Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Der Lumpenadvokat

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
160 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am04.05.2020
Christophe Leibowitz ist ein Winkeladvokat, wie er im Buche steht: schlitzohrig, mit großem Herz und immer in Geldnöten. Dass er Karriere gemacht hätte, kann man nicht behaupten, denn als Pflichtverteidiger vertritt er vor allem Zuhälter und Kleinkriminelle aus der Pariser Banlieue. Da bittet ihn sein erfolgreicher Anwaltskollege Lakdar um einen Gefallen: Für eine Million Euro soll er mittels Rollentausch einen üblen Schurken aus dem Knast holen. Der Coup gelingt, Leibowitz sitzt anstelle des Schurken die Strafe ab und freut sich auf den Lohn, der ihn erwartet. Doch Lakdar wird der Mitwisser Leibowitz nach getaner Arbeit lästig. Womit er allerdings nicht gerechnet hat: Leibowitz hat Sinn für Gerechtigkeit und kann ganz schön fies werden.

Hannelore Cayre, geboren 1963, war als Finanzchefin bei einer Filmproduktionsfirma tätig. Später begann sie, in Paris als Strafverteidigerin mit der gleichen Art Klientel zu arbeiten wie der Protagonist ihrer Romane. Sie hat Kriminalromane veröffentlicht und mehrere Drehbücher geschrieben. Anfang der Neunzigerjahre realisierte sie Kurzfilme, die mehrfach ausgezeichnet wurden.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR13,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextChristophe Leibowitz ist ein Winkeladvokat, wie er im Buche steht: schlitzohrig, mit großem Herz und immer in Geldnöten. Dass er Karriere gemacht hätte, kann man nicht behaupten, denn als Pflichtverteidiger vertritt er vor allem Zuhälter und Kleinkriminelle aus der Pariser Banlieue. Da bittet ihn sein erfolgreicher Anwaltskollege Lakdar um einen Gefallen: Für eine Million Euro soll er mittels Rollentausch einen üblen Schurken aus dem Knast holen. Der Coup gelingt, Leibowitz sitzt anstelle des Schurken die Strafe ab und freut sich auf den Lohn, der ihn erwartet. Doch Lakdar wird der Mitwisser Leibowitz nach getaner Arbeit lästig. Womit er allerdings nicht gerechnet hat: Leibowitz hat Sinn für Gerechtigkeit und kann ganz schön fies werden.

Hannelore Cayre, geboren 1963, war als Finanzchefin bei einer Filmproduktionsfirma tätig. Später begann sie, in Paris als Strafverteidigerin mit der gleichen Art Klientel zu arbeiten wie der Protagonist ihrer Romane. Sie hat Kriminalromane veröffentlicht und mehrere Drehbücher geschrieben. Anfang der Neunzigerjahre realisierte sie Kurzfilme, die mehrfach ausgezeichnet wurden.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293303799
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum04.05.2020
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3151 Kbytes
Artikel-Nr.9541920
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1


Frédéric Moreau, seit Kurzem mit dem Zeugnis der Reife ausgestattet, kehrte heim nach Nogent, wo er zwei lange Monate ausharren sollte, ehe er sein Studium der Rechte antreten würde.

»Erzähl mir.«

Ich versuche, meinem Freund, dem Luden, verständlich zu machen, dass mein Albanisch allzu rudimentär ist, um ihm ein Buch nachzuerzählen, in dem nichts passiert. »Das spielt 1840.«

»Na und?«, erwidert er eingeschnappt.

Er glaubt, dass ich ihm von oben herab komme, und schmollt.

Anhand der ungefähr hundert Wörter, die ich gelernt habe, seitdem ich seine Zelle mit ihm teile, stürze ich mich in eine freie Übersetzung. Ohnehin gibts nichts Besseres zu tun. Heute regnet es so stark, dass man unmöglich für den Hofgang vor die Tür kann.

»Eines Tages sieht ein Mann Frau, die verheiratet ist, und er liebt Frau, die verheiratet ist, und er wartet sein ganzes Leben auf Frau.«

»Wie heißt sie?«

»Madame Arnoux.«

Kopfwackelnd denkt er nach und verdaut die Information. »Und was passiert da?«

»Nichts. Er hat Schmerz sein Leben lang, das vergeht. Er macht nichts.«

Ich werde Augenzeuge einer Begegnung der dritten Art: Dragan Dostom, Zuhälter vom Boulevard Serrurier, dem unter anderem zur Last gelegt wird, ein paar Mädchen, die wie die Faulpelze angeschafft hatten, durchgebläut und verkauft zu haben, versucht sich in einer Regung der Empathie gegenüber Frédéric Moreaus Leid.

»Und der Ehemann?«

»Der ist alt und nicht schön. Der geht mit anderen Frauen schlafen. Der hat Geld, verliert aber Geld.«

»Und warum nimmt sich der andere dann nicht die Frau von dem Alten?«

»Weil er lieber leiden will!«

Er sieht mich mit einer von Unverständnis triefenden Fresse an. »Warum liest du das?«

»Weils auf der Karre aus der Gefängnisbibliothek nichts anderes gab!«

Diesen letzten Satz habe ich auf Französisch gesagt, doch er hats trotzdem verstanden.

»Lies, ich werd schlafen.«

Also beginne ich laut zu lesen, um den dicken Dostom einzulullen, während dieser sich im Bett über mir unter dem infernalischen Ächzen alter Sprungfedern in seine Decke kuschelt.

Mit einem letzten Blick umfasste er die Île Saint-Louis, die Cité, Notre-Dame; und als bald darauf Paris verschwand, stieß er einen tiefen Seufzer aus ...

Es ist zwar erst vier Uhr nachmittags, weil aber der Winter naht und wir mieses Wetter haben, ist es draußen schon fast dunkel.

Frédéric Moreau, seit Kurzem mit dem Zeugnis der Reife ausgestattet, kehrte heim nach Nogent, wo er zwei lange Monate ausharren sollte, ehe er sein Studium der Rechte antreten würde.

Er schnarcht.

Auch ich beginne wegzudriften.

Ich bin achtzehn Jahre alt.

Er dachte an das Zimmer, das er in Paris bewohnen würde, an den Entwurf eines Dramas, an Sujets von Bildern, an dereinstige Leidenschaften. Er fand, dass das ob der Vortrefflichkeit seiner Seele verdiente Glück doch auf sich warten ließ.

Stolz wie ein Spanier, mein Abi in der Tasche, lese ich Die Erziehung der Gefühle und fläze mich dabei angeberisch auf die Sitzbank der S-Bahn RER, Linie A, Richtung Boissy-Saint-Léger. Ich fahre ebenfalls nach Nogent, um meinen Eltern zu verkünden, dass ich in Paris eine Bude gefunden habe und ausziehen werde.

Ich gerate schier in Verzückung darüber, dass sich - seit 1840 - nichts gravierend geändert hat.

Wie Frédéric Moreau will ich die Welt verschlingen, und die Halbweltdamen bringen mich zum Fantasieren. Ich träume von einer kleinen gemütlichen Wohnung, von Mädchen, die ich mir darin genehmigen werde, von der Kohle, die ich verdienen, und von dem Schlitten, den ich mir leisten werde.

Doch vor allen Dingen bin ich davon überzeugt, dass das ob der Vortrefflichkeit meiner Seele verdiente Glück so immens wie imminent ist.

Ich bin achtzehn Jahre alt, ich gehe auf die Uni, ich bin ein Ass.

Ich hätte mich vor meiner Schwärmerei für diesen Roman in Acht nehmen sollen. Heute lese ich ihn mit ganz neuem Blick noch einmal und erkenne, dass es sich dabei vor allem um die Geschichte einer Niederlage, um den Bankrott eines Lebens handelt: eine schale Abfolge von Fehlschlägen und Sackgassen.

Macht mich etwa das Umfeld Gefängnis so klarsichtig?

Mein Leben fing schlecht an, weil es ohne Leidenschaft anfing.

Für nichts begabt und zu allem taugend, hatte ich mich auf den Ratschlag meines Vaters hin nach dem Abi an jener Fakultät eingeschrieben, die viel eher eine Fakultät der Rechten war als eine der Rechte.

»Wirst sehen, es gibt nichts Besseres, als mit Faschos Umgang zu haben, damit man vergisst, woher dein Vater kommt.«

Ein Sachverhalt, den vergessen zu machen ihm selbst nie gelungen war, dem Armen, auch nicht nach dreißig Jahren im Cercle interallié, wo er, umgeben von lauter ihn im Grunde verachtenden Bourgeois, die Werte des wahren Frankreich nachgeäfft hatte.

Ist ja nicht so, dass man sie nicht mag, die Juden, aber ...

So ging das Lied.

Und dann kam der erste Vorlesungstag.

Ich war damals noch zu jung, um es genau in Worte zu fassen, ich kann aber dennoch sagen, dass ich bereits so was wie einen Bluff, ein böses Omen gewittert habe.

Ein dicker Doktorand, pausbäckig und unverkennbar Altes Frankreich, der auf den Namen Jean-Marie Guillemet hörte, rief uns einzeln auf. »Brunois. Ah ... Besteht da eine Verbindung zum Herrn Präsidenten der Pariser Anwaltskammer Brunois? Aha, das ist Ihr Großvater! Ah! ... Rippert ... Dekan Rippert ist Ihr Onkel! Ah! ...«

Und so weiter.

Verflixter Guillemet! Ich sehe ihn vor mir, als wäre es erst gestern gewesen, wie er die Namen von Senatoren, von Räten am Kassationsgerichtshof, von Parlamentariern aufzählt. Ein Verhungernder vor einer Konditorei, hätte man meinen können ... Blätterteigteilchen mit Schlagsahne, Saint-Honoré-Windbeutel, Paris-Brest-Mandelcremetorte ... Er konnte nicht genug davon kriegen, dieser Guillemet ...

Das Ganze verströmte den Wohlgeruch nach Quadersteinfassade in der Avenue Duquesne, Jagdpartien in der Sologne, Ferien im Regen für die Balzac-Lektüre, Bridge und Jesuiten.

An jenem Tag habe ich begriffen, weshalb mein Vater nicht dazugehörte.

Der wahre Bourgeois fährt nicht an die Côte d´Azur in die Sonne. Er lebt in Paris unter Stuckdecken und hat eine Familiengruft in der regnerischen Provinz. Er gehört der herrschenden Klasse seit mindestens fünf Generationen an und bemerkt meine schiere Existenz bloß wegen seiner liberalen Anschauungen.

Auf keinen Fall heißt er Christophe Leibowitz.

An jenem ersten Vorlesungstag hat Guillemet nicht einmal meinen Namen ausgesprochen.

Ich glaube, dies geschah schlichtweg aus Humanismus, denn er hat mir das ganze Jahr über sehr gute Zensuren gegeben.

Und dann habe ich mein Studium der Rechte absolviert, wie Flaubert sagte, und bin Anwalt geworden, doch das ob der Vortrefflichkeit meiner Seele verdiente Glück rückte Schritt um Schritt in die Ferne, bis es schließlich unerreichbar wurde. Nach wie vor hatte ich weder Kohle noch Schlitten noch Puppe, doch vor allem hatte ich die Hoffnung verloren. Mein Studium hatte mir ein Stigma bewusst gemacht, das ich bis dahin nie bemerkt hatte: das Mal des emporgekommenen Kleinbürgers, das vom ersten Tag meines Lebens an da gewesen war, gut sichtbar auf meiner Stirn.

Als Ausbilder für mein Referendariat habe ich einen Typen gewählt, der genau meiner Ernüchterung entsprach: einen jüdischen Strafverteidiger, den Buckel voller Schulden, einen Lügner, Schürzenjäger, polymorph pervers veranlagt, aber mit einem Herz aus Gold.

Ich bewunderte ihn grenzenlos.

Er erinnerte einen an die Karikaturen aus den Vorkriegszeitungen wie Candide oder Gringoire: Der Jude belügt Sie, der Jude beraubt Sie; bringen wir den Juden um!

Klein, mit Hakennase und großen Glupschaugen glich er Yoda aus Krieg der Sterne: Seine Kleidung war nie ganz sauber, und wenn er mit Leuten sprach, fasste er sie immer an.

Ich glaube, er hatte Mitleid mit mir.

Dank meiner Mutter mit ihrem grundfranzösischen Mädchennamen hieß ich zu alledem Christophe Leibowitz-Berthier.

Tatsächlich war ich nicht mal Jude. Ich war ganz einfach nichts. Oder besser gesagt doch: eine Art groteske Nachkriegsmutation.

Ich glaube, das war auch der Grund, weshalb er mich eingestellt hat. Weil er in seinem ganzen Leben selten so gelacht hat. Weil allein die Tatsache, dass in dieser Welt - nachdem man sich nach Kräften bemüht hatte, die Behinderten, Juden, Schwulen und Zigeuner auszurotten - ein Christophe Leibowitz-Berthier geboren wurde, in seinen Augen bewies, dass es dem Leben immer wieder gelang, sich Bahn zu brechen.

Statt mich die Juristerei zu lehren, auf die er sich lediglich auf intuitive Art und Weise verstand, hat er mir beigebracht, wer ich war, oder vielmehr, wer ich nicht war:...


mehr

Autor

Hannelore Cayre, geboren 1963, war als Finanzchefin bei einer Filmproduktionsfirma tätig. Später begann sie, in Paris als Strafverteidigerin mit der gleichen Art Klientel zu arbeiten wie der Protagonist ihrer Romane. Sie hat Kriminalromane veröffentlicht und mehrere Drehbücher geschrieben. Anfang der Neunzigerjahre realisierte sie Kurzfilme, die mehrfach ausgezeichnet wurden.

Bei diesen Artikeln hat der Autor auch mitgewirkt