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Kuriositäten aus der Reisetasche

E-BookEPUBDRM AdobeE-Book
360 Seiten
Deutsch
Verlag Anton Pusteterschienen am30.06.2022
Eine Reisetasche voller Magie Der international renommierte Schriftsteller Boris Sandler entführt mit seinen Erzählungen in eine vielfach vergessene Welt, deren Drehscheibe hierzulande einst Wien war: in jene der jiddischen Sprache und Kultur. Geschickt versteht er es in seinen Erzählungen, Reales und Fiktives zu verweben, Skurriles und Wehmütiges dazu zu packen, die Wärme jüdischer Familien mit der Kälte der politischen Ereignisse im Umfeld des Zweiten Weltkrieges zu mischen und sowohl dem - vom Autor selbst erlebten - sowjetischen Alltag unter Stalin als auch den Schicksalen von jüdischen Emigrant*innen in Israel und den USA nachzuspüren. Alle Protagonist*innen bringen einen Koffer voller kurioser Erinnerungen und Magie mit: Da fährt ein ungeborenes Kind in einem Soldatenzug zur Front, um sich seinen künftigen Vater auszusuchen. Da lässt sich ein jüdischer Lausbub von einem Dieb das faszinierende Handwerk erklären. Da werden Nasen bei Nacht selbstständig, Diamanten wachsen in Kartoffelschalen und Spiegelbilder führen ein Eigenleben. Das Glück ist oft zum Greifen nah, und wird doch nicht erkannt. Auch Erinnerungen machen glücklich, heißt es. Was aber tun, wenn man sich immer nur an einen Tag zurückerinnern kann? Die einst dominierende Sprache der österreichischen Jüdinnen und Juden in deutscher Übersetzung Vielschichtige Verarbeitung von Migration und Trauma

Boris Sandler, geboren 1950 in Belz in der heutigen Republik Moldau, ist ein Jiddisch schreibender Schriftsteller, Journalist, Dramaturg und Filmemacher. Studium der jiddischen Literatur am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau, Emigration nach Israel 1992 und Tätigkeit an der Hebrew University of Jerusalem, langjähriger Chefredakteur der jiddischen Zeitung Forverts in New York. Sandler gilt als einer der wichtigsten jiddischen Kulturschaffenden und wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt.
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Produkt

KlappentextEine Reisetasche voller Magie Der international renommierte Schriftsteller Boris Sandler entführt mit seinen Erzählungen in eine vielfach vergessene Welt, deren Drehscheibe hierzulande einst Wien war: in jene der jiddischen Sprache und Kultur. Geschickt versteht er es in seinen Erzählungen, Reales und Fiktives zu verweben, Skurriles und Wehmütiges dazu zu packen, die Wärme jüdischer Familien mit der Kälte der politischen Ereignisse im Umfeld des Zweiten Weltkrieges zu mischen und sowohl dem - vom Autor selbst erlebten - sowjetischen Alltag unter Stalin als auch den Schicksalen von jüdischen Emigrant*innen in Israel und den USA nachzuspüren. Alle Protagonist*innen bringen einen Koffer voller kurioser Erinnerungen und Magie mit: Da fährt ein ungeborenes Kind in einem Soldatenzug zur Front, um sich seinen künftigen Vater auszusuchen. Da lässt sich ein jüdischer Lausbub von einem Dieb das faszinierende Handwerk erklären. Da werden Nasen bei Nacht selbstständig, Diamanten wachsen in Kartoffelschalen und Spiegelbilder führen ein Eigenleben. Das Glück ist oft zum Greifen nah, und wird doch nicht erkannt. Auch Erinnerungen machen glücklich, heißt es. Was aber tun, wenn man sich immer nur an einen Tag zurückerinnern kann? Die einst dominierende Sprache der österreichischen Jüdinnen und Juden in deutscher Übersetzung Vielschichtige Verarbeitung von Migration und Trauma

Boris Sandler, geboren 1950 in Belz in der heutigen Republik Moldau, ist ein Jiddisch schreibender Schriftsteller, Journalist, Dramaturg und Filmemacher. Studium der jiddischen Literatur am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau, Emigration nach Israel 1992 und Tätigkeit an der Hebrew University of Jerusalem, langjähriger Chefredakteur der jiddischen Zeitung Forverts in New York. Sandler gilt als einer der wichtigsten jiddischen Kulturschaffenden und wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783702580926
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisDRM Adobe
FormatE101
Erscheinungsjahr2022
Erscheinungsdatum30.06.2022
Seiten360 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3018 Kbytes
Artikel-Nr.9606141
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Rund um die Nase

Die Nase ist ein Schicksal.
Die Geschichte eines menschlichen Lebens.

Meine Lebensgeschichte begann, wie bei jedem Menschen, noch vor dem ersten Schrei - in jenem einzigen Paradies, das wir nach dem Nasenstüber 1 verlieren. Dort blieben meine schönsten und hellsten Tage zurück, die nur ein Engel erleben kann, und dort hat man mir meine schönen weißen Flügel abgeschnitten. Sie blieben zusammen mit hunderten, nein, tausenden anderen Flügeln liegen - ein ganzer Berg von Flügeln, denn in den ersten Nachkriegsjahren wurden viele Jungen geboren.

An den Berg abgeschnittener Engelsflügel erinnere ich mich nicht, eben wegen des gemeinen Nasenstübers. Ich hatte doch nicht den Verstand jenes listigen Jungen, der eine Nase aus Lehm unter die zwei eisernen Finger des Engels hielt.2 Deshalb hat mein Gedächtnis gelitten. Trotzdem sah ich den Berg Flügeln nicht nur einmal in meinen Kinderträumen, besonders wenn mir träumte, ich würde fliegen3, sondern ebenso, wenn mir der Flederwisch4 in die Hände fiel, mit dem die Großmutter den verzierten rosa Lampenschirm abstaubte und der Großvater vor Pessach die letzten Krumen Chametz zusammenfegte5. Wenn ich den armseligen abgehackten Flügel betrachtete, fühlte ich, wie es mich unter den Schulterblättern zu beißen begann und in meiner Nase kribbelte.

Als ich das erste Mal den Namen meiner Mutter - Genedl - hörte, verstand ich, von wo ich herausgekommen und wo ich angekommen war, denn in ihrem Namen klang deutlich das hebräische Wort Gan Eden für Paradies mit. Da fehlten kein Laut und kein Buchstabe. Damals habe ich angefangen, die Umwelt mit dem Ohr, wie man sagt, zu erkennen. Verschiedene Klänge und Wörter vermischten sich in meinem Kopf wie in einer sich drehenden Spieluhr und sprangen durch den Mund nach draußen. Nicht jeder verstand mein Kauderwelsch, aber die Großmutter, die es zwar ebenfalls nicht verstand, pflegte nach einer Pause immer zu sagen: Noch so ein kleiner Knirps, und schon so klug!

Wie sich schnell herausstellte, war an meinem Sprachfehler meine verstopfte Nase schuld. Zu diesem Urteil kam der Kinderarzt - Doktor Karasik. Er selber war ein korpulenter Mann mit einem großen Kopf, großen Händen und einer Bassstimme. Sein Gesicht sah ich nicht, weil ich geblendet wurde durch den runden Spiegel mit dem schwarzen Loch in der Mitte, den er auf seiner Stirn trug wie mein Großvater das schwarze, lederne Tefillin-Kästchen6 zum Morgengebet. Außerdem fuhr mir der Doktor mit einem kalten metallenen Ding in meine Nase, dass ich dachte, meine Nasenlöcher würde es jeden Moment zerreißen.

Es hieß, er würde mich untersuchen, und tatsächlich verkündete er nach der Untersuchung mit seiner sonoren Bassstimme: A-de-no-ide7!

Da meine Ohren durch die ständig verstopfte Nase ebenfalls verschlagen waren, drehte sich das Wort in meinem Hirnkästchen um und kam aus meinem Mund auf meine eigene Art und Weise als A-nud-ne-jid8! heraus.

Meine Mutter, die mich zum Doktor gebracht hatte, war in dem Moment fassungslos. Doktor Karasik hingegen grinste und reichte mir ein Papiertaschentuch. Junge , trompetete seine Stimme, schnäuz dir mal ordentlich die Nase, dann wird dir besser werden!

Damit wurde mir klar, dass meine Nase nicht nur direkt mit dem verbunden ist, was ich höre, sondern auch mit dem, was ich um mich sehe.

Mit fünf bekam ich zum Namenstag ein Buch. Zu jener Zeit war ein Buch ein schönes Geschenk. Natürlich wäre ich glücklicher über ein Spielzeug gewesen, Ich konnte doch noch nicht lesen, aber das Buch hatte schöne Farbbilder. Ich betrachtete sie und malte mir dazu im Kopf eine Geschichte aus. Es war die Geschichte vom Zwerg Nase9 und schon nach dem zweiten oder dritten Mal, da sie mir meine Mutter vorgelesen hatte, konnte ich sie Wort für Wort auswendig. Natürlich pflegte mir die Mutter jedes Mal am Ende des Vorlesens zu sagen: Siehst du, was geschieht, wenn man einen alten Menschen mit einem Gebrechen auslacht?!

Das kümmerte mich aber nicht - ich hätte die böse alte Hexe wahrscheinlich ebenso verspottet. Damals verstand ich vielleicht zum ersten Mal in meinem jungen Leben, dass eine Nase sowohl Leid als auch Freude bringen kann: Leid durch ihre Hässlichkeit, die die Öffentlichkeit sieht und darüber lacht, und Freude, weil sie seltene Gerüche schmecken kann, wie zum Beispiel das Zauberkraut Niesmitlust, das die Schönheit zurückbringt. Ich wunderte mich schon gar nicht mehr, wenn ich jedes Mal nach dem Niesen den Wunsch Gesundheit! hörte - ich wusste ja jetzt, woher das kam und dass man es nicht mir, sondern meiner Nase wünschte.

Die Nase wurde mir ganz besonders wichtig. Neugierig schnupperte sie an allem und sprang mir aus jedem Gesicht in die Augen. Nachdem ich das Paradies verloren hatte, atmete ich mit meiner Nase alle Gerüche um mich herum ein, wo immer ich mich befand. Zunächst war das mein Heim, das mit den Gerüchen meiner Familie gefüllt war. Der meines Großvaters kam aus seinem gelehrten schwarzgrauen Bart. In den Abendstunden zitterte er sacht über den vergilbten Seiten seiner Bücher, als wollte er die Traurigkeit und den Kummer des Tages von sich abschütteln. Sein Bart war durchdrungen vom Geruch des Todes aus dem Schlachthaus, in dem er den ganzen Tag Hühner schlachtete; und vom üblen Geruch des gelben Puders mit dem wilden Namen Xeroform , welches er auf das Geschlechtsteil des erst gerade beschnittenen männlichen Säuglings zu schütten pflegte, um das Blut zu stillen. Seine lange scharfe Nase trug auf ihrer Spitze nicht nur ein Paar runder Brillen, sondern auch das bisschen Jüdischkeit, das in der vergifteten Luft der 1950er Jahre schon kaum mehr zu spüren war.

Die Großmutter verbreitete im ganzen Haus ihren Geruch. Er war überall, in jedem Winkel, denn es war im ganzen Haus kein Ort, in den die Großmutter ihre Nase nicht hineinsteckte. Donnerstags, an jenem Tag, an dem sie für gewöhnlich Brot backte, welches dann genau eine Woche reichte, sah ihre Nasenspitze wie mit Mehl gepudert aus. Ihre Kochschürze roch nach allen Zutaten ihrer Speisen und ein erfahrener Gourmet hätte dadurch wohl viel über die Geheimnisse der echten bessarabischen10 Gerichte erfahren können. Oft steckte ich meine Nase in die Schürzenfalten meiner Großmutter und suchte dort Trost und Schutz vor meinen strengen Eltern. Beide kehrten erst spätabends zurück und brachten in unser Heim fremde Gerüche von ihrer Arbeit mit.

Meine Nase, die im Sommer von unzähligen Sommersprossen bedeckt war, zeigte einstweilen noch keine deutlichen Zeichen von Wuchs und Form. Sie wurde zu meinem Wegweiser in die Häuser unserer Nachbarn, in denen meine Freunde wohnten. Es fehlte nicht an Jungen in unserer Kovelischer Straße; Mädchen gab es hingegen nur wenige. An den Türrahmen der jüdischen Häuser sah man keine Mesusen11. Der Schrecken überlebter Kriegsjahre und antisemitischer Gesetze der Sowjets aus der Nachkriegszeit zitterte noch über ihnen. Anstatt Mesusen schien es, als hingen an den Türrahmen auf der rechten Seite die Nasen der jüdischen Hausbesitzer wie Schilder, wie Visitenkarten, mit Nägeln aus Furcht angeheftet. Durch diese deutlichen Hinweise konnte man schnell verstehen, wer hier wo wohnte.

Die fleischige Nase mit den breiten Nasenflügeln wechselte ständig ihre Farbe - gerade war sie dunkelrot und geschwollen, als ob eine Faust in sie hineingefahren wäre; und da, im Gegenteil, blass-ohnmächtig, als ob man jeden Tropfen Blut von ihr abgezapft hätte. Die beschwipste Nase gehörte unserem Nachbarn Lejb dem Argentinier. Den Beinamen hatte er erhalten, weil er vor dem Krieg einige Zeit in Argentinien gelebt und dort sein Glück in den weiten Feldern der Pampas gesucht hatte. Lejb der Argentinier arbeitete als Fuhrmann und seine drei Söhne waren meine Freunde.

Ein Haus weiter wohnte Hersch der Schuhmacher. Das war leicht zu erkennen anhand der Mesuse-Nase auf seiner Tür, ähnlich dem Absatz eines Frauenschuhs. Die Nachbarinnen erzählten sich, dass er eine Geliebte hatte, eine junge Schickse12 mit einer Stupsnase . Wenn er auf der Straße ging, unter dem Arm seine Ledertasche mit seinem Werkzeug geklemmt, spie er nach jedem Schritt aus, einmal auf die Seite, dann auf die andere. Er spie auf die Tuscheleien und auf seine Umgebung. Hersch der Schuhmacher hatte zwei Söhne, ich spielte aber nicht mit ihnen, weil sie nicht normal waren, zurückgeblieben , wie man über sie sagte.

Gleich uns gegenüber wohnte mein bester Freund Jaschke. Wann immer ich zu ihm kam, warf ich einen Blick auf die Nase seines Vaters, eine Knollennase mit einigen rötlichen...
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Autor

Boris Sandler, geboren 1950 in Belz in der heutigen Republik Moldau, ist ein Jiddisch schreibender Schriftsteller, Journalist, Dramaturg und Filmemacher. Studium der jiddischen Literatur am Maxim-Gorki-Literaturinstitut in Moskau, Emigration nach Israel 1992 und Tätigkeit an der Hebrew University of Jerusalem, langjähriger Chefredakteur der jiddischen Zeitung Forverts in New York. Sandler gilt als einer der wichtigsten jiddischen Kulturschaffenden und wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt.