein dunkles, dürres Äußeres und sorgte für chronische Verstopfung. Wenn die Wayowayo sich morgens über ihren eigens dafür angelegten Gruben erleichterten, das Gesicht dem Meer zugewandt, standen nicht wenigen von ihnen von der Anstrengung Tränen in den Augen.

Die Insel war nicht groß. Wenn man sich um die Frühstückszeit herum auf den Weg machte, brauchte man keine besonders langen Beine, um kurz nach dem Mittagessen wieder dort anzukommen, wo man losgelaufen war. Und weil die Insel so klein war, teilten ihre Bewohner ihren Alltag grob in »dem Meer zugewandt« und »dem Meer abgewandt« ein, wobei die kleine Erhebung im Zentrum der Insel diesen Redewendungen als Bezugspunkt diente. Wenn man sich unterhielt, wandte man sich dem Meer zu, wenn man aß, tat man das Gegenteil; gebetet wurde mit dem Gesicht zum Meer und wenn man Liebe machte, kehrte man ihm den Rücken zu, um Kabang nicht zu erzürnen.

Auf Wayowayo gab es keine Häuptlinge, nur einen Ältestenrat. Der Weiseste unter den Alten wurde »meeresgleich« genannt. Die Häuser von Familien, die schon einmal »Meeresgleiche« hervorgebracht hatten, erkannte man daran, dass ihre Front dem Meer zugewandt war, sowie an den mit Muscheln und Schnitzereien verzierten Eingängen. Die Seitenwände der länglichen, wie umgedrehte Einbäume anmutenden Gebäude waren mit Fischhäuten bespannt und ein jedes von ihnen überdies mit einem aus Korallengestein aufgeschichteten Windfang versehen.

Die Inselbewohner kannten keinen Ort, an dem man das Meer nicht hörte, und genauso war es ihnen unmöglich, einen Satz von sich zu geben, in dem das Meer nicht vorkam. Morgens grüßten sie sich mit den Worten: »Fährst du heute raus?«, mittags fragte man: »Wollen wir zusammen unser Glück versuchen?«, und abends rief man sich zu: »Du musst mir später vom Meer erzählen!« Wenn jemand auf die See hinaus ruderte, riefen ihm die Leute vom Ufer aus hinterher: »Pass auf, dass die Monai dich nicht mitnehmen!« Monai war ihr Wort für »Welle«. Trafen sich zwei Freunde, fragte der eine: »Wie ist heute das Wetter auf dem Meer?«, und selbst wenn gerade ein Sturm tobte, lautete die Antwort stets: »Klarer Himmel über ruhiger See.« Die Sprache der Wayowayo klang wie die Rufe der Meeresvögel, scharf und hell. Wie deren Schwingen zitterte sie leicht, wenn es in eine neue Richtung ging, und das Ende eines jeden Satzes markierte ein Laut, der an die Wellen erinnerte, die sich bilden, wenn ein Vogel ins Meer eintaucht.

Manchmal gab es nicht genug zu essen, manchmal war das Wetter zu schlecht, um fischen zu gehen, und manchmal kam es zu Streit zwischen zwei Stämmen, aber ganz gleich, wie das Leben ihnen mitspielte, jeder Wayowayo trug einen unerschöpflichen Schatz an Meeresgeschichten in sich. Sie erzählten sie sich, wenn sie zusammen aßen oder sich zufällig über den Weg liefen, bei wichtigen Stammesfesten genauso wie beim Liebemachen, und es kam vor, dass sie selbst im Schlaf noch weiter erzählten. Zwar hatte noch nie jemand ihre Geschichten gesammelt und aufgezeichnet, aber womöglich werden die Anthropologen in der Zukunft einmal feststellen, dass es nirgendwo sonst so viele Meeresgeschichten gab wie auf Wayowayo. Der Lieblingssatz der Insulaner lautete: »Erzähl mir eine Geschichte vom Meer.« Die Bewohner Wayowayos fragten nicht nach dem Alter eines Menschen. Wie die Bäume wuchsen sie langsam in die Höhe und stellten den Blumen gleich ihre Geschlechtsteile zur Schau. Geduldig wie die Muscheln harrten sie aus im Strom der Zeit, und wenn sie starben, taten sie es mit einem Lächeln auf den Lippen, das dem der Meeresschildkröten glich. Ihre Seelen waren immer noch ein wenig älter als ihr Äußeres vermuten ließ, und da sie so viel auf die See hinausblickten, lag stets etwas Melancholisches in ihren Augen, über die sich im Alter oft ein grauer...
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Wu Ming-Yi, 1971 in Taoyuan, Taiwan, geboren, ist Künstler, Umweltaktivist und Professor für Chinesische Literatur in der Dong-Hwa-Nationaluniversität. Seine Romane sind in mehr als zehn Sprachen übersetzt und wurde international mit Preisen ausgezeichnet und u. a. für den Man Booker International Prize nominiert. Wu Ming-Yi lebt in Taipeh.

Johannes Fiederling studierte Übersetzen und Dolmetschen in Duisburg, München und Shanghai. Nach siebenjähriger Tätigkeit im Sprachendienst des Auswärtigen Amts widmet er sich seit 2017 hauptberuflich dem Literaturübersetzen. Zuletzt übersetzte er Wang Ting-Kuo, Liu Cixin, und Ruan Guang-Min. Er lebt und arbeitet in seiner Wahlheimat Taiwan.